Neun Mythen der Personalarbeit
Manche Mythen basieren auf jahrzehntealten Traditionen, andere entstehen als vermeintlich zukunftsweisende Trends. Ihnen allen ist gemein, dass sie in der Praxis als "Best Practice" gelten und daher nicht mehr hinterfragt werden. Im Folgenden werden weit verbreitete Überzeugungen und Praktiken der Personalarbeit als Mythen bezeichnet, die im Widerspruch zu fundierten Forschungsergebnissen stehen. Hier eine Auswahl:
Mythos 1: Erfahrung ist der beste Ratgeber
Aus Erfahrung wird man klug – so sagt der Volksmund. Auf den ersten Blick ist man geneigt dem zuzustimmen, schließlich bietet die Erfahrung doch die Möglichkeit, aus eigenen Fehlern zu lernen, Arbeitsprozesse zu optimieren und Routinen aufzubauen. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass im Bewerbungsprozess Personen mit langer Berufserfahrung besonders gerne gesehen werden und Stellenanzeigen für Führungskräfte kaum ohne den Hinweis auf langjährige Führungserfahrung auskommen.
Leider unterstützt die Forschung diese Sichtweise nicht. Die Dauer der Berufserfahrung steht je nach zugrunde gelegter Metastudie in einem Zusammenhang von null bis sieben Prozent zur beruflichen Leistung. Erfahrene Führungskräfte unterscheiden sich in der Ausprägung berufsrelevanter Kompetenzen kaum von Novizen. Personen, die seit Jahren Personalauswahl betreiben, unterliegen in gleicher Weise systematischen Urteilsfehlern wie Personen, die zum ersten Mal in ihrem Leben Auswahlentscheidungen treffen müssen. Berufliche Erfahrung ist leider kein Garant für den Aufbau von Expertise. Die Erfahrung bietet den Betroffenen zwar die Chance, etwas zu lernen, diese Chance wird aber offenbar mehrheitlich nicht genutzt.
Mythos 2: Menschenkenntnis ist die beste Auswahlmethode
Wer in seinem Leben viele Menschen kennengelernt hat, dürfte früher oder später versucht sein, sich selbst für einen Menschenkenner zu halten. Irgendwann ist der kritische Punkt erreicht, von dem an andere Personen nach kurzer Interaktion oder auch nur nach dem Lesen eines Anschreibens vermeintlich treffsicher eingeschätzt werden können. Und manch einer bedarf nicht einmal einer solchen Erfahrung, sondern ist quasi von Natur aus ein geborener Menschenkenner. Was Menschenkenntnis im Kern bedingt, ist unklar. Vielleicht ist es so etwas wie Intuition, Bauchgefühl, eine göttliche Gabe oder schlicht das Ergebnis von Lernerfahrungen.
All das spielt letztlich aber auch keine Rolle, solange sich die Betroffenen ihrer besonderen Befähigung sicher sind. Ein Blick in die Forschung zeigt, dass Menschen durchaus in der Lage sind, die Persönlichkeit anderer Personen auf der Basis geringfügiger Informationen einzuschätzen, leider gelingt ihnen dies aber nur äußert unvollkommen. Erkauft wird das machtvolle Gefühl der eigenen Menschenkenntnis mit einer Vielzahl an systematischen Urteilsfehlern. So werden beispielsweise Menschen, die gut aussehen, regelmäßig überschätzt. Menschen, die groß und kräftig sind, erscheinen uns intuitiv als führungsstark. Personen mit fremdländischen Namen trauen wir eher zu, eine Bombe zu bauen, als dass sie gute Controller sein könnten. Wer in der Personalauswahl primär auf die eigene Menschenkenntnis vertraut, schädigt damit nachweislich seinen Arbeitgeber. Dummerweise fühlen sich die Fehlentscheidungen sehr gut an und werden daher auch nicht als solche erkannt.
Mythos 3: Die Körpersprache verrät viel über einen Menschen
Als sich der amerikanische Psychologe Merabian in den 70er-Jahren sehr weit aus dem Fenster lehnte und behauptete, nur sieben Prozent der menschlichen Kommunikation würden auf dem gesprochenen Wort basieren, wart ein Mythos geboren, der auch in 50 Jahren sicherlich noch sein Unwesen treiben wird. Fortan gab es kein Halten mehr. Unzählige Ratgeberbücher, Seminare und Internetvorträge berichten davon, wie leicht wir über die richtige Deutung der Körpersprache einen direkten Zugang zur Persönlichkeit eines Menschen erhalten. Am Ende kennen wir die Person sogar besser als diese sich selbst. Leider werden bei der Deutung der Körpersprache immer wieder zwei unterschiedliche Perspektiven in einen Topf geworfen. Zum einen geht es um die Frage, inwieweit sich in der Körpersprache die Persönlichkeit des Menschen tatsächlich spiegelt, und zum anderen um die Frage, inwieweit wir im Alltag die Körpersprache anderer nutzen, um uns einen Eindruck von ihnen zu verschaffen.
Auf der einen Seite zeigt die Forschung, dass die Körpersprache durchaus etwas über die Persönlichkeit oder das Empfinden einer Person verrät. Dies ist jedoch nur zu wenigen Prozent der Fall. Auf der anderen Seite belegen viele Studien, dass Menschen zu einer massiven Überinterpretation der Körpersprache neigen. Wir deuten also weitaus mehr in die Körpersprache hinein, als drinsteckt. Genau deshalb eignet sich die Körpersprache auch bestens dazu, anderen etwas vorzuspielen. Gute Ratgeberliteratur sollte eher vor Überinterpretationen warnen, statt sie noch zu befördern.
Mythos 4: Die Generationen verändern sich dramatisch
Zu den eher jungen Mythen des Personalwesens gehört die Annahme, dass Menschen von Generation zu Generation sehr unterschiedlich sozialisiert werden und daher weitestgehend unterschiedliche Sichtweisen auf das Leben haben. Dies soll weitreichende Konsequenzen für die gesamte Personalarbeit, vom Personalmarketing bis zur Führung haben. Aus Sicht der Psychologie sind die im Personalwesen verbreiteten Überzeugungen zu Generationen X, Y und Z nicht viel mehr als eine Karikatur der Realität. Die Probleme des Denkens in Generationen sind sehr grundlegend. Da ist zunächst einmal die Frage, bei welchem Geburtsjahr eine Generation beginnt und wann sie endet. Hierüber besteht keine Einigkeit. In der Folge werden in verschiedenen Definitionen Millionen von Menschen zwischen den verschiedenen Generationen hin- und hergeschoben. Studien, die verschiedene Generationen im Hinblick auf grundlegende Arbeitswerte miteinander vergleichen, zeigen nur sehr geringe Unterschiede, die in der öffentlichen Diskussion maßlos überschätzt werden. Mehr noch, häufig stehen die Ergebnisse sogar im Widerspruch zu weit verbreiteten Überzeugungen. So sind jüngere Menschen im Mittelwert zum Beispiel ein klein wenig leistungsorientierter als ältere und interessieren sich auch mehr für Geld.
Eines der stärksten Argumente gegen das Denken in Generationen ergibt sich aus der Vielzahl der Menschen, die in einer Generation zu finden sind. In der Generation Y reden wir über fast 15 Millionen und in der Generation Z über etwa neun Millionen Menschen. Wie wahrscheinlich ist es, dass Millionen Menschen identische Wertvorstellungen und Erwartungen an Arbeitgeber haben? Die Wahrscheinlichkeit ist gleich Null. Millionen Menschen sind extrem heterogen. In jeder Generation gibt es zehntausende Menschen, für die der Beruf ein zentraler Lebensinhalt ist, und zehntausende, die am liebsten gar nicht arbeiten würden. Wer (jungen) Menschen angemessen begegnen will, sollte sie vor allem als Individuum wahrnehmen und nicht stereotyp als Vertreterin oder Vertreter einer Generation.
Mythos 5: Personalentwicklung ist wichtiger als Personalauswahl
Viele Unternehmen investieren wenig Know-how und Mühe in ihre Personalauswahl. Dies gilt für externe Bewerberinnen und Bewerber und erst recht für den Aufstieg innerhalb eines Unternehmens. Selbst bei wichtigen Funktionen fehlen differenzierte Anforderungsanalysen. Über ein weitgehend unstrukturiertes Interview oder eine fragwürdige Beurteilung durch direkte Vorgesetzte kommen die meisten Unternehmen nicht hinaus. Demgegenüber setzen Unternehmen eine große Vielfalt an Personalentwicklungsmaßnahmen – Trainings, Coaching, Mentoring – ein. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, als würden die Unternehmen glauben, dass sie sich mäßig geeignete Personen durch Entwicklungsmaßnahmen zurechtbiegen könnten. Aus Sicht der Forschung ist der Glaube an die große Wirksamkeit von Personalentwicklungsmaßnahmen kaum zu begründen – jedenfalls, wenn es darum gehen soll, Menschen in ihren grundlegenden Einstellungen und Verhaltensroutinen zu verändern. Die nachweisbaren Effektstärken von Führungskräftetrainings, Coaching und Mentoring liegen in der Regel unter zehn Prozent.
Würde man sich hingegen nur einfach einmal trauen, häufiger Intelligenztests in der Personalauswahl einzusetzen, wäre allein durch diese Verbesserung der Auswahlverfahren mit einem durchschnittlichen Effekt von etwa 25 Prozent auf die berufliche Leistung zu rechnen. Bei hohen Managementpositionen liegt der Wert jenseits der 40 Prozent. Dies ist keineswegs ein Argument gegen Personalentwicklung, wohl aber ein Argument für eine realistische Einschätzung der Möglichkeiten. Im Bereich der Fachkompetenz sind Weiterbildungsmaßnahmen sicherlich sinnvoll. Wenn es jedoch um Soft Skills geht, sind die Spielräume der Veränderbarkeit deutlich kleiner als viele denken.
Mythos 6: Personalauswahl wird immer unwichtiger
In Zeiten des Fachkräftemangels neigen viele Unternehmen dazu, die Bedeutung guter Personalauswahl zu unterschätzen. Nach dem Motto: "Ich muss doch froh sein, dass sich überhaupt noch jemand bei mir bewirbt", glauben Verantwortliche, dass es sich nicht mehr lohnt, in gute Personalauswahl zu investieren. Solange ein Unternehmen jedoch noch mehr Bewerbungen als offene Stellen hat, ist genau das Gegenteil der Fall. Entscheidend ist nicht die Anzahl der Bewerbungen, sondern die Qualität des Bewerbungspools. Dies lässt sich an einem einfachen, fiktiven Rechenbeispiel verdeutlichen. Nehmen wir einmal an, auf eine vakante Stelle gehen zehn Bewerbungen ein, von denen vier Personen für die Stelle geeignet sind. Die Aufgabe der Personalauswahl besteht nun darin, eine dieser vier Personen zu identifizieren. Die Wahrscheinlichkeit, durch ein sehr schlechtes Auswahlverfahren einen Treffer zu landen, liegt bei 40 Prozent. Die gute Qualität der Personalauswahlmethoden (hochstrukturiertes Interview, Intelligenztest, Arbeitsproben et cetera) sorgt dafür, dass dieser Prozentwert nach oben geschraubt wird.
In Zeiten des Fachkräftemangels ist nicht nur die Anzahl der eingehenden Bewerbungen gesunken, sondern leider auch der Anteil derjenigen, die für eine Stelle geeignet sind. Heute gehen vielleicht nur noch fünf Bewerbungen auf die vakante Stelle ein, von denen eine Person tatsächlich geeignet ist. Die Zufallswahrscheinlichkeit für einen Treffer liegt jetzt nur noch bei 20 Prozent. Das Auswahlverfahren muss die Schwäche des Arbeitsmarktes ausgleichen. Je geringer die Qualität des Bewerbungspools ausfällt, desto valider muss das Auswahlverfahren sein. Unternehmen müssen in Zeiten des Fachkräftemangels mehr in die Qualität ihrer Personalauswahl investieren, wenn sie eine vergleichbare Qualität bei den Neueinstellungen erreichen wollen.
Mythos 7: Je unterhaltsamer die Personalentwicklung, desto besser
Wer einen unbefangenen Blick auf die Vielfalt verschiedener Personalentwicklungsangebote wirft, kann sich kaum des Eindrucks verwehren, als ginge es hier vor allem darum, sich immer wieder etwas Neues und vor allem etwas Unterhaltsames auszudenken. Keine Methode kann zu verrückt sein, um nicht auch im Personalwesen vermarktet zu werden. Die Bandbreite ist kaum noch zu überblicken. Sie reicht von klassischen Trainings mit fragwürdigen Inhalten (NLP, Imagination von Zielen, Mimikdeutung et cetera), über den Gang in den Klettergarten und diverse esoterische Angebote (Rückführung, Schamanen-Coaching, quantenphysikalische Beratung), bis hin zu Führungskräftetrainings mit Dirigenten oder Pferden. Als Maß für den Erfolg dient dabei die Zufriedenheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Und oh Wunder – je unterhaltsamer die Maßnahme war, desto größer ist am Ende die Zufriedenheit. So wird immer weiter am Rad der Bespaßung gedreht. Wir dürfen gespannt sein, wohin all dies noch führen wird.
Leider zeigt die Forschung, dass die Zufriedenheit der Betroffenen nichts zu tun hat mit der Frage, ob sie etwas gelernt haben oder später im Berufsalltag Aufgaben besser bewältigen können. Nicht minder traurig ist, dass der Transfer von Lerninhalten umso eher zu erwarten ist, je größer die Nähe der Entwicklungsmaßnahme zum Berufsalltag der Betroffenen ausfällt. Die Emotionalität einer Maßnahme sorgt zwar dafür, dass die Erinnerung an das Erlebte länger wach bleibt. Sie sorgt aber nicht für einen besseren Transfer der Inhalte in den Berufsalltag, wenn es außer Sprüchen nichts zu lernen gab, was sich sinnvoll auf den Arbeitsalltag übertragen ließe.
Mythos 8: Je digitaler, desto besser
Im Zeitalter der Digitalisierung scheint mehr und mehr auch im Personalwesen die These zu gelten: "Je digitaler, desto besser". Einstellungsinterviews oder Assessment Center werden digital durchgeführt. Zusätzlich zu den Bewerbungsunterlagen halten die Verantwortlichen nach Daten aus sozialen Netzwerken Ausschau. Mitunter kommen sogar KI-Algorithmen zum Einsatz, um Persönlichkeitsprofile zu erstellen und natürlich finden auch immer mehr Weiterbildungsmaßnahmen über den Computer statt. Die Digitalisierung ist so allmächtig, dass ihr Nutzen kaum noch hinterfragt wird.
Dies ist bedauerlich, liefert die Forschung doch zahlreiche Befunde, die zweifeln lassen: Daten aus privaten sozialen Netzwerken erweisen sich als weitgehend nicht valide. Aus der Art, wie jemand spricht, schreibt oder sich bewegt, lassen sich per KI keine sinnvollen Schlussfolgerungen auf die berufliche Eignung ziehen. In digitalen Auswahlverfahren schneiden Bewerberinnen und Bewerber schlechter ab als in Face-to-Face-Verfahren. Auch junge Leute bevorzugen bei wichtigen Lebensentscheidungen den persönlichen Kontakt. Zumindest bei Führungskräftetrainings erzielen digitale Formate schlechtere Ergebnisse als Präsenzveranstaltungen.
Mythos 9: Personalarbeit ist eine Dienstleistung
In vielen Unternehmen hat die Personalarbeit keinen hohen Stellenwert. Das Personalwesen wird zu einer reinen Dienstleistung degradiert – oder degradiert sich im schlimmsten Fall selbst dazu. Ziel der Arbeit ist es, möglichst schnell die Wünsche der Fachabteilungen oder des Managements umzusetzen. Das Einstellungsinterview wird nicht nach den Regeln der Kunst entwickelt und durchgeführt, sondern so, wie eine Führungskraft es sich wünscht. Trainingsmaßnahmen werden nicht bedarfsgerecht entwickelt. Stattdessen wird eingekauft, was gefällt. Wenn Personal eingespart werden muss, geschieht dies am besten im Personalwesen, denn alle anderen Beschäftigten sind ja wichtig für den Erfolg des Unternehmens.
Wer glaubt "Personal kann jeder", hat nicht begriffen, welche wirtschaftliche Kraft in guter Personalarbeit schlummert. Die geeignete Person für einen Arbeitgeber zu gewinnen, die richtigen Leute an die richtigen Positionen zu bringen und den Aufstieg der Falschen zu verhindern, Talente zu entwickeln und für ein gutes Miteinander zu sorgen, ist wirtschaftlich mindestens so wichtig wie eine gute Investitionsentscheidung. Dies muss man aber auch belegen und ausstrahlen können. Wer sich selbst klein macht, wird als unwichtig wahrgenommen. Niemand im Unternehmen glaubt, das Ingenieure überflüssig wären oder dass jede beliebige Führungskraft die Aufgaben des Controllings nebenbei übernehmen könnte. Bei der Lösung juristischer Probleme reicht ein "gesundes Rechtsempfinden" sicherlich nicht aus. Warum glauben aber so viele, dass ein vermeintliches "Menschenkennertum" für die Personalarbeit vollkommen ausreichend sei? Vielleicht hat dies ja auch etwas damit zu tun, wie weit sich das Personalwesen im eigenen Unternehmen als Profession mit nachweislich wirksamen Methoden, guten Kennzahlen und einem selbstsicheren Auftreten etabliert hat. Hier dürfte mitunter noch viel Luft nach oben sein.
Der Autor Prof. Dr. Uwe Peter Kanning ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Er zählt als einer der mehrfach ausgezeichneten HR-Köpfe zu den „Big Five“. Sein erklärtes Ziel ist es, mit wissenschaftlichen Fakten über Missstände in der HR-Arbeit aufzuklären.
Sein Beitrag ist erschienen in Personalmagazin 9/2024. Als Abonnent haben Sie Zugang zu diesem Beitrag und allen Artikeln dieser Ausgabe in unserem Digitalmagazin als Desktop-Applikation oder in der Personalmagazin-App.
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