Bereits auf der Stufe des Auftauens (s. Kap. 5.1.3) wird es abweichende Meinungen über die Bedingungen und Ursachen der Inkongruenz-Erfahrungen, d. h. bei der Ursachenzuschreibung geben. Kolleginnen und Kollegen werden sich u. a. darin unterscheiden, ob das Verhalten von Personen/Personengruppen oder eher Strukturen und Arbeitsbedingungen oder nicht beeinflussbare gesellschaftliche Umstände als Begründung für die Ist-Soll-Diskrepanz herangezogen werden. Dies hat mit den subjektiven Theorien, Leitbildern usw. zu tun (s. Kap. 5; 5.2.2). Je nach Ursachenzuschreibung werden Lösungsvorschläge unterschiedlich ausfallen. Wenn z. B. die Gründe für den Stress einzelner Lehrkräfte in etwa einem unausgewogenen Vertretungsplan gesucht werden, kommen andere Lösungsmöglichkeiten in Betracht (Verhältnismanagement), als wenn ihr Stress mit schlechtem Zeitmanagement oder anderen individuellen Schwächen erklärt wird (Verhaltensmanagement). In der Regel kommen systematische und individuelle Bedingungsfaktoren zusammen. Wir verstehen systemisches Verhältnismanagement und individuelles Verhaltensmanagement als zwei Ruder eines Bootes. Einseitige Schwerpunktsetzungen können dazu führen, dass - um im Bild zu bleiben - das Boot nicht vorwärtskommt, sondern sich im Kreise dreht.
In diesen Fragen kann zwar eine Konferenzmehrheit zu Entscheidungen kommen, auch gegen den Widerstand Einzelner. Besser wäre es jedoch, dies nicht auf der Konfrontationsebene zu behandeln, sondern eine externe Perspektive einzuholen, objektivierte Ist-Stand-Analysen vorzunehmen und die Änderungsziele und Strategien mit allen Beteiligten und Betroffenen gründlich zu verhandeln.
So können sich einige Lehrpersonen eines Kollegiums z. B. dafür entscheiden, an ihrer Work-Live-Balance zu arbeiten, an ihrem Unterrichtsverhalten, ihrer Kommunikation und ihrem Konfliktmanagement oder ihrem Umgang mit Stress und Emotionen. Letztlich tragen auch individuelle Verbesserungen zu einem besseren Gesamtklima bei. Andere Lehrpersonen entscheiden sich vielleicht dafür, einen Gesundheitszirkel einzuführen, Strukturen für Entlastungsmöglichkeiten zu organisieren, gegenseitige Unterstützung in Form von Fallbesprechungen, Supervision, eine Arbeitsmittel-Börse zu etablieren, gemeinsam neue Unterrichtsmethoden auszuprobieren, das Informations- und Würdigungsmanagement zu verbessern .... Sie setzen damit an den Prozessen und Strukturen an. Schließlich könnte auch die Schulleitung an ihrem Führungsstil arbeiten, ihre Rolle im Kollegium klären, für Kooperationsmöglichkeiten und -notwendigkeiten sorgen usw.
Entscheidend ist auch hier die offene Kommunikation über Beweggründe und Ziele. Zu diesem Komplex gehört ebenfalls die Klärung, mit welchen Mitteln das notwendige Know-how erworben werden kann oder sollte, z. B. durch Fortbildung oder externe Beratung (Schulpsychologische Dienste ...). Tab. 11.1 benennt weitere Beispiele für Verhaltensmanagement und Verhältnismanagement. Wer seine Durchhaltemotivation durch schnell spürbare Zwischenerfolge stärken will, sollte je ein Ziel von beiden Spalten auswählen. Auf jeden Fall dürfen systemisches Verhältnismanagement und individuelles Verhaltensmanagement nicht gegeneinander ausgespielt werden, auch wenn es im Arbeitsschutzgesetz etwas einseitig heißt: " ... individuelle Schutzmaßnahmen sind nachrangig zu anderen Maßnahmen ..." (§ 4).
Tabelle 11.1: Balance von Verhaltensmanagement und Verhältnismanagement