Kulturwandel braucht Zeit und Veränderungen im gesellschaftlichen Kontext verlaufen oftmals sehr langsam. Ein Veränderungsprozess besteht aus mehreren Phasen. Wichtig ist anzumerken, dass jeweils alle Phasen durchlaufen werden müssen. In diesem Abschnitt werden die Phasen dargestellt, die ein Individuum persönlich und auf der Unternehmensebene durchlaufen muss. Eingeleitet wird mit einem Beispiel aus dem Straßenverkehr, der Einführung der Anschnallpflicht.
6.1 Beispiel Anschnallpflicht
Am Beispiel der Anschnallpflicht in Deutschland soll aufgezeigt werden, mit welchen gesellschaftlichen Bedingungen und in welchem zeitlichen Rahmen ein Kulturwandel verläuft.
Vor 1970
Bis 1970 bestand in der Bundesrepublik Deutschland keine Anschnallpflicht in Personenkraftwagen.
1970
Im Jahre 1970 führte die Bundesregierung eine Anschnallpflicht in allen Personenkraftwagen ein; diese betraf jedoch nur den Fahrer und den Beifahrer, also die vorderen Sitze eines Autos.
2 außergewöhnliche Merkmale sind hier anzuführen:
- Innerhalb der einen Pkw nutzenden Gesellschaftsschicht gab es vielfältige Diskussionen über den Sinn und Zweck dieses Anschnallgebotes. Die Risikoabwägung zwischen der Eintrittswahrscheinlichkeit und der Eintrittsschwere, die Angst das Auto im Brandfall nicht verlassen zu können und die Einschränkung der persönlichen Freiheit des Autofahrers waren Hindernisse, die es zu überwinden galt.
- Die gesetzgebende Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland hatte auch noch eine unterschiedliche Wahrnehmung der Wertigkeit von Menschenleben. So wurde gesetzlich geregelt, dass die meist wertschöpfende Gesellschaft auf den vorderen Sitzen des Schützens würdiger sei, als die Personen – meist Kinder und Jugendliche – auf den Rücksitzen des Autos.
1976
Erst im Jahre 1976 wurde dieser aus heutiger Sicht erstaunliche Fehler in der Gesetzgebung korrigiert und eine allgemeine Anschnallpflicht auf allen Sitzen des Fahrzeugs eingeführt.
Es dauerte noch Jahre bzw. Jahrzehnte, bis die Sinnhaftigkeit des Anschnallens jeder Person bewusst wurde. So wurden noch in den 80er- und 90er-Jahren bei Sportveranstaltungen Kinder auf Ladeflächen von Kastenwagen zu den Sportstätten als Ladegut transportiert, während der Fahrer oder die Fahrerin vorne wie selbstverständlich den Gurt nutzte.
2000
Um die Jahrtausendwende war die Sinnhaftigkeit des Gurtes für jeden Sitz im Auto kein Thema mehr und die Sicherheit schritt voran. Die ersten Airbags kamen auf und auch hier wieder zuerst für die Insassen auf dem Fahrer und Beifahrersitz. Hier jedoch reagierte die Industrie schneller und folgte dem Sicherheitsinteresse der Kunden. Seiten- und Rückwärtige-Airbags wurden eingeführt und schnell verbreitet.
Kulturwandel und Sicherheitswahrnehmung – dieser Veränderungsprozess braucht Zeit.
6.2 Phasen eines Kulturwandels – persönliche Ebene
Angelehnt an die Phasen eines Kulturwandels der Firma DuPont durchlaufen alle Mitarbeiter und Führungskräfte ein 4-stufiges Modell.
6.2.1 Phase 1: Reaktiv
Mitarbeiter reagieren instinktiv im Arbeitsschutz (Überlebensinstinkt). Es mangelt an Führung durch das Management und Arbeitsschutz ist ausschließlich mit der Person der Fachkraft für Arbeitssicherheit verbunden.
Wildunfall
Ein Mitarbeiter fährt mit seinem PKW auf einer Landstraße durch ein bewaldetes Gebiet und plötzlich kommt es im Lichtkegel der Scheinwerfer zu einem Wildwechsel. Der Mitarbeiter tritt in die Bremsen, versucht instinktiv auszuweichen, kommt von der Straße ab und bleibt im Seitengraben liegen.
In diesem Fall lag weder Planung noch Gefahreneinschätzung vor; eine rein instinktive Handlung führt in den meisten Fällen zu negativen Auswirkungen für die betroffene Person und ggf. deren Umwelt.
6.2.2 Phase 2: Abhängig
Der Arbeitsschutz ist abhängig von den Führungskräften. Er wird über Regeln und Konsequenzen eingeführt und umgesetzt.
Geschwindigkeitsübertretung
Auf die Frage, wie schnell Mitarbeiter auf der Straße unterwegs sind, wenn eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 80 km/h ausgeschildert ist, antworten sie meistens, dass sie die Geschwindigkeit um 20 km/h überschreiten. Als Begründung führen sie an, dass sich bei einer Kontrolle die fällige Verwarnung noch im angemessenen Rahmen bewege und sie bereit sind, das Risiko der durch die Polizei wahrgenommenen Überschreitung einzugehen.
In dieser Phase ist ein Kontrollsystem die normative Kraft.
6.2.3 Phase 3: Unabhängig
Der Arbeitsschutz ist unabhängig vom Management. Mitarbeiter sorgen selbstständig für ein sicheres Arbeitsumfeld und sichere Arbeitsbedingungen.
Schlechte Straßenverhältnisse
In einer regnerischen Herbstnacht fährt ein Mitarbeiter oder eine Führungskraft mit seinem Pkw durch ein bewaldetes Gebiet und hat nur noch wenige Kilometer Wegstrecke bis zum Familiensitz. Trotz einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf 80 km/h verringert der Fahrzeugführer seine Geschwindigkeit auf 60 km/h, da seine eigene Gefahreneinschätzung ihn davon überzeugt, dass die Straßenverhältnisse nur mit geringerer Geschwindigkeit eine sichere Ankunft garantieren. Des Weiteren hat er durch die Zeitangaben auf seinem Navigationsgerät gelernt, dass eine Verringe...