Dipl.-Psych. Julia Scharnhorst, Dr. Petra Bernatzeder
Eine wesentliche Erkenntnis im Rahmen dieser Pilotierung ist die Tatsache, dass allein der Begriff "psychisch" zu wesentlich größeren Unklarheiten, Unsicherheiten, manchmal Ängsten geführt hat, als im Vorfeld angenommen. Führungskräfte hatten die Sorge, sich jetzt noch mehr um Erkrankungen kümmern zu müssen. Mitarbeitende befürchteten intime Fragen nach ihrem Stresslevel oder Gesundheitszustand.
In manchen am Markt befindlichen Befragungstools sind tatsächlich Fragen zu bereits vorliegenden körperlichen oder seelischen Symptomen enthalten. Rein wissenschaftlich gesehen, macht es Sinn, mögliche Überlastungen (z. B. geringer Handlungsspielraum) mit dem Auftreten gesundheitlicher Beschwerden in Zusammenhang zu bringen. Und es mag auch betriebliche wohlmeinende Interessen geben, beide Themenstränge im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung zu erfassen. Gesetzlich verankert ist die Bewertung der Rahmenbedingungen einer Tätigkeit in den oben aufgelisteten Merkmalsbereichen; individuelle Krankheitsbilder sind darin nicht vorgesehen.
Die Formulierungen im Gesetzestext und der DIN-Norm, Belastung als "neutral" zu verstehen und negative Beanspruchung als problematisches Ergebnis, sind im Alltag schwer vermittelbar. Umgangssprachlich ist Belastung i. d. R. negativ belegt. Wir haben den Sport als Analogie herangezogen. Ohne Belastung verkümmert die Muskulatur. Bei leichter Belastung baut sich der Muskel auf, die Muskelkraft und Stärke nimmt zu. Bei zu starker Belastung entstehen negative Beanspruchungsfolgen, wie Muskelfaserrisse oder Zerrungen. In den Workshops mit den Beschäftigten haben wir uns – auch aufgrund der zur Verfügung stehenden Zeit – auf die inhaltliche Klärung konzentriert.
Im Rahmen der Auswertung der Mitarbeiterbefragung kam der Wunsch auf, anhand von "Schwellenwerten" eine Priorisierung und daraus abgeleitete Handlungsimpulse zu definieren. Schwellenwerte kann es nicht geben, welche Instanz sollte das festlegen? Ein Ansatz ist die Bewertung einer Frage nach "Häufigkeit" und "Wichtigkeit". Wenn der Unterschied zwischen Soll und Ist sehr groß ist, könnte dies eine Priorisierung erleichtern. Viele eingesetzte Fragebögen sehen diese Beurteilung aus zwei verschiedenen Perspektiven nicht vor, allerdings findet sich diese Möglichkeit in einigen Befragungsinstrumenten (z. B. "Kurzfragebogen zur Arbeitsanalyse" KfzA; s. BAuA Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin).
Der Anspruch an die Objektivität der Ergebnisse kann nur annäherungsweise erfüllt werden. Dafür lohnt es sich, alle Beschäftigten einer Tätigkeitsgruppe zum Workshop einzuladen oder die Teilnehmenden an dem Workshop "repräsentativ" auszuwählen. Eine freiwillige Teilnahme am Workshop ist jedoch immer günstiger, als bestimmte Personen auszuwählen. Das Stresserleben ist subjektiv. Wahrheit oder Objektivität entsteht durch die Übereinstimmung von Wahrnehmungen, insofern sind Gruppenergebnisse aus Sicht der Beschäftigten die einzig "wahre" Richtschnur.
Bei den Überlegungen zur Wirksamkeitskontrolle einzelner Maßnahmen hatten manche Teilnehmenden und Führungskräfte den Anspruch, die Wirksamkeit einer Maßnahme am Ausmaß der psychischen Gesundheit zu messen. Es hat einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, die Bewertung des Erfolgs einer Maßnahme auf die Wirkung der Maßnahme an sich zu beziehen.
Und: Informieren und kommunizieren, immer und immer wieder. Der überwiegende Teil des Prozesses ist bekannt, der Zweck und manche Details sind neu. Bei vielen Menschen greifen wir mit dem Thema psychische Belastung in eine Tabu-Zone ein, angstbesetzt und mit erhöhter Unsicherheit. Die Sorge um den Datenschutz, die Erwartungen und Skepsis mit Blick auf die Umsetzung von Maßnahmen müssen ernst genommen werden.
Äußerst erfreulich waren die Aussagen mancher Führungskräfte und Beschäftigter: "So schlimm war es ja gar nicht" und "manches in Sachen Psyche sehen wir viel klarer und können unsere Einflussmöglichkeiten auf uns selbst und andere besser einschätzen".