Um Fehlentscheidungen und Fehlhandlungen zu reduzieren, bieten sich 3 Strategien an, die den Menschen nicht als Unfallverursacher in den Mittelpunkt stellen. Die erste Strategie ist, Fehler als Lerngelegenheiten zu sehen; die zweite Strategie ist die Schaffung resilienter Systeme.
7.1 Heinrichs Dreieck
Fehler können als Lernchancen begriffen werden, mit denen sich schwerere Unfälle vermeiden lassen können. Der Sicherheitsingenieur Herbert William Heinrich und seine Kollegen haben in den 1930er-Jahren festgestellt, dass (Arbeits-)Unfälle die sichtbare Spitze eines Eisbergs sind, dem zuvor quasi unter der Wasseroberfläche viele kleinere Beinahe-Unfälle oder riskante Verhaltensweisen vorausgingen. Auf jeden Unfall kommen 29 leichtere Unfälle, 300 Unfälle ohne Verletzungsfolgen und eine sehr hohe Anzahl von Fällen riskanten Verhaltens. Diese Relationen wurden als Heinrichs Gesetz oder Heinrichs Dreieck bekannt (Abb. 2).
Abb. 2: Heinrichs Dreieck
Die Konsequenz daraus ist, dass, je früher und offener über Fehler gesprochen wird, desto eher können schwerwiegende Vorkommnisse vermieden werden. Durch aufmerksames Hinsehen und die Aufarbeitung von Vorkommnissen kommt man latenten Unfallbedingungen auf die Spur. Gleichzeitig eröffnen sich Chancen, den Menschen als Sicherheitsressource zu sehen, der durch sein Eingreifen oder Handeln einen Unfall verhindern kann.
7.2 Etablierung einer Fehlerkultur
Eine Fortführung von Heinrichs Gedanken ist die Etablierung einer Fehlerkultur im Unternehmen. Menschen können Fehler und Fehlverhalten eingestehen, bei denen ja oftmals auch andere Systemkomponenten involviert sind. Diese Meldungen müssen natürlich sanktionsfrei bleiben, denn: Fehler können totgeschwiegen, Probleme verschleiert und Schuldige gesucht werden. Aber: Man kann Fehler auch zugeben dürfen, besprechen und gemeinsam nach Lösungen suchen, damit Fehlentscheidungen und Fehlhandlungen in Zukunft weniger häufig vorkommen.
Eine solche offene, positive Fehlerkultur trägt viel zur Sicherheit und zur Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter bei. Fehler werden als Lernchancen begriffen und genutzt, um ein Unternehmen sicherer, agiler und innovativer zu machen. Wer Angst hat, Fehler zu machen, wird keine neuen innovativen Ansätze, Ideen und Wege verfolgen. Aber auch bestehende Abläufe können mit einer positiven Fehlerkultur hinterfragt und ggf. verbessert werden.
"Man muss die Mitarbeiter dazu bringen, ganz offen über Dinge zu sprechen, die nicht laufen. Das Problem ist nämlich nicht der Fehler, sondern der nicht entdeckte Fehler. Aus einem nicht entdeckten Fehler kann niemand lernen, er kann immer wieder passieren. Das gilt für Unternehmen genauso wie in der Luftfahrt", sagt Jan Hagen, Professor an der privaten Hochschule ESMT in Berlin.
Fehlermeldesysteme und Simulatortrainings
In der Luftfahrt sind anonyme Fehlermeldesysteme bereits seit Längerem etabliert. Notfallsituationen werden im Simulator trainiert oder in Trainings (CRM =Crew Resource Management) besprochen. Viele der Trainingsinhalte zu Teamwork, Kommunikation, Verhalten in kritischen Situationen finden inzwischen auch in Fortbildungen für Mediziner Anwendung.
Im Rahmen der kommmitmensch-Kampagne ist eines der Handlungsfelder eine offene Fehlerkultur. Informationen dazu findet man unter: https://www.kommmitmensch.de/die-kampagne/handlungsfelder-im-fokus/fehlerkultur/. Auf der Seite können Handlungs- und Praxishilfen heruntergeladen oder als Printmedien kostenlos bestellt werden.
Regelmäßige Teambesprechungen
In regelmäßigen Teambesprechungen, im nächsten Sicherheitsgespräch oder in der nächsten Unterweisung werden sicherheitskritische Situationen, Beinahe-Unfälle und Unfälle, die Mitarbeiter begangen, erlebt oder beobachtet haben, berichtet und offen besprochen. Vorkommnisse werden anonym dokumentiert und hinsichtlich Quantität und Qualität systematisch und systemisch ausgewertet.
7.3 Resiliente Systeme
Eine praktische Konsequenz aus der Fehlerforschung ist die Forderung nach resilienten Systemen. Resilienz (lat. Resilire = zurückspringen, abprallen) bedeutet, dass ein System gegenüber Fehlern tolerant oder widerstandsfähig ist. Störungen werden durch das System aufgefangen und unschädlich gemacht.
Lösung für das beschriebene Beispiel
Um weitere Unfälle wie den des Mitarbeiters Groß zu vermeiden, könnte eine Warnleuchte anzeigen, wenn der Lastenschwerpunkt aus dem erlaubten Feld auswandert, sodass ein Mitarbeiter sofort reagieren kann. Vorhandener oder empfundener Zeitdruck kann reduziert werden, wenn bei Personalknappheit in Notfällen ein Springer einsatzbereit ist. Empfundener Zeitdruck ist mit den Mitarbeitern im nächsten Sicherheitsgespräch zu besprechen: für Arbeitssicherheit ist immer Zeit.