Die Beschäftigten müssen gemäß § 16 Abs. 1 ArbSchG dem Arbeitgeber oder dem zuständigen Vorgesetzten unverzüglich melden:

  • jede von ihnen festgestellte unmittelbare erhebliche Gefahr für die Sicherheit und Gesundheit,
  • jeden an den Schutzsystemen festgestellten Defekt.

Die Komplexität der verschiedenen Begriffe lässt bereits erahnen, wie viel Verantwortung sich für jeden einzelnen Beschäftigten damit verbindet.

1.4.1 Unmittelbare erhebliche Gefahr

Der Begriff der "unmittelbaren erheblichen Gefahr" korrespondiert mit der in § 9 Abs. 2 Satz 2 ArbSchG beschriebenen Gefahrenlage, sodass auch insoweit auf die einschlägigen Formulierungen und Erläuterungen aus dem Gesetzgebungsverfahren zurückzugreifen ist. I. Allg. wird dabei die Größe einer Gefahr durch die Schwere des möglichen Schadens und der Wahrscheinlichkeit des Eintritts bestimmt.[1]

Der Zustand der unmittelbaren erheblichen Gefahr liegt dann vor, wenn der Eintritt nicht mehr abgewendet werden kann oder sehr wahrscheinlich ist oder der zu befürchtende Schaden nach Art und Umfang sehr schwer wäre.[2]

Nicht nur dann, wenn der Schaden wahrscheinlich eintritt (Gefahrenabwehr), sondern auch in dem Fall, dass sich ein bereits vorliegender Schaden wahrscheinlich gravierend verschlimmert (Schadensbegrenzung), ist vom Vorliegen einer unmittelbaren erheblichen Gefahr auszugehen.[3]

Der in § 9 Abs. 2 Satz 2 ArbSchG verwendete Begriff der "unmittelbaren erheblichen Gefahr" setzt den aus dem EU-Recht (Art. 8 Abs. 35 89/391/EWG) stammenden Begriff der "ernsten und unmittelbaren Gefahr" in das deutsche Recht um.

[1] Bundestags-Drucksache 13/3540, S. 18.
[2] Butz in Kollmer/Klindt, Arbeitsschutzgesetz, 2. Aufl. 2011, § 15 Rdnr. 43 mit Hinweis auf Schmatz/Nöthlichs, Sicherheitstechnik, Rdnr. 4026, S. 5.
[3] Butz in Kollmer/Klindt, Arbeitsschutzgesetz, 2. Aufl. 2011, § 15 Rdnr. 43.

1.4.2 Festgestellte Gefahr

Kaum weniger anspruchsvoll ist die Forderung, dass eine Gefahr als solche "festgestellt" sein muss. Wer als Privatmann oder Unternehmer einmal in der Pflicht stand, zur Durchsetzung eines zivilrechtlichen Gewährleistungsanspruchs mittels Sachverständigengutachten einen Schaden an einem Dachstuhl, einer Heizung oder einem Autogetriebe in gerichtsfester Weise feststellen zu lassen, kann nachvollziehen, was sich hinter diesem schlicht formulierten Anspruch im Arbeitsschutzrecht verbirgt.

Das Ergebnis dieses Vergleichs führt zu der Erkenntnis, dass der Begriff der "festgestellten" Gefahr ein sprachlicher Fehlgriff des Gesetzgebers ist.

Konkret geht es nicht darum, den Beschäftigten zur Untersuchung zu verpflichten, ob überhaupt eine Gefahr vorliegt, sodass er also erst dann "Alarm auslösen" darf, wenn er selbst zuvor valide Untersuchungen angestellt hat. Vielmehr soll der Beschäftigte dazu verpflichtet werden, eine Gefahrensituation – sei sie nun schwer oder weniger schwer – anzuzeigen. Der militärische Grundsatz "Melden macht frei", wonach stets der nächst höhere Dienstvorgesetzte über "besondere Vorkommnisse" zu informieren ist, will der Untergebene bei Entdeckung des Missstandes nicht wegen unterlassener Meldung zur Rechenschaft gezogen werden, gilt auch hier im Prinzip weiter fort. So reicht es denn aus, wenn Beschäftigte anhand des "begründeten Verdachts", es könne eine Gefahrenlage bestehen, eine Meldung erstatten.

1.4.3 Defekte an Schutzsystemen

Den zweiten meldepflichtigen Tatbestand leitet der Gesetzgeber aus Defekten an Schutzsystemen ab. Diese liegen stets dann vor, wenn

  • die Betriebs- oder Arbeitseinrichtungen sowie die Geräte nicht in sicherheitstechnisch einwandfreiem Zustand sind,
  • die Arbeitsabläufe und/oder -verfahren nicht einwandfrei geregelt oder gestaltet sind oder
  • gefährliche Stoffe nicht einwandfrei sicherheitstechnisch verpackt, beschaffen oder gekennzeichnet sind.[1]
[1] Schmatz/Nöthlichs, Sicherheitstechnik, Rdnr. 4040, S. 2.

1.4.4 Unverzügliche Meldung

Die "Unverzüglichkeit" der Meldung bemisst sich am Maßstab des § 121 Abs. 1 BGB, wonach die Meldung ohne schuldhaftes Zögern zu erstatten ist. Das bedeutet im Umkehrschluss: Derjenige, der keine Meldung erstatten kann, weil der zuständige nächste Vorgesetzte nicht erreichbar ist, handelt nicht schuldhaft. Insbesondere kann ihm nicht vorgeworfen werden, nicht "unverzüglich" gemeldet zu haben. Dafür, dass niemand erreichbar ist, trägt kein Beschäftigter die Verantwortung.

1.4.5 Empfänger der Meldung

Als Empfänger der Meldung kommt v. a. der Arbeitgeber in Betracht. Im Übrigen orientiert sich der Kreis derer, die auch noch infrage kommen können, am Kreis der Vorgesetzten gemäß § 13 ArbSchG.

Der Begriff der "Zuständigkeit" orientiert sich nicht vorrangig an der Hierarchie im Betrieb. Es wird zu beachten sein, dass in weiten Bereichen des Arbeitsschutzes die Zuständigkeit in direktem Zusammenhang mit der Sach- und Fachkunde steht. So ist z. B. nach den naturwissenschaftlich geprägten Verordnungen zu künstlicher optischer Strahlung sowie Lärm und Vibrationen der Arbeitgeber sogar verpflichtet, sich externen Sachverstand zu verschaffen, wenn es um Messungen etc. in diesem speziellen Zusammenhang geht.

 
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