Die Wunschvorsorge nach der ArbMedVV
Europarechtlicher Hintergrund
Zur Gewährleistung einer geeigneten Überwachung der Gesundheit der „Arbeitnehmer“ fordert das EU-Recht, dass die Mitgliedsstaaten je nach den Gefahren für die Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz entsprechende Maßnahmen zu treffen haben (vgl. Art. 14 Abs. 1 RL 89/391/EWG). Diese Maßnahmen müssen so konzipiert sein, dass jeder „Arbeitnehmer“ sich auf Wunsch einer regemäßigen präventivmedizinischen Überwachung unterziehen kann (Art. 14 Abs. 2 RL 89/391/EWG). Dem europarechtlichen Begriff des Arbeitnehmers (vgl. hierzu Art. 3 lit. a RL 89/391/EWG) entsprechen die Beschäftigten iSv § 2 Abs. 2 ArbSchG.
Richtlinien der EU bedürfen (anders als EU-Verordnungen) einer Umsetzung in nationales Recht und sind lediglich hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich (Art. 288 UAbs. 3 AEUV). In Deutschland wurde die Umsetzung des in Art. 14 RL 89/391/EWG normierten Zieles durch § 11 ArbSchG mit Wirkung zum 21.08.1996 umgesetzt (BGBl. 1996 I, S. 1246). Folglich bestimmt § 11 ArbSchG in Übereinstimmung mit Art. 14 Abs. 2 RL 89/391/EWG, dass der Arbeitgeber Maßnahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge auch auf Wunsch der Beschäftigten zu ermöglichen hat.
Das Ausmaß dieser Verpflichtung hängt von den für die Beschäftigten bei der Arbeit möglichen Gefahren für ihre Sicherheit und Gesundheit ab.
Die Wunschvorsorge ist somit im Prinzip die Mindestanforderung der EU an die präventivmedizinische Überwachung.
§ 11 Arbeitsschutzgesetz
Wie bereits dargelegt, erfolgte die unmittelbare Umsetzung von Art. 14 Abs. 2 RL 89/391/EWG durch § 11 ArbSchG, wonach der Arbeitgeber den Beschäftigten grundsätzlich auf ihren Wunsch hin zu ermöglichen hat, sich je nach den Gefahren für ihre Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit regelmäßig arbeitsmedizinisch untersuchen zu lassen. Schon nach dem damaligen Verständnis (und damit vor dem Inkrafttreten der ArbMedVV) umfasste die Vorsorge eine Beratung und Untersuchung (vgl. BR-Drs. 881/95, S. 33).
Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge
Mit Wirkung zum 24.12.2008 trat die ArbMedVV in Kraft (BGBl. 2008 I, S. 2768). In der ursprünglichen Fassung tauchte der Begriff der „Wunschuntersuchung“ lediglich bei den Begriffsdefinitionen auf und bei der Festlegung, dass dem Ausschuss für Arbeitsmedizin die Aufgabe zugewiesen wurde, Empfehlungen für Wunschuntersuchungen aufzustellen.
Erst im Rahmen der Novellierung der ArbMedVV im Oktober 2013 erfolgte eine weitere explizite Benennung. Mit Wirkung zum 31.10.2013 wurde § 5a ArbMedVV in das Regelwerk eingefügt (BGBl. 2013 I, S. 3882), welcher normiert, dass über die Vorschriften des Anhangs der ArbMedVV hinaus der Arbeitgeber den Beschäftigten auf Wunsch hin vom Grundsatz her regelmäßig arbeitsmedizinische Vorsorge nach § 11 ArbSchG zu ermöglichen hat. Die Einfügung des § 5a ArbMedVV hatte im Wesentlichen lediglich einen klarstellenden Charakter (vgl. BR-Drs. 327/13, S. 18). Nach Auffassung des Verordnungsgebers konnte in der modernen Arbeitswelt mit ihren vielfältigen Belastungen und Beanspruchungen die arbeitsmedizinische Vorsorge nicht auf den Katalog im Anhang der ArbMedVV beschränkt bleiben. Arbeitsmedizinische Vorsorge kommt bei allen Tätigkeiten, welche die Gesundheit gefährden können, in Betracht.
Durch die explizite Einbeziehung der Wunschvorsorge in die ArbMedVV erfolgte allerdings rechtssystematisch auch die Anwendbarkeit formeller Vorsorgekriterien. So gelten auch hier die Vorgaben, dass der Arbeitgeber mit Durchführung der Vorsorge grundsätzlich einen Arzt zu beauftragen hat, der über die Gebietsbezeichnung „Arbeitsmedizin“ oder die Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ verfügen muss (vgl. § 3 Abs. 2 S. 1 iVm § 7 Abs. 1 ArbMedVV). Weiterhin sind dem Arzt alle erforderlichen Auskünfte über die Arbeitsplatzverhältnisse zu erteilen (vgl. § 3 Abs. 2 S. 2 ArbMedVV). Letztendlich gilt auch hier, dass
- die Vorsorge während der Arbeitszeit des Beschäftigten stattfinden soll (§ 3 Abs. 3 S. 1 ArbMedVV),
- der Arbeitgeber über die Wunschvorsorge eine Vorsorgekartei führen (§ 3 Abs. 4 S. 1 ArbMedVV) und
- der Arzt nach durchgeführter Vorsorge eine Vorsorgebescheinigung erstellen muss (§ 6 Abs. 3 Nr. 3 ArbMedVV).
Die Ermächtigungsgrundlage dafür, auch die Maßnahmen nach § 11 ArbSchG durch die ArbMedVV näher zu konkretisieren, findet sich in § 18 Abs. 1 S. 1 ArbSchG. Die Wunschvorsorge i. S. v. § 11 ArbSchG in der ArbMedVV zu konkretisieren ist aus deutscher Sicht folgerichtig, wenn auch europarechtlich nicht explizit gefordert. Das Europarecht würde es für statthaft erachten, wenn die präventivmedizinische Überwachung in diesem Sinne Bestandteil des nationalen Gesundheitsfürsorgesystems wäre (vgl. Art. 14 Abs. 3 RL 89/391/EWG).
Die Wunschvorsorge dient folglich dazu, arbeitsbedingte Erkrankungen (einschl. Berufskrankheiten) frühzeitig zu erkennen und zu verhüten (§ 1 Abs. 1 S. 1 ArbMedVV). Zur Eignungsfeststellung lässt sich die Wunschvorsorge weiterhin nicht heranziehen (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 5 ArbMedVV).
Anlässe der Wunschvorsorge
Wie bereits erwähnt, finden sich die Anlässe für die Wunschvorsorge nicht im Katalog des Anhangs der ArbMedVV. Dies wäre nicht umsetzbar gewesen, da sich die Anlässe für die Wunschvorsorge auf jede denkbare Tätigkeit beziehen, die Beschäftigte ausführen. Einschränkungen auf bestimmte Tätigkeiten würden den europarechtlichen Vorgaben zuwiderlaufen. Im Ergebnis umfasst die Wunschvorsorge im Wesentlichen damit sämtliche Tätigkeiten, welche in der ArbMedVV nicht benannt sind. So umfasst sie z. B. auch psychische Belastungen am Arbeitsplatz.
Auch aus arbeitsmedizinischer Sicht könnte man keine Tätigkeit benennen, bei denen ein Gesundheitsschaden generell ausgeschlossen werden kann. Die Wunschvorsorge kann somit als Auffangtatbestand (neben der Pflicht- und Angebotsvorsorge nach der ArbMedVV) angesehen werden, wenngleich dies ihrer europarechtlichen Bedeutung (als „Urform“ der arbeitsmedizinischen Vorsorge) wohl nicht gerecht wird.
Im Rahmen der Wunschvorsorge kann der Beschäftigte z. B. abklären lassen, ob eine bestimmte Erkrankung bei ihm dazu führt, dass bei Ausübung einer Tätigkeit eine erhöhte gesundheitliche Gefährdung besteht (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 2 ArbMedVV). Somit kann ein Beschäftigter individuelle Gesundheitsdispositionen abklären lassen. Eine weitere Fragestellung kann sein, wie längere Arbeitszeiten gemeistert werden können, ohne dass die Gesundheit Schaden nimmt (Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit; vgl. § 1 Abs. 1 S. 2 ArbMedVV).
Einschränkungen
Gem. dem Wortlaut des § 11 ArbSchG, § 5a ArbMedVV muss eine Wunschvorsorge dann nicht ermöglicht werden, wenn aufgrund der Beurteilung der Arbeitsbedingungen und der getroffenen Schutzmaßnahmen nicht mit einem Gesundheitsschaden zu rechnen ist. Hierzu ist allerdings festzustellen, dass die EU-rechtlichen Vorgaben eine entsprechende Einschränkung nicht kennen. Einschränkend wirkt hier lediglich, dass die Maßnahmen zur geeigneten Gesundheitsüberwachung „je nach den Gefahren für ihre Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz“ auszugestalten sind (vgl. Art. 14 Abs. 1 RL 89/391/EWG). Auch sind die Vorschriften des § 11 ArbSchG, § 5a ArbMedVV europarechtskonform auszulegen (abgeleitet aus Art. 288 UAbs. 3 AEUV, „effet utile“, Art. 4 Abs. 3 EUV). Auf der anderen Seite könnte die Interessenlage des Arbeitgebers in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigt sein, wenn er definitiv nachweisen kann, dass die konkret durch den Beschäftigten auszuführenden Tätigkeiten zu keinerlei Gefährdung der Gesundheit führen können.
Insofern kann die Wunschvorsorge nur unter erschwerten Bedingungen seitens des Arbeitgebers abgelehnt werden. Hier muss Berücksichtigung finden, dass die zugrunde liegende Gefährdung auch in einer individuellen Gesundheitsdisposition des Beschäftigten liegen kann, welche der Arbeitgeber regelmäßig nicht kennt. Auch können psychische Gefährdungen mit dem Mittel der Wunschvorsorge abgeklärt werden, welche sich naturgemäß nicht abschließend in einer Gefährdungsbeurteilung erfassen lassen.
Nach der Rechtsprechung setzt der Anspruch auf arbeitsmedizinische Wunschvorsorge lediglich voraus, dass der Beschäftigte einen entsprechenden Wunsch äußert. Es sind
- weder eine konkrete Gefahr eines Gesundheitsschadens
- noch ein erhöhtes Gefährdungspotential oder der Nachweis eines konkreten Zusammenhangs zwischen bestimmten Beschwerden und den Bedingungen am Arbeitsplatz erforderlich.
Ein Anspruch auf Wunschvorsorge besteht, wenn der Beschäftigte einen Zusammenhang mit der Arbeitstätigkeit lediglich vermutet (zu den Aspekten: LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 21.07.2016 – 21 Sa 51/16).
Wunsch des Beschäftigten
Anders als die Pflicht- und Angebotsvorsorge ist es im Rahmen der Wunschvorsorge nicht erforderlich, dass der Arbeitgeber hier regelmäßig aktiv wird, um entsprechende arbeitsmedizinische Vorsorgen zu initiieren. Die Wunschvorsorge ist dem Beschäftigten vielmehr „auf seinen Wunsch hin“ zu ermöglichen. Der Beschäftigte muss diese somit aktiv verlangen.
Für den Arbeitgeber ist es in der Praxis von Relevanz, ob das Begehren auch begründet werden bzw. ob dies von einer besonderen Gefährdungslage abhängen muss. Dies kann allerdings weder § 11 ArbSchG noch § 5a ArbMedVV entnommen werden. Auch die europarechtlichen Vorgaben kennen derartige Einschränkungen nicht. Die Einschränkung „je nach den Gefahren“ in Art. 14 Abs. 1 RL 89/391/EWG bezieht sich auf den Umfang der zu treffenden Maßnahmen, bezweckt aber (wie Art. 14 Abs. 2 RL 89/391/EWG zeigt) keine weiteren Einschränkungen.
Der Anspruch auf Wunschvorsorge kann folglich ohne weitere Begründung wahrgenommen werden. Es ist im Ergebnis ausreichend, dass sich aus der durchgeführten Tätigkeit eine Gesundheitsgefährdung ergeben kann.
Eine besondere Form des „Verlangens“ schreibt weder das ArbSchG noch die ArbMedVV vor, das Begehren kann somit „formfrei“ vorgetragen werden (z. B. Vorsprechen, E-Mail etc.). Gleichwohl kann der Arbeitgeber (unter Berücksichtigung von Mitbestimmungsrechten der Personalvertretungen, z. B. § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG) ein Prozedere festlegen, wie er die Wunschvorsorge ermöglicht.
Impfungen
Impfungen können ebenfalls Bestandteil der Wunschvorsorge sein. Dies ist dann der Fall, wenn das Risiko einer Infektion tätigkeitsbedingt ist und im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung erhöht ist (vgl. § 6 Abs. 2 S. 3 ArbMedVV). Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung nach § 5 ArbSchG (ggf. konkretisiert durch § 4 BioStoffV) zu ermitteln.
Kenntnis von der Wunschvorsorge
Zu einer „angemessenen“ arbeitsmedizinischen Vorsorge i. S. v. § 3 Abs. 1 S. 1 ArbMedVV gehört auch, dass der Beschäftigte über die Möglichkeiten der Wunschvorsorge Bescheid weiß. Hieraus lässt sich ableiten, dass die Beschäftigten über diese Möglichkeiten entsprechend zu unterrichten sind (z. B. im Rahmen der Unterweisung nach § 12 ArbSchG).
Teilweise enthalten einige Rechtsvorschriften bereits die Verpflichtung, über den Anspruch auf arbeitsmedizinische Vorsorge nach der ArbMedVV (und damit folglich auch über die Wunschvorsorge) zu informieren (z. B. § 14 Abs. 2 S. 3 BioStoffV, § 14 Abs. 2 S. 3 GefStoffV, § 11 Abs. 2 Nr. 6 LärmVibrationsArbSchV oder § 8 Abs. 2 OStrV).
Verbot der Maßregelung
Sofern Beschäftigte ihren Anspruch auf Wunschvorsorge gem. § 11 ArbSchG, § 5a ArbMedVV berechtigt geltend machen, darf der Arbeitgeber sie nicht benachteiligen (§ 612a BGB). Das Maßregelverbot gilt gleichermaßen für die Fälle, in denen die Beschäftigten ihren Anspruch auf Wunschvorsorge nicht wahrnehmen wollen, obwohl der Arbeitgeber dies für sinnvoll erachtet.
Fazit
Die Wunschvorsorge ergänzt die Pflicht- und Angebotsvorsorgen nach der ArbMedVV. Wenngleich den Beschäftigten regelmäßig nicht bekannt, so stellt sie doch die Mindestanforderung der EU an präventivmedizinische Überwachung dar. Den Beschäftigten soll möglichst in allen Arbeitsfeldern ermöglicht werden, arbeitsmedizinische Vorsorge bei einem hierauf spezialisierten Arzt durchführen lassen zu können. Die Arbeitgeber sollten ihre Beschäftigten im Rahmen der Unterweisungen regelmäßig auf die Möglichkeit der Wunschvorsorge hinweisen und diese ermutigen, dieses Instrumentarium zu nutzen. Die Wunschvorsorge trägt ihren nicht unerheblichen Teil dazu bei, arbeitsbedingte Erkrankungen frühzeitig zu erkennen bzw. zu verhindern und dient damit dem Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit.
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