Prof. Dr. Jörn Kohlhammer
Wir Menschen nehmen unsere Welt auf ganz bestimmte Weise wahr. Dabei basieren die Eigenschaften unserer Wahrnehmung auf einer evolutionär geprägten Physiologie. Über die Gründe für die eine oder andere Eigenschaft werden verschiedene, manchmal widersprüchliche Ursachen angeführt. So gibt es verschiedene Erklärungsversuche, warum die Rot-Grün-Schwäche meist nur bei Männern auftritt oder warum unsere periphere Sicht (am Rande des Sichtfelds) so gut Bewegungen wahrnimmt. Für die Informationsvisualisierung ist nur wichtig, welche Phänomene wir beobachten können und wie wir uns durch geeignete Visualisierungen darauf einstellen können. Z. B. kann man es vermeiden, Rot und Grün als die wesentlichen Farben zur Unterscheidung von Daten in einer Visualisierung zu verwenden – man verhindert so recht einfach den Ausschluss von ca. 5 % der männlichen Nutzer.
Es gibt eine Vielzahl von Übersichten und Einführungen der visuellen Wahrnehmung. Die Darstellung von Colin Ware ist für diesen Beitrag sehr gut geeignet, da Ware das Thema Informationsvisualisierung in den Vordergrund stellt. Er unterscheidet dabei drei Ebenen der visuellen Wahrnehmung, die aufeinander aufbauen und das menschliche Sehen so eingängig erklären (s. Abb. 2).
Abb. 2: Die 3 Wahrnehmungsebenen nach Ware
Kleinste Bewegungen im Sichtfeld wahrnehmen
Die 1. Ebene beschreibt unsere Fähigkeit, kleinste Details in unserem Sichtfeld sehr schnell wahrzunehmen. Diese Wahrnehmung ist parallel, deckt ein breites Sichtfeld ab und ist unbewusst, d. h., sie ist nicht abhängig von Aufmerksamkeit oder Interesse. Wenn wir also konzentriert ein Buch lesen, nehmen wir es trotzdem wahr, falls sich etwas schnell auf uns zubewegt. Genauso zieht die Bewegung einer Nachricht des Betriebssystems in der rechten, unteren Ecke unsere Aufmerksamkeit auf sich – ob wir das wollen oder nicht.
Muster und Regionen
Die 2. Ebene unserer Wahrnehmung ist zuständig für Muster und Regionen, die durch Farbe oder Bewegung zusammenhängen. Auf dieser Ebene werden also die vielen Einzelinformationen und -details der 1. Ebene verknüpft. Dies geschieht individuell, da die Wahrnehmung auf dieser 2. Ebene sozusagen trainiert werden kann. Der Mensch erlernt also bestimmte Muster, die dann schneller und zuverlässiger erkannt und zugeordnet werden können. So erkennt ein Radiologe beispielsweise in einer Computertomographie Muster und Regionen, die für den Laien nur Farbrauschen sind.
Objekte mit Arbeitsgedächtnis verbinden
Auf der 3. Ebene werden Objekte bewusst wahrgenommen. Hier besteht eine Verbindung mit dem verbalen Arbeitsgedächtnis, also eine Verknüpfung von Objekten mit Worten und Bezeichnungen. War die 1. Ebene noch stark parallelisiert, so zwingt uns die 3. Ebene, Objekte nacheinander abzuarbeiten. Wir können uns also nur bedingt auf mehrere Objekte gleichzeitig konzentrieren. So können Sie nicht gleichzeitig 2 verschiedene Sätze auf dieser Seite lesen. Dies ist nicht nur durch die Wahrnehmung, sondern auch durch unsere Aufmerksamkeit und unser Arbeitsgedächtnis bedingt. Z. B. ist es genauso wenig möglich, diese Zeilen zu lesen und gleichzeitig 1.281 × 351 im Kopf zu rechnen. Die Trichterform der Abbildung soll andeuten, dass wir auf der 1. Ebene eine große Menge an Details wahrnehmen, die uns aber gar nicht bewusst wird. Auf der 2. Ebene verknüpfen wir diese Details zu Mustern, von denen uns jedoch nur die wirklich bewusst werden, die auch relevant für die aktuelle Aufgabe scheinen. Die 3 Ebenen können daher wie ein Filter angesehen werden, der nur die relevanten und wichtigen Informationen in unser Bewusstsein lässt.
Ohne auf weitere Aspekte der Farbwahrnehmung oder auf Wahrnehmungseffekte einzugehen, zeigen diese 3 Ebenen bereits interessante und hilfreiche Eigenschaften der menschlichen Wahrnehmung. Auf diese Erkenntnisse bauen heutige Visualisierungen auf, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die visuelle Verbindung zwischen Bildschirm über das Auge ins menschliche Gehirn zu optimieren. Welchen Gestaltungsspielraum uns die heutige Informationsvisualisierung bietet, betrachten wir im nächsten Abschnitt. Wie bereits erwähnt, geht es vor allem darum, die Möglichkeiten kennenzulernen, unabhängig davon, welches Werkzeug wir verwenden.