Prof. Dr. Heimo Losbichler
3.3.1 Charakteristika komplexer Systeme
Abb. 4 zeigt den strukturellen Aufbau komplexer Systeme wie dem unseres heutigen Wirtschaftssystems. Sie bestehen aus einer Vielzahl an Elementen (a bis h) und Beziehungen (Pfeile zwischen den Elementen), wobei das System in einen für den Aktor A (Manager, Controller) sichtbaren Teil (a, b, d, e, g, h) und einen unsichtbaren Teil (c, f) zerfällt. Ein Beispiel für ein unsichtbares Element wäre das Coronavirus vor seinem Ausbruch. Dies hat eine bedeutende Konsequenz: wir wissen nicht, dass gewisse Elemente existieren und können diese in Entscheidungen nicht berücksichtigen. Wirtschaftssysteme sind damit nur partiell erfassbar und damit auch nur unvollständig in KI-Systemen modellierbar.
Abb. 4: Aufbau komplexer Systeme
Weiter unterteilen sich komplexe Systeme in passive Elemente (a, c, e, f, h, g) und aktive Elemente (b, d), die sich selbständig verändern. Die aktiven Elemente führen zur Eigendynamik komplexer Systeme. Sie warten nicht auf die Eingriffe des Akteurs, sondern verändern sich selbständig. Sowohl die Elemente selbst als auch die Beziehungen zwischen den Elementen können sich ohne Einwirken verändern. Als Konsequenz bestimmt der Input (Eingriffe des Managements) nicht mehr allein den Output. Vielmehr ist der Output vom Input und den Zuständen des Systems abhängig. Daher überraschen uns komplexe Systeme permanent in ihrem Verhalten. Forrester bezeichnet sie als intuitionswidrig, weil sich bekannte Erscheinungen plötzlich anders verhalten, als wir es aus der Erfahrung erwarten. Dies gilt auch für maschinelle Forecasts auf Basis künstlicher Intelligenz, die letztlich aus Vergangenheitsdaten (Zuständen des Systems) die Zukunft treffsicher voraussagen sollten. SAP formuliert diesen Umstand für sein Produkt SAP Analytics Cloud (SAC) wie folgt: "Smart Predict augments your existing business intelligence capabilities by learning from your historical data to create recommendations on the next best action to take for your business."
3.3.2 Umsetzung in maschinellen Forecasts am Beispiel von SAP Analytics Cloud
Für die Prognose bedienen sich moderne Planungs-Tools unterschiedlicher Methoden, die von einfachen statistischen Methoden wie der linearen Regression über komplexere statistische Methoden wie der Time Series Analysis bis zu neuronalen Netzen reichen.
Leistungsfähige Tools verfügen über eine Bandbreite an Prognosemethoden. Um die Prognosegenauigkeit zu erhöhen, wird deren Treffsicherheit für jeden konkreten Anwendungsfall anhand von Vergangenheitsdaten miteinander verglichen. Dies geschieht zumeist mit statistischen Kriterien wie dem Mean Average Percentage Error (MAPE), der auch z. B. in der SAP Analytics Cloud zum Einsatz kommt. Vom Prinzip her werden dabei "historische Forecasts" erstellt und den tatsächlichen Werten gegenübergestellt. Extrem vereinfacht lässt sich dies wie folgt beschreiben: Das System berechnet z. B. auf Basis der Vergangenheitsdaten mithilfe der linearen Regression eine Trendfunktion für den Umsatz. Anschließend prognostiziert das Modell aufbauend auf den Ist-Daten des Vor-Vorjahres das Vorjahr. Diese Prognose wird mit den tatsächlichen Vorjahreswerten verglichen. Die Differenz zwischen Simulation und Ist-Werten zeigt die Qualität der Prognosemethode. Werden derartige retrograde Forecasts für unterschiedliche Zeiträume und Datensets variiert, lässt sich die Robustheit und Qualität der Prognosemethoden beurteilen. In modernen Planungs-Tools können Prognosemethoden für unterschiedliche Anwendungsfälle vom Benutzer ausgewählt werden. Smart Predict von SAP bietet z. B. derzeit Methoden für 3 Anwendungsfälle bzw. "Predictive Scenarios": Cassification, Regression und Time Series. Das Cassification Szenario unterstützt Ja/Nein-Fragestellungen wie z. B. ob ein Kunde kaufen wird oder nicht. Auf Basis der Vergangenheitsdaten (vergangene Angebote mit Informationen/Variablen wie Kunde, Wettbewerber, Angebotshöhe, Produkt etc.) und der Information, ob der Zuschlag erhalten wurde oder nicht (Target Variable), generiert das System verschiedene Scenarios und wählt das beste Scenario bzw. die beste Prognosemethode aus. Abb 5 zeigt, wie SAP die Qualität der Prognosemethode sowohl in Bezug auf die Genauigkeit (Predictive Power) als auch die Wahrscheinlichkeit, dass das Scenario auf andere Daten übertragbar ist (Prediction Confidence), bewertet. Darüber hinaus zeigt das System auch, welche Variablen den größten Einfluss auf die Entscheidung haben (Variable Contributions).
Abb. 5: Aufbau komplexer Systeme
Auch wenn die Prognosefunktionen moderner Systeme beeindruckend sind, beruhen diese Modelle auf der Annahme, dass sich die Zukunft aus der Vergangenheit prognostizieren lässt. Die Eigendynamik komplexer Systeme und die damit verbundene Varietät hat jedoch unter Berücksichtigung des Bremerman'schen Limits tiefgreifende Konsequenzen für den Einsatz maschineller Forecasts: Das Ideal der exakten Voraussage bleibt trotz kü...