Prof. Dr. Bettina Thormann, Prof. Dr. Marius Gros
Tz. 72
Stand: EL 53 – ET: 05/2024
Die für die Beurteilung von Abschlüssen schwierigste Frage liegt darin, festzustellen, ab wann ein Verstoß gegen eine Rechnungslegungsnorm als wesentlich einzustufen ist. Grundsätzlich sollte der Beurteilungsmaßstab der BaFin bei der Feststellung eines Fehlers dem des Abschlussprüfers bei der Einschränkung oder Versagung des Bestätigungsvermerks entsprechen, da beide Institutionen gleichermaßen das Vertrauen in die von den Unternehmen zu erstellenden Abschlüsse mit zugehörigen Lagebericht stärken sollen (OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 22.1.2009, WpÜG 1/08 und 3/08). Demnach finden sich in den berufsständischen Verlautbarungen IDW PS 250 nF (Wesentlichkeit im Rahmen der Abschlussprüfung, IDW FN Nr. 1/2013) bzw. ISA 320 (Materiality in Planning and Performing an Audit) auch für das Enforcement-Verfahren Anhaltspunkte für die Beurteilung der Wesentlichkeit eines Verstoßes gegen Rechnungslegungsvorschriften.
Tz. 73
Stand: EL 53 – ET: 05/2024
Der Grundsatz der Wesentlichkeit ist Teil des materiellen Bilanzrechts und ist als solcher auf der Grundlage der jeweiligen Rechnungslegungsvorschriften und Zwecke zu beurteilen. Dies gilt gleichermaßen für HGB, IFRS oder US-GAAP. Bei HGB und US-GAAP ist der Wesentlichkeitsgrundsatz impliziter Teil der Rechnungslegungsgrundsätze. IAS 1.7 bzw. der Verweis auf IAS 1.7 in IAS 8.5 dagegen definiert den Begriff "wesentlich": "Informationen sind wesentlich, wenn unter normalen Umständen davon auszugehen ist, dass ihre unterlassene, falsche oder verschleierte Angabe die von den Hauptadressaten eines Abschlusses für allgemeine Zwecke, der Finanzinformationen zum berichtenden Unternehmen enthält, getroffenen Entscheidungen beeinflusst." Und nach IAS 8.41 steht ein Abschluss nicht im Einklang mit IFRS – ist also fehlerhaft –, wenn er entweder wesentliche Fehler oder aber absichtlich herbeigeführte unwesentliche Fehler enthält, um eine bestimmte Darstellung der Vermögens-, Finanz- oder Ertragslage oder der Cashflows des Unternehmens zu erreichen.
Tz. 74a
Stand: EL 53 – ET: 05/2024
Verstöße gegen Rechnungslegungsvorschriften können quantitativer wie qualitativer Natur sein. Quantitative Verstöße führen zu unrichtigen Darstellungen im Zahlenwerk eines Abschlusses und meist auch zu einem zu hohen oder zu niedrigen Jahresergebnis. Es kann sich aber auch um eine falsche Zuordnung im Abschluss oder in der Kapitalflussrechnung handeln. Qualitative Verstöße können ua. bestehen in falschen oder fehlenden Anhangangaben oder unvollständigen oder widersprüchlichen Aussagen im Lagebericht. Insbesondere hinsichtlich der quantitativen Verstöße ist in Wissenschaft und Praxis wiederholt versucht worden, die Wesentlichkeit durch Grenzwerte zu operationalisieren, zB > 5 % vom Jahresergebnis oder > 10 % des jeweiligen Bilanzpostens. Letztlich haben sich diese Versuche weder in der Praxis noch in der Rechtsprechung durchgesetzt. Es kommt daher stets auf den Einzelfall an. Allerdings können absolute oder relative Grenzwerte einen ersten Anhaltspunkt für eine fehlerhafte Rechnungslegung liefern. Als Kriterien für die Beurteilung eines Verstoßes kommen die Verhältnisse des Unternehmens (wie Branche, wirtschaftliche Lage, Liquidität) oder sachverhaltsbezogene Faktoren (wie Art des Geschäftsvorfalls, Transaktionen mit nahestehenden Personen) in Betracht. Die Wesentlichkeit kann sich auch aus der Bedeutung einer verletzten Rechtsnorm ergeben, was bspw. bei fehlenden Angaben zu Organbezügen der Fall sein könnte.
Tz. 74b
Stand: EL 53 – ET: 05/2024
Das OLG Frankfurt am Main hat seinerseits festgestellt (vgl. Beschl. v. 04.02.2019, WpÜG 3/16, WpÜG 4/16; zu den Leitsätzen vgl. Tz. 156), dass die für die Feststellung einer fehlerhaften Rechnungslegung erforderliche Wesentlichkeit sowohl quantitative als auch gleichzeitig qualitative Aspekte erfassen kann. In qualitativer Hinsicht musste in dem entschiedenen Fall nach richterlicher Auffassung die Wesentlichkeit verneint werden, da strittige Bilanzrechtsfragen derart kontrovers diskutiert wurden, dass eine entsprechende Fehlerfeststellung nicht angemessen gewesen wäre, da damit kein positiver Beitrag zur gesetzgeberisch angestrebten Verbesserung der Kapitalmarktintegrität hätte geleistet werden können.