Prof. Dr. Bettina Thormann, Prof. Dr. Marius Gros
Tz. 75
Stand: EL 53 – ET: 05/2024
Rechnungslegung ist keine exakte Wissenschaft. Viele Bilanzposten beruhen auf Annahmen oder Schätzungen über zukünftige Ereignisse und Entwicklungen, die zwangsläufig subjektive Wertungen enthalten. Folglich kann eine Bandbreite von Wertansätzen in Übereinstimmung mit den Rechnungslegungsvorschriften sein, was im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass es für Bandbreiten keine Grenzen gibt.
Tz. 76
Stand: EL 53 – ET: 05/2024
Die Beurteilung von Ermessensspielräumen ist somit eine komplexe Aufgabe im Rahmen eines Bilanzkontrollverfahrens. Der Enforcer sollte einen Sachverhalt erst dann aufgreifen, wenn die Unternehmen ihr Ermessen diesbezüglich missbräuchlich ausgeübt haben, indem sie die oben genannten Kriterien für eine "vernünftige kaufmännische Beurteilung" verletzt haben. Für das OLG Frankfurt am Main dürften die gleichen Überlegungen gelten. Gerade bei Bilanzierungsentscheidungen mit hohem Ermessenspielraum wird die BaFin aber im Rahmen des Bilanzkontrollverfahren prüfen, ob die Ermessensausübung des Managements bezüglich wesentlicher zukunftsbezogener Annahmen und Quellen von Schätzunsicherheiten im Konzernanhang gemäß IAS 1.125 iVm. IAS 1.129 transparent und verständlich dargestellt wurden.
Tz. 77
Stand: EL 53 – ET: 05/2024
Eine Ermessensentscheidung ist auch bei der Beurteilung erforderlich, ob ein Rechnungslegungsverstoß als so wesentlich einzustufen ist (im Einzelnen vgl. Tz. 73), dass der Abschluss insgesamt fehlerhaft ist. Diese Beurteilung müssen Abschlussprüfer, BaFin bzw. das OLG Frankfurt am Main jeweils für sich treffen. Nicht zwangsläufig müssen alle zum selben Ergebnis kommen (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 04.02.2019, WpÜG 3/16, WpÜG 4/16; zu den Leitsätzen vgl. Tz. 156).
Tz. 78
Stand: EL 53 – ET: 05/2024
Ermessensspielräume können sich schließlich auch aus fehlenden oder unklar formulierten Rechnungslegungsnormen ergeben, die dann oft auch zu einer unterschiedlichen Bilanzierung identischer Sachverhalte bei den Unternehmen führen ("diversity in practice"). Hier hat die BaFin regelmäßig keine Grundlage, eine vom Unternehmen gewählte Bilanzierung aufzugreifen, denn die Aufgabe der BaFin besteht in der Durchsetzung der korrekten Anwendung von Normen und nicht im "Standard-Setting". Soweit solche Tatbestände im Rahmen eines Enforcement-Verfahrens entdeckt werden und soweit eine unterschiedliche Handhabung auch im europäischen Umfeld identifiziert wird, wird das IFRS Interpretations Committee hiervon im Rahmen der FRWG-EECS-Sitzungen (vgl. Tz. 25) in Kenntnis gesetzt. Bedarf es einer Ermessensentscheidung des Managements bei der Wahl und Anwendung der Rechnungslegungsmethoden, besteht aber gemäß IAS 1.122 regelmäßig eine Pflicht zur Berichterstattung im Konzernanhang, worauf die BaFin im Rahmen von Prüfverfahren achten wird. Das OLG Frankfurt am Main hat entschieden, dass bei strittigen Bilanzrechtsfragen von der BaFin ein objektiver Fehlerbegriff zugrunde zu legen ist. Selbst wenn die Rechtsansicht des Unternehmens nachvollziehbar und vertretbar ist, ist dies im Enforcement-Verfahren nicht zu akzeptieren, wenn es nicht der objektiv richtigen Rechtslage entspricht. Ob ein Bilanzansatz mit dem Gesetz vereinbar ist oder nicht, wird im Streitfall verbindlich durch die Gerichte entschieden und obliegt nicht dem Ermessen des Rechtsanwenders (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 04.02.2019, WpÜG 3/16, WpÜG 4/16; derzeitige Diskussion in der Fachliteratur: Böcking/Gros/Wirth, DK 2019, S. 341ff.; Böcking/Gros/Wirth, DB 2019, S. 2644ff.; Feldmüller/Probst, WP-Handbuch 2023, Tz. 278–286; Haaker/Freiberg, PiR 2020, S. 55ff.; Lüdenbach/Freiberg, DB 2019, S. 2305ff.; Lüdenbach/Freiberg, DB 2019, S. 2647ff.; NJW-Spezial 2019, S. 305; Pöschke, WPg 2019, S. 872ff.; zu den Leitsätzen vgl. Tz. 156).