Leitsatz
Aussetzung der Vollziehung wegen verfassungsrechtlicher Zweifel an der Höhe des Aussetzungszinssatzes ist nur für Zinszeiträume ab dem 01.01.2019 und lediglich in Höhe der gesetzlichen Spreizung der Aussetzungszinsen und der Nachzahlungszinsen von 0,35 Prozent für jeden Monat zu gewähren.
Normenkette
§ 233a, § 237, § 238 AO, § 69 FGO
Sachverhalt
Der Antragsteller erzielte in den Jahren 2001 und 2002 aus der Veräußerung einer Unternehmensbeteiligung Einnahmen in sechsstelliger Höhe, über deren steuerrechtliche Einordnung zwischen den Beteiligten Streit bestand. Das Einspruchsverfahren betreffend die ESt-Festsetzung für 2001 wurde für die Dauer des gegen den ESt-Bescheid für 2002 unter dem Aktenzeichen 9 K 174/13 beim FG geführten Klageverfahren ausgesetzt. Auf Antrag des Antragstellers gewährte das FA von 2008 an AdV des ESt-Bescheids für 2002.
Am 27.2.2023 ist in dem Klageverfahren 9 K 174/13 wegen ESt 2002 ein Erörterungstermin durchgeführt worden. In diesem unterbreitete der Berichterstatter den Beteiligten zur einvernehmlichen Regelung beider Streitjahre einen Verständigungsvorschlag. Demgemäß verpflichtete sich das FA den ESt-Bescheid 2001 dergestalt zu ändern, dass nur noch Kapitaleinkünfte i. H. v. 17.144 DM steuerlich erfasst würden. Im Hinblick auf diese Verpflichtung nahm der Kläger die Klage in Sachen 9 K 174/13 zurück.
Neben dem entsprechend geänderten ESt-Bescheid für 2001 erließ das FA – unter Hinweis auf die vom Antragsteller im Erörterungstermin erklärte Klagerücknahme – einen Bescheid betreffend Aussetzungszinsen nach § 237 AO zur ESt 2002 und zum SolZ 2002 jeweils nach dem Zinssatz von einhalb % je vollem Monat für die Zeit von Januar 2008 bis zum 27.3.2023 über insgesamt 176.245,25 EUR.
Gegen den Zinsbescheid legte der Antragsteller Einspruch ein und begehrte AdV. Das FA lehnte den Antrag ab; über den Einspruch ist noch nicht entschieden. Den daraufhin gemäß § 69 FGO erhobenen Antrag auf gerichtliche AdV hat das FG (Niedersächsisches FG, Urteil vom 28.3.2024, 9 V 123/23, Haufe-Index XXXXXX) abgelehnt.
Entscheidung
Auf die Beschwerde des Antragstellers hat der BFH AdV hinsichtlich der für den Zeitraum vom 1.1.2019 bis 27.3.2023 (50 Monate) festgesetzten Aussetzungszinsen betreffend ESt 2002 und SolZ 2002 i. H. eines Differenzzinssatzes von 0,35 % je Monat gewährt. Im Übrigen hat er die Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen.
Hinweis
1. Nach § 128 Abs. 3 FGO i. V. m. § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 FGO ist die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige Härte zur Folge hätte.
2. Ernstliche Zweifel können auch verfassungsrechtliche Zweifel hinsichtlich einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm sein (ständige Rechtsprechung z. B. BFH, Beschluss vom 28.10.2022, VI B 15/22 (AdV), BFH/NV 2023, 47, m. w. N.).
3. Nach § 237 Abs. 1 Satz 1 AO ist, soweit ein Einspruch oder eine Anfechtungsklage gegen einen Steuerbescheid, eine Steueranmeldung oder einen Verwaltungsakt, der einen Steuervergütungsbescheid aufhebt oder ändert, oder gegen eine Einspruchsentscheidung über einen dieser Verwaltungsakte endgültig keinen Erfolg gehabt hat, der geschuldete Betrag, hinsichtlich dessen die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts ausgesetzt wurde, zu verzinsen. Für den Zinslauf bestimmt § 237 Abs. 2 AO, dass Zinsen vom Tag des Eingangs des außergerichtlichen Rechtsbehelfs bei der Behörde, deren Verwaltungsakt angefochten wird, oder vom Tag der Rechtshängigkeit beim Gericht an bis zum Tag, an dem die AdV endet, erhoben werden. Ist die Vollziehung erst nach dem Eingang des außergerichtlichen Rechtsbehelfs oder erst nach der Rechtshängigkeit ausgesetzt worden, so beginnt die Verzinsung mit dem Tag, an dem die Wirkung der AdV beginnt. Die Zinsen betragen für jeden Monat einhalb % (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO). Sie sind von dem Tag an, an dem der Zinslauf beginnt, nur für volle Monate zu zahlen; angefangene Monate bleiben außer Ansatz (§ 238 Abs. 1 Satz 2 AO).
4. Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor. Durch die Klagerücknahme in dem Verfahren 9 K 174/13 wegen ESt für 2002, dessen Bescheid von der Vollziehung ausgesetzt war, ist die hiergegen gerichtete Anfechtungsklage endgültig erfolglos geblieben. Die für 2002 geschuldete ESt nebst SolZ war daher zu verzinsen.
5. Gleichwohl ist die Vollziehung des angefochtenen Zinsbescheids – wenn auch nur – teilweise auszusetzen.
a) Dies ist dem Umstand geschuldet, dass der VIII. Senat des BFH dem BVerfG (BFH, Beschluss vom 8.5.2024, VIII R 9/23, BFH/NV 2024, 1207) die Frage zur Entscheidung vorgelegt hat, ob § 237 AO i. V. m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO seit dem 1.1.2019 bis zum 15.4.2021 insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als der Zinsberechnung für die Zinsen bei AdV ein Zinssatz von einhalb % pro Monat zugrunde gelegt wird.
b) Allerdings rechtfertigt dieser Beschluss die AdV des angefochte...