Leitsatz (amtlich)
Im Verfahren über einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung eines Bescheids, dessen Rechtmäßigkeit davon abhängt, ob der Steuerpflichtige eine Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei begangen hat, ist nach § 242 AO, § 69 FGO zu prüfen, ob ernstliche Zweifel daran bestehen, daß der Steuerpflichtige die Straftat begangen hat. § 203 StPO über die Eröffnung des Hauptverfahrens bei hinreichendem Tatverdacht ist weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar.
Normenkette
AO § 242 Abs. 2; FGO § 69; StPO § 203; AO § 144
Tatbestand
A.
Sachverhalt - Anrufungsbeschluß des VII. Senats
I. Der VII. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat durch Beschluß vom 26. Oktober 1977 VII R 103/76 dem Großen Senat des BFH gemäß § 11 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
Schließt bei Steuerbescheiden, die hinterzogene Beträge zum Gegenstand haben und für deren Rechtmäßigkeit es auf die Anwendung der Verjährungsfrist von zehn Jahren ankommt (§ 144 der Reichsabgabenordnung - AO -), bereits der hinreichende Verdacht einer Steuerhinterziehung bzw. einer Steuerhehlerei ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes im Sinne des § 69 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 FGO bzw. des § 242 Abs. 2 AO aus?
II. Dem Verfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Zollamtliche Ermittlungen kamen zu dem Ergebnis, daß der verstorbene Ehemann der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) unter Beteiligung der Klägerin in den Jahren 1963 bis 1966 36 000 I hochprozentigen Äthylalkohol, von dem er gewußt habe, daß er zuvor eingeschmuggelt worden sei, gekauft oder in seinen Betrieb aufgenommen habe. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Hauptzollamt - HZA -) sah die Klägerin als der Steuerhinterziehung bzw. der Steuerhehlerei überführt an und nahm sie mit 14 auf § 112 AO gestützten Haftungsbescheiden als Haftungsschuldnerin in Anspruch, wegen 17 000 I Alkohol daneben als weitere Zollschuldnerin gemäß § 57 Abs. 2 des Zollgesetzes (ZG).
Die Klägerin legte Einspruch ein und beantragte Aussetzung der Vollziehung der Bescheide. Diesen Antrag lehnte das HZA ab. Die Beschwerde hatte keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) hat die im Aussetzungsverfahren erhobene Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, § 112 AO setze voraus, daß der Klägerin eine Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei nachgewiesen werde. Dabei sei auch der Grundsatz "in dubio pro reo" zu beachten. Im Aussetzungsverfahren sei dieser Grundsatz allerdings nur in eingeschränktem Umfang anwendbar, da sonst in diesem Verfahren eine abschließende Entscheidung über das Vorliegen einer strafbaren Handlung getroffen werde. Die im Aussetzungsverfahren vorzunehmende Prüfung müsse sich darauf beschränken, ob der Steuerpflichtige "nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens ... einer Straftat hinreichend verdächtig erscheine", wie es § 203 der Strafprozeßordnung (StPO) formuliere. Diese Vorschrift sei im Aussetzungsverfahren entsprechend anwendbar. Den hinreichenden Tatverdacht hat das FG bejaht.
Mit der Revision rügt die Klägerin falsche Anwendung oder Auslegung materiellen Rechts. Sie wendet sich gegen die Auffassung des FG, der Grundsatz "in dubio pro reo" gelte im Aussetzungsverfahren nur eingeschränkt.
Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung sowie die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion (OFD) und die Verfügung des HZA aufzuheben und das HZA zu verpflichten, die Vollziehung der gegen sie ergangenen 14 Bescheide auszusetzen, hilfsweise, die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Das HZA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
III. Der VII. Senat des BFH beabsichtigt, der Revision wegen des gerügten Rechtsfehlers stattzugeben und die Sache nach Aufhebung der Vorentscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 FGO). Er hält es nicht für zulässig, § 203 StPO zur Grundlage einer Entscheidung zu machen, die im Aussetzungsverfahren nach § 242 AO zu treffen sei. Die beiden Vorschriften gingen von verschiedenen Tatbeständen aus. § 242 AO verlange das Vorliegen "ernstlicher Zweifel" an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes, in dem die Behörde den unter Berücksichtigung des Grundsatzes "in dubio pro reo" (BFH-Urteil vom 10. Oktober 1972 VII R 117/69, BFHE 107, 168, BStBl II 1973, 68) zu führenden Nachweis einer Steuerhinterziehung als erbracht ansehe. Nach § 203 StPO sei für die Eröffnung des Hauptverfahrens erforderlich, daß "hinreichender Tatverdacht" bestehe. Wäge man die abweichenden tatbestandlichen Voraussetzungen des § 242 AO und des § 203 StPO gegeneinander ab, dann sei es z. B. durchaus denkbar, daß zwar - wie im Streitfall - der zur Eröffnung des Hauptverfahrens hinreichende Tatverdacht bejaht werde, daß aber gleichwohl ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen, auf § 112 AO gestützten Verwaltungsaktes bestünden.
Falsch sei auch die Ansicht des FG über die nur eingeschränkte Anwendung des Grundsatzes "in dubio pro reo" im Aussetzungsverfahren. Werde bei der Prüfung der Frage, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit von auf Steuerstraftaten gestützten Haftungsbescheiden bestünden, festgestellt, daß glaubwürdige Zeugen voneinander abweichende Aussagen gemacht hätten oder daß Beweisurkunden mit unterschiedlichem Inhalt vorlägen, dann sei nicht erkennbar, warum dieser Grundsatz nicht zugunsten des Haftungspflichtigen angewandt werden solle.
Nach § 242 AO sei zu prüfen, ob aufgrund der vorliegenden Beweismittel damit zu rechnen sei, daß im Verfahren zur Hauptsache dem Steuerpflichtigen unter Beachtung des Grundsatzes "in dubio pro reo" eine Steuerhinterziehung oder eine Steuerhehlerei nachgewiesen werden könne. Dabei könne auch berücksichtigt werden, ob die Staatsanwaltschaft und das Strafgericht von der Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung ausgegangen seien.
Der VII. Senat sieht sich an der beabsichtigten Entscheidung gehindert durch den Beschluß des V. Senats vom 22. Januar 1976 V B 75-76/75 (BFHE 117, 526, BStBl II 1976, 250), in dem dieser die gleiche Auffassung vertritt wie im gegenwärtigen Rechtsstreit das FG. Auf Anfrage des VII. Senats hat der V. Senat mitgeteilt, daß sich die Frage der Abweichung nicht stelle. Er habe in dem Beschluß V B 75-76/75 den in § 203 StPO enthaltenen Rechtsgedanken als Beurteilungsmaßstab für die Frage der ernstlichen Zweifel entsprechend herangezogen, ohne diese Vorschrift selbst zur maßgeblichen Grundlage der Entscheidung zu machen. Bestehe die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung, auf die es nach § 203 StPO ankomme, dann bestünden auch keine Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Tat- und Rechtsfragen und damit keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes.
Der VII. Senat sieht in der Mitteilung des V. Senats keine Zustimmung zur Abweichung, die er nach wie vor für gegeben hält.
IV. Die Klägerin verneint die dem Großen Senat vorgelegte Rechtsfrage.
Das HZA sieht keine Abweichung zwischen der beabsichtigten Entscheidung des VII. Senats und dem Beschluß V B 75-76/75.
Der Bundesminister der Finanzen (BdF), der dem Verfahren gemäß § 122 Abs. 2 Satz 1 FGO beigetreten ist, bejaht die vorgelegte Rechtsfrage und führt zur Begründung aus, der hinreichende Tatverdacht im Sinne des § 203 StPO bestehe in der Wahrscheinlichkeit der späteren Verurteilung des Angeklagten. Bei dem zu fällenden Wahrscheinlichkeitsurteil gelte der Grundsatz "in dubio pro reo" nicht unmittelbar. Der hinreichende Tatverdacht sei in mittelbarer Anwendung dieses Grundsatzes zu verneinen, wenn der Angeklagte in der Hauptverhandlung wahrscheinlich nach diesem Grundsatz freigesprochen werde. Auf diese Wahrscheinlichkeit komme es auch bei der Prüfung an, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes bestehen (§ 242 AO).
Entscheidungsgründe
B.
Entscheidung des Großen Senats zu den Verfahrensfragen
I. In seiner Stammbesetzung (§ 11 Abs. 2 Satz 1 FGO; BFH-Beschluß vom 27. November 1978 GrS 8/77, BFHE 126, 533, BStBl II 1979, 213) hat der Große Senat entschieden, daß der VII. Senat, der V. Senat und der VIII. Senat je einen weiteren Richter zu den Sitzungen des Großen Senats in dieser Sache entsenden können (§ 11 Abs. 2 Satz 2 FGO). Der VII. Senat weicht mit der beabsichtigten Entscheidung nicht nur von dem Beschluß des V. Senats V B 75-76/75, sondern auch von dem nicht veröffentlichten Beschluß des VIII. Senats vom 11. Juli 1972 VIII B 23-24/71 ab. Der VIII. Senat hat dort entschieden, daß die Vollziehung von Steuerbescheiden über hinterzogene Steuern, für deren Rechtmäßigkeit es auf die Anwendung der Verjährungsfrist von zehn Jahren ankommt, auszusetzen ist, wenn die Hinterziehung nicht schon im Aussetzungsverfahren als erwiesen anzusehen ist. Der VII. Senat will in der beabsichtigten Entscheidung geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer Steuerhinterziehung stellen, wenn auch höhere als der V. Senat.
II. In der erweiterten Besetzung entscheidet der Große Senat auch über die Zulässigkeit der Anrufung. In dem Beschluß vom 8. Dezember 1975 GrS 1/75 (BFHE 117, 352, BStBl II 1976, 262) hat der Große Senat allerdings unter Berufung auf den früheren Beschluß vom 27. Mai 1968 GrS 1/68 (BFHE 92, 188, BStBl II 1968, 473) ausgeführt, die Zulässigkeit der Entsendung eines weiteren Richters nach § 11 Abs. 2 Satz 2 FGO hänge davon ab, daß die Anrufung nach § 11 Abs. 3 FGO zulässig sei. Ob diese Voraussetzung vorliege, entscheide der Große Senat in der Besetzung nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FGO. Die Besonderheit der beiden Fälle lag darin, daß zunächst offen war, ob sachlich über eine Anrufung des Großen Senats nach § 11 Abs. 3 FGO oder nach § 11 Abs. 4 FGO zu entscheiden war und in welcher Besetzung deshalb diese Entscheidung zu treffen war. Die Entscheidung über die Zulässigkeit der Anrufung nach § 11 Abs. 3 FGO war demnach lediglich eine Entscheidung über die Besetzung des Großen Senats. Im Streitfall ist die Anrufung des Großen Senats dagegen allein auf § 11 Abs. 3 FGO gestützt. Kein anderer Senat behauptet, es handle sich um eine Anrufung nach § 11 Abs. 4 FGO; eine andere Anrufung nach § 11 Abs. 4 FGO zur streitigen Rechtsfrage liegt nicht vor. Hier bedarf es daher keiner Vorentscheidung über die Besetzung des Großen Senats. Die Richter, die der VII., der V. und der VIII. Senat nach § 11 Abs. 2 Satz 2 FGO entsandt haben, sind auch zur Entscheidung über die Zulässigkeit der Anrufung berufen. Denn sie sind die gesetzlichen Richter (Art. 101 des Grundgesetzes - GG -) und diese haben im allgemeinen sowohl über die Zulässigkeit wie auch über die Begründetheit einer Klage, eines Rechtsmittels oder einer anderen Prozeßhandlung zu entscheiden.
III. Die Anrufung des Großen Senats durch den VII. Senat nach § 11 Abs. 3 FGO ist zulässig, weil die Entscheidung, die der VII. Senat zu fällen beabsichtigt, von dem Beschluß des V. Senats V B 75-76/75 und auch des VIII. Senats VIII B 23-24/71 abweicht und der angefragte V. Senat der Abweichung nicht zugestimmt hat. Der V. Senat hat zur Begründung seiner Entscheidung V B 75-76/75 ausgeführt, die im Aussetzungsverfahren nach § 69 Abs. 3 FGO vorzunehmende Bewertung unter strafrechtlichen Gesichtspunkten habe sich darauf zu beschränken, ob der Steuerpflichtige nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens einer strafbaren Handlung verdächtig erscheine (§ 203 StPO). Die "entsprechende Anwendung dieser strafprozessualen Grundsätze" ermögliche es, die im Aussetzungsverfahren nach § 69 Abs. 3 FGO vorzunehmende vorläufige Entscheidung - hier über das Vorliegen eines strafbaren Verhaltens - zu treffen. Der VII. Senat beabsichtigt dagegen, die Auffassung zu vertreten, daß über den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes "ausschließlich nach § 242 AO" zu entscheiden sei, weil diese Vorschrift einerseits und § 203 StPO andererseits von verschiedenen tatbestandlichen Voraussetzungen ausgingen. Er lehnt damit eine "entsprechende Anwendung" der in § 203 StPO verankerten Grundsätze ab. Im Aussetzungsverfahren müsse lediglich summarisch geprüft werden, ob im Verfahren zur Hauptsache dem Steuerpflichtigen unter Beachtung des Grundsatzes "in dubio pro reo" eine Steuerhinterziehung oder eine Steuerhehlerei werde nachgewiesen werden können.
Das Verfahren, das der Anfrage des VII. Senats zugrunde liegt, betrifft allerdings nicht - wie das Verfahren, das dem Beschluß des V. Senats V B 75-76/75 zugrunde lag - die Verjährungsfrist bei hinterzogenen Beträgen (§ 144 AO), sondern die Haftung für hinterzogene Beträge (§ 112 AO). Beiden Verfahren ist aber gemeinsam, daß es für die Rechtmäßigkeit des Bescheids darauf ankommt, ob der Steuerpflichtige eine Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei begangen hat. Die vorgelegte Rechtsfrage, ob bereits der hinreichende Tatverdacht (§ 203 StPO) zur Aussetzung der Vollziehung führt, stellt sich daher in beiden Fällen in gleicher Weise. Das genügt, um eine Abweichung im Sinne des § 11 Abs. 3 FGO anzunehmen (Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluß vom 6. Februar 1973 GmS-OGB 1/72, BFHE 109, 206).
Aus dem gleichen Grund ist es unbeachtlich, ob die Aussetzung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3, Abs. 2 Satz 2 FGO (Fall des V. Senats) oder nach § 242 Abs. 2 Satz 2 AO (Fall des VII. Senats) zu prüfen ist.
IV. Die Klägerin und das HZA haben mündliche Verhandlung beantragt. Der Große Senat kann trotzdem ohne mündliche Verhandlung entscheiden (Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs vom 8. Juli 1975 - BFH-EntlastG -). Da sich die Beteiligten zur vorgelegten Rechtsfrage hinreichend geäußert haben und nicht ersichtlich ist, wozu die Beteiligten in rechtlicher Hinsicht noch gehört werden müßten, erscheint eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich.
C.
Entscheidung des Großen Senats über die vorgelegte Rechtsfrage
Der Große Senat verneint die vorgelegte Rechtsfrage. Er vertritt die Auffassung, daß über die Aussetzung der Vollziehung von Bescheiden, für deren Rechtmäßigkeit es darauf ankommt, ob der Steuerpflichtige eine Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei begangen hat, nach § 242 AO oder § 69 FGO zu entscheiden ist, ohne daß dabei § 203 StPO unmittelbar oder entsprechend anwendbar ist.
I. 1. Nach § 242 Abs. 2 Satz 2 AO, § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO soll die Aussetzung der Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen. Ernstliche Zweifel sind nach der Rechtsprechung des BFH zu bejahen, wenn bei der summarischen Prüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes im Aussetzungsverfahren neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen bewirken (Beschlüsse vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182; vom 30. Juni 1967 III B 21/66, BFHE 89, 92, BStBl III 1967, 533). Danach hängt die Aussetzung der Vollziehung von einem Wahrscheinlichkeitsurteil ab, das in den angeführten Beschlüssen näher dahin bestimmt wird, daß vorläufiger Rechtsschutz durch Aussetzung der Vollziehung dann in Betracht kommt, wenn "ein nicht nur geringer Grad von Wahrscheinlichkeit" dafür spricht, daß der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig ist.
2. Um das Wahrscheinlichkeitsurteil nach § 242 Abs. 2 Satz 2 AO, § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO finden zu können, ist ein Rückgriff auf § 203 StPO weder zulässig noch erforderlich.
a) Hängt die Rechtmäßigkeit eines Steuerbescheides davon ab, ob der Steuerpflichtige eine Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei begangen hat, müssen zur Rechtmäßigkeit des Bescheids die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei vorliegen (BFH-Urteil vom 16. Januar 1973 VIII R 52/69, BFHE 108, 286, BStBl II 1973, 273). Ob diese Tatbestandsmerkmale vorliegen, ist nicht nach den Vorschriften der Strafprozeßordnung, sondern nach den Vorschriften der Reichsabgabenordnung und der Finanzgerichtsordnung zu prüfen. Denn es handelt sich lediglich um eine strafrechtliche Vorfrage im Rahmen einer Entscheidung über die Rechtmäßigkeit eines Steuerbescheides. Der Große Senat kann daher der Auffassung des V. Senats in dem Beschluß V B 75-76/75, die Steuerbehörden und das FG müßten bei ihrer Entscheidung "die Grundsätze des Strafverfahrensrechts" beachten, nicht folgen.
b) Unanwendbar ist daher auch § 203 StPO über die Anordnung des Hauptverfahrens bei hinreichendem Tatverdacht. Diese Vorschrift kann im Aussetzungsverfahren auch deshalb nicht entsprechend angewandt werden, weil § 242 Abs. 2 Satz 2 AO, § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO einerseits und § 203 StPO andererseits verschiedene Interessenlagen regeln. Im einen Fall geht es um die Frage, ob ein Steuerbescheid vor der abschließenden Prüfung seiner Rechtmäßigkeit vollzogen werden darf, im anderen Fall geht es um die Frage, ob ein Hauptverfahren in Gang gesetzt werden soll, das mit einer Verurteilung des Täters enden kann. Es bedarf keiner näheren Begründung, daß hier jeweils rechtliche Interessen verschiedener Art und Stärke auf dem Spiele stehen.
§ 203 StPO verlangt allerdings mit dem Merkmal "einer strafbaren Handlung hinreichend verdächtigt" ebenfalls ein Wahrscheinlichkeitsurteil (Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 18. Juni 1970 III ZR 95/68, Juristenzeitung 1970 S. 729 - JZ 1970, 729 -). Wegen der unterschiedlichen Interessenlage, die den § 242 Abs. 2 Satz 2 AO, § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO einerseits und § 203 StPO andererseits zugrunde liegt, ist aber nicht auszuschließen, daß das Wahrscheinlichkeitsurteil nach den Vorschriften der Reichsabgabenordnung und der Finanzgerichtsordnung allgemein oder im Einzelfall anders ausfällt als nach den Vorschriften der Strafprozeßordnung. Daher ist es nicht zulässig, zur Prüfung der ernstlichen Zweifel nach den Vorschriften der Reichsabgabenordnung und der Finanzgerichtsordnung auf § 203 StPO zurückzugreifen, abgesehen davon, daß es nicht sinnvoll erscheint, zur Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs (ernstliche Zweifel) einen anderen unbestimmten Rechtsbegriff (hinreichender Tatverdacht) heranzuziehen. Im übrigen ließe auch das Wahrscheinlichkeitsurteil des § 203 StPO nicht zu, den Grundsatz "in dubio pro reo" anzuwenden, wie der VII. Senat meint (vgl. Kleinknecht, Strafprozeßordnung, 34. Aufl., § 203 Anm. 2).
II. Nach der Rechtsprechung des BFH ist allerdings der Grundsatz des Strafverfahrensrechts "in dubio pro reo" auch im Verfahren vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit zu beachten, wenn zu prüfen ist, ob der Steuerpflichtige eine Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei begangen hat (Urteil vom 10. Oktober 1972 VII R 117/69, BFHE 107, 168, BStBl II 1973, 68).
1. Der Große Senat sieht mit dieser Auffassung lediglich zum Ausdruck gebracht, daß immer dann, wenn zum Tatbestand einer steuerrechtlichen Norm die Begehung einer strafbaren Handlung gehört, die Finanzbehörde die objektive Beweislast (Feststellungslast; BFH-Urteile vom 24. Juni 1976 IV R 101/75, BFHE 119, 164, BStBl II 1976, 562; vom 5. November 1970 V R 71/67, BFHE 101, 156, BStBl II 1971, 220; vom 20. Januar 1978 VI R 193/74, BFHE 124, 508, BStBl II 1978, 338) für das Vorliegen aller Tatbestandsmerkmale der strafbaren Handlung trägt. Dies bedeutet aber keine Übernahme von Grundsätzen des Strafverfahrensrechts, sondern läßt sich auch daraus ableiten, daß im finanzgerichtlichen Verfahren die objektive Beweislast (Feststellungslast) für die Tatsachen, die den Steueranspruch begründen, beim Steuergläubiger liegt (BFH-Urteile IV R 101/75, V R 71/67). Daher ist für die Feststellung der Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei, die nach § 76 Abs. 1 Sätze 1 und 5 FGO von Amts wegen zu treffen ist, kein höherer Grad von Gewißheit erforderlich als für die Feststellung anderer Tatsachen, für die das Finanzamt (FA) die objektive Beweislast (Feststellungslast) trägt.
2. Diese Verteilung der objektiven Beweislast (Feststellungslast) gilt auch im Verfahren über einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung eines angefochtenen Bescheids (§ 242 AO, § 69 FGO). Sie hat hier aber nur mittelbare Bedeutung, weil im Aussetzungsverfahren zum Vorliegen einer Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei noch keine abschließende Feststellung zu treffen, sondern nur ein Wahrscheinlichkeitsurteil abzugeben ist. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids (§ 242 AO, § 69 FGO) bestehen, wenn nach dem vorliegenden Streitstoff, einschließlich präsenter Beweismittel, ernstlich zweifelhaft ist, ob sich im Hauptverfahren vor dem FG die Feststellung der Tatbestandsmerkmale der strafbaren Handlung werde treffen lassen. Wiederum ist kein höherer Grad von Wahrscheinlichkeit erforderlich als für das Vorliegen anderer Tatsachen, für die die Finanzbehörde die objektive Beweislast (Feststellungslast) trägt.
III. Der Große Senat entscheidet somit die vorgelegte Rechtsfrage wie folgt:
Im Verfahren über einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung eines Bescheids, dessen Rechtmäßigkeit davon abhängt, ob der Steuerpflichtige eine Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei begangen hat, ist nach § 242 AO, § 69 FGO zu prüfen, ob ernstliche Zweifel daran bestehen, daß der Steuerpflichtige die Straftat begangen hat. § 203 StPO über die Eröffnung des Hauptverfahrens bei hinreichendem Tatverdacht ist weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar.
Fundstellen
Haufe-Index 72915 |
BStBl II 1979, 570 |
BFHE 127, 140 |
BFHE 1979, 140 |