Entscheidungsstichwort (Thema)
Abgabe von übereinstimmenden Erledigungserklärungen vor Entscheidung über einen Wiedereinsetzungsantrag
Leitsatz (NV)
1. Im Rechtsmittelverfahren kann der Rechtsstreit in der Hauptsache nur dann wirksam für erledigt erklärt werden, wenn die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Rechtsmittels im Zeitpunkt der Abgabe der Erledigungserklärungen vorliegen. Dies ist der Fall, wenn nach Eingang der Erledigungserklärungen - eine verfahrensrechtlich zurückwirkende - Wiedereinsetzung in eine versäumte Rechtsmittelfrist gewährt wird.
2. Die Entscheidung, dass Wiedereinsetzung zu gewähren und das Rechtsmittel als zulässig zu behandeln ist, trifft grundsätzlich der Vollsenat. Sind bereits übereinstimmende Erledigungserklärungen abgegeben worden, dann entscheidet ausnahmsweise der Senat in der Beschlussbesetzung mit drei Richtern.
3. Die Regelung, wonach die Wiedereinsetzungskosten der Antragsteller zu tragen hat (§ 136 Abs. 3 FGO), gilt auch im Rahmen der nach § 138 Abs. 2 Satz 1 FGO zu treffenden Kostenentscheidung.
Normenkette
FGO § 10 Abs. 3, § 56 Abs. 4, § 90 Abs. 1 S. 2, § 120 Abs. 2 S. 1 Hs. 2, § 126 Abs. 1, § 136 Abs. 3, § 138 Abs. 1, 2 S. 1; ZPO § 85 Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind die ehemaligen Gesellschafter einer vollbeendeten Sozietät. Da die Vollbeendigung während des Rechtsstreits eingetreten ist, war das Rubrum entsprechend zu berichtigen.
Im Revisionsverfahren betreffend die gesonderte Feststellung der Einkünfte 1999, in dem nur noch die Anwendung des § 4 Abs. 4a des Einkommensteuergesetzes (EStG) streitig war, versäumten die Kläger die einmonatige Frist zur Begründung der Revision und beantragten daher Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit folgender Begründung: Der zuverlässigen Büroangestellten ihres Prozessbevollmächtigten sei am 23. November 2005 ein einmaliges Versehen bei der Bearbeitung der Tagespost, unter der sich auch der Briefumschlag mit dem Revisionszulassungsbeschluss des Bundesfinanzhofs (BFH) befunden habe, unterlaufen. Die Angestellte habe die Post entgegen genommen und, wie üblich, auf dem Seitenflügel ihres Schreibtisches zur weiteren Bearbeitung --Öffnung der Umschläge, Aufbringen des Eingangsstempels, Eintragung in das Posteingangsbuch, Einordnung der Post in das Fach des jeweiligen Berufsträgers-- abgelegt. Dort müsse der Umschlag mit der BFH-Post in eine nicht einsehbare, kleine Lücke zwischen Schreibtisch, Wand und Heizkörper gerutscht sein. Der Brief sei erst wieder aufgefunden worden, nachdem die Büroangestellte mehrere Leitzordner Buchhaltungsunterlagen eines Mandanten nach Fertigstellung des Jahresabschlusses aus dem Bereich zwischen Wand und Schreibtisch weggeräumt habe. Zur Glaubhaftmachung ihres Vorbringens legten die Kläger eine eidesstattliche Versicherung der Büroangestellten vor.
Zur Sache selbst machten sie geltend, dass das Finanzgericht (FG) § 4 Abs. 4a EStG unrichtig angewandt und die Höhe der nicht abzugsfähigen Schuldzinsen daher zu hoch angesetzt habe.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) sah den Wiedereinsetzungsantrag als begründet und die Revision somit als zulässig, jedoch in der Sache als unbegründet an.
Nachdem das BFH-Urteil vom 21. September 2005 X R 47/03 (BFHE 211, 227, BStBl II 2006, 504) zur Auslegung des § 4 Abs. 4a EStG ergangen war, erließ das FA geänderte Gewinnfeststellungsbescheide und verminderte den Betrag der nicht abziehbaren Schuldzinsen entsprechend dem Begehren der Kläger. Die Beteiligten erklärten daraufhin übereinstimmend den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt.
Entscheidungsgründe
II. Aufgrund der übereinstimmenden Erklärungen der Beteiligten ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt. Das Urteil des FG ist damit, soweit es das Verfahren wegen Gewinnfeststellung 1999 betrifft, einschließlich der darin enthaltenen Kostenentscheidung, gegenstandslos geworden. Gemäß § 143 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hat der BFH durch Beschluss nur noch über die Kosten zu entscheiden.
1. Der Rechtsstreit ist wirksam für erledigt erklärt worden.
Im Rechtsmittelverfahren kann der Rechtsstreit in der Hauptsache nur dann wirksam für erledigt erklärt werden, wenn die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Rechtsmittels im Zeitpunkt der Abgabe der Erledigungserklärungen vorliegen (ständige Rechtsprechung, BFH-Beschlüsse vom 16. März 1989 VII R 82/88, BFHE 156, 79, BStBl II 1989, 569; vom 23. November 2000 VI R 87/00, BFH/NV 2001, 620, m.w.N.). Zwar haben die Kläger ihre Revision nicht innerhalb der mit Zustellung des Revisionszulassungsbeschlusses ausgelösten Monatsfrist des § 120 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 FGO begründet. Doch ist antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, die verfahrensrechtlich zurückwirkt (vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 10. Januar 1995 X ZB 11/92, BGHZ 128, 280; Kuczynski in Beermann/Gosch, FGO § 56 Rz 36.1; Gehrlein in Münchener Kommentar ZPO, 3. Aufl., § 233 Rz 4; Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, Zivilprozessordnung, 67. Aufl., § 233 Rz 3). Die Rechtsfolge der Rückwirkung besteht darin, dass die Erledigungserklärungen in einem zulässigen Rechtsmittelverfahren abgegeben wurden.
a) Über den Wiedereinsetzungsantrag hat der BFH als Hauptsachegericht gemäß § 56 Abs. 4 FGO zu entscheiden. Diese Entscheidung konnte im Streitfall in der Beschlussbesetzung mit drei Richtern getroffen werden.
aa) Aus § 56 Abs. 4 FGO ist zu schließen, dass das Gericht in der Besetzung entscheiden muss, in der es über die versäumte Rechtshandlung zu befinden hat, vorliegend also über die Revisionsbegründung, über deren Rechtzeitigkeit im Rahmen der Entscheidung über die Revision zu befinden wäre (BFH-Urteil vom 26. Februar 1969 I K 1/68, BFHE 95, 86, BStBl II 1969, 320; Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 56 FGO Rz 29; Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 56 FGO Rz 584, 586).
Liegen die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung nicht vor und ist die Revision deshalb unzulässig, hat somit der BFH in der Besetzung durch drei Richter zu entscheiden (§ 126 Abs. 1 i.V.m. § 10 Abs. 3, § 90 Abs. 1 Satz 2 FGO). Dies bedeutet jedoch nicht, dass der BFH im umgekehrten Fall in der Beschlussbesetzung durch Gewährung der Wiedereinsetzung die verbindliche Entscheidung über die Zulässigkeit des Rechtmittels herbeiführen kann (vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH vom 10. März 1969 GrS 4/68, BFHE 95, 366, BStBl II 1969, 435). Die Entscheidung, dass Wiedereinsetzung zu gewähren und das Rechtsmittel als zulässig zu behandeln ist, trifft grundsätzlich der Vollsenat, weil ihm die Sachentscheidung über die Revision obliegt. Damit hängt die Frage, in welcher Besetzung das Gericht über den Wiedereinsetzungsantrag als einer Zwischenentscheidung zu befinden hat, davon ab, welcher Spruchkörper die Endentscheidung über das Rechtsmittel zu treffen hat.
bb) Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall war in der Dreierbesetzung über den Wiedereinsetzungsantrag zu entscheiden. Denn es stehen ausschließlich potenzielle Endentscheidungen an, die durch Beschluss in der Besetzung mit drei Richtern zu treffen sind.
Ist der Wiedereinsetzungsantrag abschlägig zu bescheiden, dann ist die Revision vom BFH in der Beschlussbesetzung als unzulässig zu verwerfen (§ 126 Abs. 1 FGO).
Ist die Wiedereinsetzung mit der Rechtsfolge der Zulässigkeit der Revision dagegen zu gewähren, dann entfalten die Erledigungserklärungen ihre Wirksamkeit. Es steht gemäß § 138 FGO lediglich noch eine Kostenentscheidung an, die ebenfalls durch Beschluss in Dreierbesetzung zu treffen ist (§ 138 Abs. 1 Halbsatz 1, § 90 Abs. 1 Satz 2, § 10 Abs. 3 FGO).
b) Die Kläger waren ohne Verschulden an der Einhaltung der Revisionsbegründungsfrist verhindert (§ 56 Abs. 1 FGO).
Nur eigenes Verschulden des Prozessbevollmächtigten, nicht aber Verschulden des ordnungsgemäß ausgewählten, instruierten und überwachten Büropersonals werden dem Verfahrensbeteiligten gemäß § 155 FGO i.V.m. § 85 Abs. 2 der Zivilprozessordnung zugerechnet (vgl. BFH-Urteil vom 11. Januar 1983 VII R 92/80, BFHE 137, 399, BStBl II 1983, 334; BFH-Beschlüsse vom 18. Februar 2000 I B 136/99, BFH/NV 2000, 1108; vom 5. April 2005 I B 146/04, BFH/NV 2005, 1352). Ein solches Vertreterverschulden, namentlich eine Verletzung von Organisations-, Auswahl- und Überwachungspflichten, liegt nach den substantiierten und glaubhaft gemachten Darlegungen im Wiedereinsetzungsantrag jedoch nicht vor. Dass ein Briefumschlag beim Zusammentragen und Sortieren der Eingangspost in eine nicht sofort einsehbare Spalte zwischen Schreibtisch und Wand rutscht, gehört zu den Umständen, die nie mit hundertprozentiger Sicherheit zu vermeiden sind. Schuldhaftes Verhalten der Prozessbevollmächtigten, insbesondere eine unzulängliche Büroorganisation, ist darin nicht zu erblicken.
2. Die nach Erledigung der Hauptsache zu treffende Kostenentscheidung richtet sich nach § 138 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 1 FGO sowie nach § 136 Abs. 3 FGO. Da die Kläger ihr ursprüngliches Klagebegehren betreffend Gewinnfeststellung 1999 im Revisionsverfahren auf den Streitpunkt Schuldzinsenabzug beschränkt haben, ist der hiermit eingetretenen Streitwertänderung dadurch Rechnung zu tragen, dass über die Kosten des Revisions- und Klageverfahrens jeweils getrennt zu entscheiden ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 21. April 1989 IV R 40/88, BFH/NV 1990, 182; vom 23. November 1994 II B 157/92, BFH/NV 1995, 332).
a) Die Kosten des Revisionsverfahrens --mit Ausnahme der durch den erfolgreichen Wiedereinsetzungsantrag der Kläger ausgelösten Kosten-- trägt das FA gemäß § 138 Abs. 2 Satz 1 FGO. Da der Rechtsstreit dadurch erledigt worden ist, dass das FA dem in der Revisionsinstanz gestellten Antrag der Kläger, die nicht abzugsfähigen Schuldzinsen in geringerer Höhe anzusetzen, durch Änderung des angefochtenen Gewinnfeststellungsbescheides stattgegeben hat, sind dem FA die Kosten des Revisionsverfahrens einschließlich des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens aufzuerlegen.
b) Dies gilt jedoch nicht für die Kosten, die durch den Antrag der Kläger auf Wiedereinsetzung in die versäumte Revisionsbegründungsfrist entstanden sind (§ 136 Abs. 3 FGO). Diese Vorschrift beansprucht auch im Rahmen der nach § 138 Abs. 2 Satz 1 FGO zu treffenden Kostenentscheidung Geltung. Die Vorschrift des § 138 FGO geht in ihren beiden ersten Absätzen vom mutmaßlichen Ausgang des Verfahrens aus. Der Vorschrift des § 138 Abs. 2 Satz 1 FGO liegt die Annahme zugrunde, dass bei Abhilfe durch die Behörde diese im Klageverfahren mit der Kostenfolge aus § 135 Abs. 1 FGO vermutlich unterlegen wäre. Selbst dann hätten die Kläger jedoch die durch ihren Wiedereinsetzungsantrag ausgelösten Kosten zu tragen (§ 136 Abs. 3 FGO). Daher sind ihnen diese Kosten auch im Abhilfefall des § 138 Abs. 2 Satz 1 FGO aufzubürden.
c) Die Kosten des Klageverfahrens sind verhältnismäßig zu teilen. Soweit das FA im Streitpunkt Schuldzinsenabzug dem Klagebegehren abgeholfen hat, trägt es die Kosten gemäß § 138 Abs. 2 Satz 1 FGO. In Bezug auf die übrigen Streitpunkte des erstinstanzlichen Verfahrens trifft die Kläger die Kostenpflicht nach § 138 Abs. 1 FGO. Denn es entspricht regelmäßig dem billigen Ermessen, wenn die Kläger als Steuerpflichtige in Höhe des von der Abhilfe nicht erfassten Teils des Klageanspruchs die Kosten tragen (BFH-Beschlüsse vom 13. August 1986 V R 112/80, BFH/NV 1987, 54; in BFH/NV 1995, 332; Gräber/ Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 138 Rz 34 a.E.).
Da sie im Klageverfahren die Aufhebung der nach Durchführung der Außenprüfung ergangenen Änderungsbescheide vom 30. April 2001 und damit der Sache nach den betragsmäßigen Ansatz des laufenden Gewinns wie in den ursprünglichen Bescheiden begehrten, errechnet sich die Kostenquote nach dem Verhältnis der erstrebten Gewinnminderungen zu der tatsächlich erreichten Gewinnminderung. Hieraus ergibt sich für das Klageverfahren eine Obsiegensquote der Kläger von 13 %.
Fundstellen