Entscheidungsstichwort (Thema)
NZB: Übergehen eines in den Behördenakten befindlichen Schreibens
Leitsatz (NV)
1. Lehnt die Behörde den Antrag auf AdV eines Haftungsbescheides ab, weil kein Einspruch eingelegt worden sei, begeht das FG einen Verfahrensfehler, wenn es die Mitteilung der Ablehnung übergeht, ohne zu prüfen, ob der Antrag auf AdV zugleich als Einlegung des Einspruchs gegen den Haftungsbescheid hätte gewertet werden können.
2. In einem solchen Fall ist es sachgerecht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das FG zurück zu verweisen.
Normenkette
AO 1977 § 191; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 116 Abs. 6
Verfahrensgang
FG Düsseldorf (Urteil vom 25.03.2003; Aktenzeichen 3 K 2887/00 H(U)) |
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wurde mit Haftungsbescheid vom 13. August 1996 für rückständige Steuern und Nebenleistungen einer GmbH in Anspruch genommen. Den Haftungsbescheid stellte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) trotz vorliegender Zustellungsvollmacht nicht an die Bevollmächtigte des Klägers, sondern an ihn persönlich zu. Nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) ist der Haftungsbescheid der Bevollmächtigten mit einem Fax des Klägers spätestens am 27. August 1996 zugegangen.
Der Kläger hat behauptet, persönlich im Beisein einer Zeugin (W) am 23. August 1996 ein Einspruchsschreiben bei dem FA eingeworfen zu haben. Dieses Einspruchsschreiben befindet sich nicht in den FA-Akten. Mit Datum vom 16. September 1996 --eingegangen beim FA am 25. September 1996-- richtete die Steuerberaterin des Klägers ein Schreiben an das FA, in dem sie u.a. Vollstreckungsschutz "aus dem Haftungsbescheid meinem Mandanten (dem Kläger) gegenüber" und Aussetzung der Vollziehung beantragte, im Übrigen Einwendungen gegen die Höhe der angesetzten Körperschaftsteuer- und Umsatzsteuerschulden der GmbH vorgetragen hat und weiter beantragte, die verbleibende Schuld gemäß den Geschäftsanteilen auf die Gesellschafter zu verteilen und wegen des für den Kläger verbleibenden Betrages Ratenzahlungen zuzulassen sowie die angeforderten Zuschläge zu erlassen.
Nach erfolglosem Einspruch hat das FG die Klage abgewiesen. Zur Frage des Einwurfs des vom Kläger bezeichneten Einspruchsschreibens vom 23. August 1996 in den Briefkasten des FA hat das FG den Kläger selbst, die Begleitperson W, die Steuerberaterin B und den Unternehmensberater S als Zeugen vernommen. Die Aussagen der Zeugen zur Einlegung des Einspruches am 23. August 1996 hielt das FG für widersprüchlich und schloss aus dem Inhalt des Schreibens der Steuerberaterin vom 16. September 1996, dass es sich nicht um einen Einspruch in der Haftungssache, sondern um einen Aussetzungsantrag hinsichtlich der (Körperschaft-)Steuerbescheide der GmbH gehandelt habe und dass lediglich über die Herabsetzung der Steuer bei der GmbH eine Verminderung der Haftungssumme erzielt werden sollte. Das FG kam zu dem Ergebnis, dass ein Einspruch gegen den Haftungsbescheid vom 13. August 1996 für den Kläger nicht eingelegt worden sei.
Mit der gegen dieses Urteil erhobenen Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger das Vorliegen eines Verfahrensfehlers i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO), weil das Gericht u.a. seiner Entscheidung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde gelegt habe.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist begründet. Die Vorentscheidung leidet unter einem Verfahrensmangel. Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO i.V.m. § 116 Abs. 6 FGO).
Nach dem detaillierten und begründeten Vortrag des Klägers hat das FG mit der angefochtenen Entscheidung gegen den klaren Inhalt der Akten verstoßen, weil es das behördliche Schreiben vom 4. Oktober 1996, von dessen Übersendung das FA ausgeht und dessen Kenntnis sowohl der Kläger, als auch die damalige Bevollmächtigte Frau B nach der Sitzungsniederschrift in der mündlichen Verhandlung bestätigt haben, in seiner Entscheidung weder im Tatbestand, noch in den Entscheidungsgründen berücksichtigt hat.
Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO ist das FG verpflichtet, den Inhalt der ihm vorliegenden Akten vollständig und einwandfrei zu berücksichtigen (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 4. Februar 2003 VI B 70/02, BFH/NV 2003, 798, und vom 2. September 1987 II B 86/87, BFH/NV 1988, 785, m.w.N.). Ausweislich der Akten hat das FA in dem an die Steuerbevollmächtigte des Klägers gerichteten Schreiben, das es am 4. Oktober 1996 zur Post gegeben hat, "den Antrag des Klägers vom 25. September 1996 auf Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheides vom 13. August 1996" abgelehnt, da es der Meinung war, dass gegen den genannten Haftungsbescheid kein Einspruch eingelegt worden sei. Über eine Änderung des Haftungsbescheides wollte das FA nach Prüfung der eingereichten Steuererklärungen und dem Erlass der (Körperschaft-)Steuerbescheide für die GmbH für 1994 und 1995 entscheiden. Das FG hat diese Tatsache, die zudem unstreitig war --streitig war lediglich der Zeitpunkt des Zuganges des Schreibens vom 4. Oktober 1996 bei der Bevollmächtigten des Klägers-- nicht zur Kenntnis genommen. Vielmehr hat das FG festgestellt, der Kläger habe mit dem Aussetzungsantrag auf der ersten Seite seines Schreibens vom 16. September 1996 die Aussetzung der Vollziehung bis zur Bekanntgabe der Steuerbescheide für die GmbH, nicht aber für den Haftungsbescheid beantragt. Dabei hat das FG auch die aus dem Schreiben des FA vom 4. Oktober 1996 ersichtliche Tatsache übergangen, dass die Steuerbescheide betreffend die Körperschaftsteuer der GmbH für 1994 und 1995, deren Aussetzung der Kläger angeblich beantragt haben soll, bei Fertigung des Schreibens der Steuerberaterin vom 16. September 1996 noch gar nicht ergangen waren.
Auf der Grundlage der vom FG vertretenen Auffassung, der Kläger habe wegen der (abgegebenen) Körperschaftsteuererklärungen für die GmbH für 1994 und 1995 mit dem Schreiben vom 16. September 1996 einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der Steuerbescheide für die GmbH, nicht aber für den Haftungsbescheid stellen wollen, kommt dem genannten Verfahrensfehler auch Entscheidungserheblichkeit zu. Das angefochtene Urteil des FG kann auch hierauf beruhen, weil das FG bei Zugrundelegung des zutreffenden Sachverhaltes --nämlich dass das FA über einen Antrag des Klägers auf Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheides vom 13. August 1996 entschieden hat--, möglicherweise das Schreiben der Bevollmächtigten des Klägers vom 16. September 1996 nicht nur als Antrag auf Aussetzung der Vollziehung, sondern auch als Einspruch gegen den Haftungsbescheid gewürdigt hätte. Auch die damalige Bevollmächtigte des Klägers hat bei ihrer Zeugeneinvernahme in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass sie in der Regel die Einlegung des Einspruchs mit dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung verbinde.
Der Senat hält es für sachgerecht, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. Für die erneute Verhandlung und Entscheidung wird hinsichtlich der Auslegung des klägerischen Begehrens in dem Schreiben vom 16. September 1996, für die sich das FG allein auf eine nicht genau bezeichnete Fundstelle in der Literatur stützt, auf folgende Rechtsprechung des BFH hingewiesen: Zur Frage der Auslegung eines Rechtsbehelfs ist auch bei Erklärungen rechtskundiger Personen davon auszugehen, dass der Steuerpflichtige denjenigen Rechtsbehelf einlegen wollte, der seinem materiell-rechtlichen Begehren am ehesten zum Erfolg verhilft (vgl. BFH-Beschlüsse vom 1. Juli 2003 IX B 208/02, BFH/NV 2003, 1534; vom 5. Mai 2003 II B 1/03, BFH/NV 2003, 1142, m.w.N.; BFH-Urteile vom 31. Oktober 2000 VIII R 47/98, BFH/NV 2001, 598, und vom 6. November 2002 XI R 85/00, BFH/NV 2003, 585, jeweils m.w.N.).
Einer weiteren Begründung bedarf der Beschluss nicht (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 1247649 |
BFH/NV 2005, 62 |