Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Büroversehen des FA
Leitsatz (NV)
Wird der Wiedereinsetzungsantrag des FA auf ein Büroversehen gestützt, ist zur Begründung vorzutragen und glaubhaft zu machen, daß das mit dem Vorgang befaßte Personal sorgfältig ausgewählt, umfassend ausgebildet und in geeigneter Weise überwacht worden ist. Jedenfalls bei einer starken Überlastung des Personals muß die ordnungsgemäße Behandlung von Fristsachen durch Überwachungsmaßnahmen gewährleistet sein.
Normenkette
FGO § 56
Tatbestand
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1990, 211 veröffentlichten Gründen statt.
Auf die Beschwerde des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt - FA -) hat der Senat mit Beschluß vom 1. Juli 1991 III B 213/90 die Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr.1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zugelassen. Der Beschluß wurde dem FA am 16. Juli 1991 zugestellt.
Mit Schriftsatz vom 22.Oktober 1991, beim FG eingegangen am 24. Oktober 1991, hat das FA Revision eingelegt und gleichzeitig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsfrist beantragt.
Zur Begründung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand führt das FA aus, aufgrund eines Büroversehens habe der Vorsteher erst am 10. Oktober 1991 Kenntnis vom Eingang des Zulassungsbeschlusses vom 1. Juli 1991 erhalten. Das FA sei ohne Verschulden gehindert gewesen, fristgerecht Revision einzulegen.
Die Behandlung der mit Postzustellungsurkunde zugestellten Sendungen sei beim FA wie folgt geregelt: Die Sendungen würden von der Posteingangsstelle entgegegenommen und ungeöffnet dem Lohnsteuerbezirk Z zugeleitet. Diesem Bezirk sei die Sichtung aller Postzustellungssachen übertragen, weil dort zentral sämtliche Pfändungs- und Überweisungsbeschlüsse bearbeitet würden. Die Pfändungs- und Überweisungsbeschlüsse würden dem FA ebenfalls förmlich zugestellt und gingen vor allem im Januar eines jeden Jahres in hoher Zahl zu. Da vielfach unmittelbar nach Eingang eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses eine Auszahlungssperre veranlaßt werden müsse, sei eine umgehende Sichtung aller Pfändungs- und Überweisungsbeschlüsse durch den zuständigen Lohnsteuerbezirk unabdingbar. Alle anderen zugestellten Schriftstücke würden sofort vom Lohnsteuerbezirk Z an die Posteingangsstelle zurückgeleitet. Diese sei nach § 12 Abs. 14 der Geschäftsordnung für die Finanzämter (FAGO) vom 2. Dezember 1985 (BStBl I 1985, 685) angewiesen, die Posteingänge zunächst dem Vorsteher vorzulegen, der sie über die jeweiligen Sachgebietsleiter dem zuständigen Sachgebiet zuleite.
Die Ermittlungen über den Weg und den Verbleib des Zulassungsbeschlusses hätten ergeben, daß die Sendung am 16. Juli 1991 von der in der Posteingangsstelle eingesetzten Verwaltungsangestellten A entgegengenommen und quittiert worden sei. Unmittelbar danach habe diese die Sendung ungeöffnet dem Lohnsteuerbezirk Z zugeleitet, wo sie von der Verwaltungsangestellten B entgegengenommen worden sei, die den Brief geöffnet und das Anschreiben des Bundesfinanzhofs (BFH) zu dem Beschluß mit einem handschriftlichen Eingangsvermerk sowie mit ihrem Namenszeichen versehen habe.
Entgegen den Bestimmungen der FAGO habe die Verwaltungsangestellte B den Zulassungsbeschluß sodann unmittelbar dem für die Veranlagung des Klägers zuständigen Veranlagungsbezirk X zugeleitet. Dort sei am 16. Juli 1991 der Hauptsteuersekretär C allein im Bezirk tätig gewesen. Die anderen sonst dort in dem betreffenden Dienstzimmer tätigen beiden weiteren Bediensteten (Steueramtmann Frau D und Steueranwärter E) hätten sich (bis 23. bzw. 29. Juli 1991) in Urlaub befunden.
Am 10. Oktober 1991 habe der das Rechtsbehelfsverfahren des Klägers bearbeitende Sachbearbeiter (Steueramtmann F) anläßlich eines Telefongesprächs mit dem FG erfahren, daß die Revision in der vorliegenden Sache bereits im Juli 1991 zugelassen worden sei. Die am gleichen Tage eingeleiteten Nachforschungen hätten zum Auffinden des Zulassungsbeschlusses im Veranlagungsbezirk X in einer ,,Zwischenakte" geführt, die angelegt worden sei, weil sich die Steuerakten in der Rechtsbehelfsstelle befanden. Noch am 10. Oktober 1991 sei der Vorsteher vom Auffinden des Beschlusses unterrichtet worden und dadurch erstmalig von der Zulassung der Revision in Kenntnis gesetzt worden. Wann und auf welche Weise der Beschluß in die erwähnte Zwischenakte gelangt sei, sei nicht feststellbar.
Der Zulassungsbeschluß sei aufgrund eines einmaligen Versehens der Verwaltungsangestellten B entgegen § 12 Abs. 14 FAGO an eine unzuständige Stelle des FA weitergeleitet worden. Aufgrund eines weiteren Fehlers sei der Beschluß im Veranlagungsbezirk X nicht entsprechend § 12 Abs. 6 FAGO an die Posteingangsstelle zurückgegeben, sondern statt dessen dort abgelegt worden.
Die Amtsleitung habe alle erforderlichen Maßnahmen zur Organisation des Posteingangs und zur Auswahl und Kontrolle der mit dem Posteingang befaßten Bediensteten getroffen. Die in der Posteingangsstelle eingesetzten Bediensteten seien unter Aushändigung eines Textes lange zuvor auf § 12 FAGO hingewiesen worden. Neben der persönlichen Einweisung der Bediensteten der Posteingangsstelle habe der Vorsteher in Sachgebietsleiterbesprechungen die Sachgebietsleiter angewiesen, im Rahmen ihrer Dienstaufsicht auf die korrekte Behandlung von Posteingängen zu achten. Es liege mithin kein Organisationsverschulden vor. Auch aufgrund der von § 12 FAGO abweichenden Anordnungen habe nicht mit der Fehlleitung des Zulassungsbeschlusses gerechnet werden müssen.
Die Verwaltungsangestellte B sei seit 1968 im FA tätig und seit 1972 im Lohnsteuerbezirk Z eingesetzt. Die FAGO sei ihr bekannt. Ebenso sei ihr bekannt, daß alle zugestellten Postsachen an die Posteingangsstelle zurückzugeben seien, wenn es sich nicht um Pfändungs- und Überweisungsbeschlüsse handele. Sie habe bisher keinmal Anlaß zu einer Beanstandung wegen nicht korrekter Weiterleitung einer zugestellten Postsache gegeben.
Hauptsteuersekretär C sei seit 1980 beim FA beschäftigt. Aufgrund seiner überdurchschnittlichen Fachkenntnisse sei er im Ausbildungsbezirk tätig. Er wisse, wie ein ,,Irrläufer" zu behandeln sei.
Gleiches gelte für Steueramtmann Frau D. Aufgrund ihrer Erfahrungen und ihrer überdurchschnittlichen Kenntnisse sei sie ebenfalls als Ausbilderin eingesetzt.
Steueranwärter E verfüge zwar nicht über vergleichbare Erfahrungen und Kenntnisse. Die Bearbeiter im Bezirk hätten ihn indes zu Beginn seiner Tätigkeit im Veranlagungsbezirk X angewiesen, ihnen sämtliche Posteingänge vorzulegen. Es sei ihm untersagt gewesen, selbständig Posteingänge zu bearbeiten. Damit seien organisatorisch alle Maßnahmen getroffen worden, um auch die fehlerhafte Behandlung eines Posteingangs durch einen Auszubildenden auszuschließen.
Zur Glaubhaftmachung bezieht sich das FA auf die dienstlichen Äußerungen der Verwaltungsangestellten A und B sowie des Steueramtmanns Frau D, des Hauptsteuersekretärs C und des Steueranwärters E.
Verwaltungsangestellte A hat angegeben, sie habe am 16. Juli 1991 ein zugestelltes ,,Gerichtsschreiben" entgegengenommen und ungeöffnet dem Lohnsteuerbezirk Z zugeleitet. In die Arbeit der Posteingangsstelle sei sie von ihrem Vorgänger eingewiesen worden. Der Vorsteher habe ihr lange Zeit vor dem in Rede stehenden Vorfall eine Kopie von § 12 FAGO ausgehändigt und sie auf diese Bestimmung hingewiesen.
Verwaltungsangestellte B hat ausgeführt, sie habe den Zulassungsbeschluß entgegengenommen, könne sich aber nicht mehr konkret daran erinnern, wie er zum Veranlagungsbezirk X gelangt sei. Sie meine, daß sie wegen der angegebenen Steuernummer angenommen habe, der Bezirk X sei für die Bearbeitung zuständig, daß sie deshalb den ihr - jetzt - vorgelegten Laufzettel mit dem Vermerk ,,Tbz.X" gefertigt und den Beschluß am gleichen Tage in der Posteingangsstelle in das Fach des Veranlagungsbezirks X gelegt habe, anstatt ihn in den Posteingang zu geben. Posteingänge, für deren Bearbeitung der Lohnsteuerbezirk Z nicht zuständig sei, würden grundsätzlich sofort an die Posteingangsstelle zurückgegeben bzw. - wenn sie bereits mit Eingangsstempel und Sichtvermerken des Vorstehers und des Sachgebietsleiters versehen seien - an die zuständige Dienststelle weitergeleitet. Zu dem Versehen sei es wohl deshalb gekommen, weil sie damals wegen Urlaubs anderer Mitarbeiter stark belastet gewesen sei und den Vorgang wegen des angehefteten Laufzettels so behandelt habe wie andere Schriftstücke, die unmittelbar an die anderen Dienststellen weitergeleitet würden.
Steueramtmann Frau D, Hauptsteuersekretär C und Steueranwärter E erklärten übereinstimmend, sie hätten den Zulassungsbeschluß nicht in Händen gehabt und könnten sich nicht erklären, wie er in die Ablagemappe gelangt sei. Steueranwärter E gab ferner an, er sei angewiesen, Posteingänge erst nach Rücksprache mit den Sachbearbeitern zu bearbeiten. Er habe die Post für den Veranlagungsbezirk, die er von der Posteingangsstelle abgeholt habe, immer erst den Bearbeitern vorgelegt, die ihm diejenigen Eingänge, die er habe bearbeiten sollen, zugewiesen hätten.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unzulässig.
Das FA hat die Revisionsfrist von einem Monat (§ 120 Abs. 1 Satz 1 FGO), die gemäß § 115 Abs. 5 Satz 4 FGO mit der Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Revision am 16. Juli 1991 in Lauf gesetzt worden ist, nicht eingehalten.
Die Revisionsfrist endete gemäß § 54 Abs. 2 FGO i.V.m. §§ 222 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO), 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) am 16. August 1991. Die Revision ist erst am 24. Oktober 1991 und somit verspätet beim FG eingegangen.
Der vom FA gestellte Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist unbegründet. Nach § 56 Abs. 1 und Abs. 2 FGO ist demjenigen, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, auf Antrag die Wiedereinestzung zu gewähren, wobei der Antragsteller innerhalb der Antragsfrist von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses alle begründenden Tatsachen mitzuteilen hat, aus denen sich nach seiner Meinung die schuldlose Verhinderung an der Einhaltung der Frist ergibt. Die vorgetragenen und glaubhaft gemachten Umstände, die zu der Fristversäumnis geführt haben, ergeben nicht, daß das FA ohne Verschulden verhindert war, die gesetzliche Frist zur Einlegung der Revision zu wahren.
Nach der Rechtsprechung des BFH gelten die Grundsätze der FGO über Fristversäumnis und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für das FA in gleicher Weise wie für einen Steuerpflichtigen (BFH-Urteil vom 12. Mai 1992 VII R 38/91, BFH/NV 1993, 6, m.w.N.)
Das FA ist insoweit nicht anders zu behandeln als ein durch einen Angehörigen der rechts- oder steuerberatenden Berufe vertretener Steuerpflichtiger (BFH-Urteil vom 10. August 1989 X R 98/88, BFH/NV 1990, 289).
Wird der Wiedereinsetzungsantrag auf ein sog. Büroversehen gestützt, ist daher zur Begründung eines Wiedereinsetzungsantrags der Vortrag erforderlich, daß der Bürobetrieb in der Weise organisiert ist, daß Fristversäumnisse ausgeschlossen sind, insbesondere - bezogen auf den Streitfall - daß Vorkehrungen getroffen wurden, um eine rechtzeitige Vorlage gerichtlicher Entscheidungen sicherzustellen (BFH-Beschluß vom 22.November 1991 IX B 44/90, BFH/NV 1992, 329). Soweit der Umgang mit Fristsachen delegiert wird, ist dem FA - ebenso wie einem Prozeßbevollmächtigten - ein Versehen einer mit Fristsachen betrauten Kraft dann nicht als eigenes Verschulden zuzurechnen, wenn alle Vorkehrungen dafür getroffen worden sind, die nach vernünftigem Ermessen die Nichtbeachtung von Fristen auszuschließen geeignet sind, und wenn durch regelmäßige Belehrung und Überwachung der mit Fristsachen befaßten Bediensteten Sorge für die Einhaltung der getroffenen Anordnungen getragen ist (BFH-Urteil vom 9. Juli 1992 V R 62/91, BFH/NV 1993, 251 m.w.N.; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 56 Anm.36 m.w.N.). Dementsprechend ist in solchen Fällen vorzutragen und glaubhaft zu machen, daß das mit dem Vorgang befaßte Personal sorgfältig ausgewählt, umfassend ausgebildet und in geeigneter Weise überwacht worden ist.
Diesen Anforderungen an die Begründung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 56 Abs. 2 Satz 2 FGO genügen die Ausführungen des FA nicht. Das FA hat sich im wesentlichen darauf beschränkt darzustellen, wie die ihm mit Postzustellungsurkunde zugestellten Sendungen nach den amtsinternen Anforderungen unter teilweiser Abweichung von den Anweisungen in § 12 FAGO behandelt werden. Ferner hat es geschildert, auf welchem Weg der in Rede stehende Zulassungsbeschluß vom 1. Juli 1991 im Bereich der Behörde schließlich erst am 10. Oktober 1991 dem Vorsteher zur Kenntnis gelangt ist. Es hat dazu ausgeführt, die mit der Sache befaßten Bediensteten seien über die Behandlung der Posteingänge unterrichtet worden und hätten von den entsprechenden amtsinternen Anordnungen Kenntnis; sie seien auch gut ausgebildet und insbesondere die Verwaltungsangestellte B habe bisher keinerlei Anlaß zu einer Beanstandung wegen unkorrekter Weiterleitung von Fristsachen gegeben. Das FA hat indes nicht dargelegt, ob und in welcher Weise es die betreffenden Bediensteten in ihrer Tätigkeit bei der Entgegennahme und Weiterleitung von Fristsachen in geeigneter Weise überwacht hat.
Es trägt dazu nur vor, daß der Vorsteher die Sachgebietsleiter in Sachgebietsleiterbesprechungen angewiesen habe, im Rahmen ihrer Dienstaufsicht auf die korrekte Behandlung von Posteingängen zu achten. Der Senat kann offenlassen, ob dies für normale Zeiten ausreicht oder ob allgemein zusätzliche Überwachungsmaßnahmen (z.B. Stichproben oder ähnliches) erforderlich waren. Die Besonderheit des Streitfalles liegt darin, daß der erste Fehler bei der Behandlung des Eingangs des Zulassungsbeschlusses im Lohnsteuerbezirk Z des FA von der Verwaltungsangestellten B gemacht worden ist, als diese lt. ihrer dienstlichen Äußerung wegen Urlaubs anderer Mitarbeiter stark überlastet war. Aus dem Vortrag des FA ist nicht ersichtlich, welche Überwachungsmaßnahmen getroffen waren, um in solchen außergewöhnlichen Zeiten die ordnungsgemäße Behandlung von eingehenden Fristsachen zu gewährleisten.
Der zweite Fehler ist im Veranlagungsbezirk unterlaufen. Die Behandlung des Eingangs dort zeigt, daß keine ausreichende Gewähr geboten war, daß fehlgeleitete Posteingänge von unzuständigen Empfängern unverzüglich den zuständigen Bediensteten des FA zugeleitet wurden. Das FA hat jedenfalls nicht ausgeführt, welche Organisations- und Überwachungsmaßnahmen getroffen waren, daß Irrläufer auf den richtigen Weg gebracht wurden. Hierzu reicht der Hinweis des FA auf die FAGO nicht aus. Denn dieser Fall eines ,,Irrläufers" ist in der FAGO nicht geregelt. Im übrigen handelt es sich nicht mehr um ein bloßes Büroversehen, wenn ein Posteingang von einem unzuständigen Sachbearbeiter in irrtümlicher Annahme seiner Zuständigkeit falsch bearbeitet wird. Die Ablage in den Steuerakten kann auch ein Vorgang der Sachbearbeitung sein.
Fundstellen
Haufe-Index 419164 |
BFH/NV 1993, 746 |