Entscheidungsstichwort (Thema)
Beschränkung der Vollziehungsaussetzung bei anzurechnenden Steuerabzugsbeträgen
Leitsatz (NV)
Die in § 361 Abs. 2 Satz 4 AO 1977 und § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO ‐ jeweils i.d.F. des JStG 1997 - enthaltenen Beschränkungen der Möglichkeit, die Vollziehung eines Steuerbescheids auszusetzen oder aufzuheben, sind mit dem GG vereinbar (Anschluss an BFH-Beschluss vom 2. November 1999 I B 49/99 BStBl II 2000, 57).
Normenkette
AO 1977 § 361 Abs. 2 S. 4; FGO § 69 Abs. 2 S. 8; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt ―FA―) hatte durch Bescheid vom 24. November 1997 die Vorauszahlungen auf die Einkommensteuer, die Kirchensteuer und den Solidaritätszuschlag für das Jahr 1996 mit 414 130 DM, 36 978 DM und 31 508 DM festgesetzt. Auf den Einspruch des Antragstellers und Beschwerdegegners (Antragsteller) hat es die Vollziehung in Höhe der festgesetzten Beträge durch Verfügung vom 23. Dezember 1997 in vollem Umfang ausgesetzt, weil es die Rechtmäßigkeit dieser Festsetzung aufgrund der Einbeziehung von Einkünften des Antragstellers aus gewerblichem Grundstückshandel als ernstlich zweifelhaft ansah.
Das FA erließ am 7. Januar 1999 ―während des die Vorauszahlungen 1996 betreffenden Einspruchsverfahrens― den Einkommensteuerbescheid 1996, und zwar wiederum unter Zugrundelegung von Einkünften aus gewerblichem Grundstückshandel in Höhe von 794 000 DM. Der Bescheid führt nach Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen und bereits geleisteten Vorauszahlungen zu einer Steuernachforderung von 281 159 DM Einkommensteuer, 24 605,64 DM Kirchensteuer und 21 175,45 DM Solidaritätszuschlag. Über den hiergegen gerichteten Einspruch hat das FA noch nicht entschieden. Die vom Antragsteller auch wegen der Einkünfte aus gewerblichem Grundstückshandel begehrte Aussetzung der Vollziehung (AdV) lehnte das FA durch Verfügung vom 19. Februar 1999 unter Hinweis auf § 361 Abs. 2 Satz 4 der Abgabenordnung (AO 1977) ab. Zur Begründung führte es aus, darauf, dass die Abschlusszahlung laut Einkommensteuerbescheid 1996 geringer sei als die festgesetzten Vorauszahlungen zur Einkommensteuer 1996, komme es nicht an. Entscheidend sei allein die Höhe der Abschlusszahlung laut Jahresbescheid.
Das Finanzgericht (FG) hat dem Antrag auf AdV stattgegeben. Die Voraussetzungen des § 69 Abs. 2 Satz 8 der Finanzgerichtsordnung (FGO) seien ―bei zutreffender Auslegung― nicht erfüllt. Der Wortlaut dieser Vorschrift bedürfe einer verfassungskonformen Auslegung dahingehend, dass unter "festgesetzten Vorauszahlungen" die festgesetzten und entrichteten Vorauszahlungen ("Ist-Vorauszahlungen") zu verstehen seien. Wollte man überhaupt die Soll-Vorauszahlungen in die Berechnung des aussetzbaren / aufhebbaren Steuerbetrages einbeziehen, entspräche es dem Verfassungsgebot eines effektiven Rechtsschutzes, bestandskräftig festgesetzte Soll-Vorauszahlungen vorauszusetzen. Der Beschluss des FG ist veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1999, 1144.
Hiergegen richtet sich die vom FG zugelassene Beschwerde, mit welcher das FA beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und den Antrag auf AdV abzulehnen.
Der Kläger beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Abweisung des Antrags auf AdV des Einkommensteuerbescheides vom 7. Januar 1999.
1. Wird ein Steuerverwaltungsakt mit dem Einspruch angefochten, so wird hierdurch seine Vollziehung grundsätzlich nicht gehemmt, insbesondere die Erhebung der Abgabe nicht aufgehalten (§ 361 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Auf Antrag kann jedoch nach § 361 Abs. 5 AO 1977 i.V.m. § 69 Abs. 3 FGO das Gericht der Hauptsache unter bestimmten, im Gesetz näher bezeichneten Voraussetzungen die Vollziehung des Verwaltungsaktes ganz oder teilweise aussetzen. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so tritt an die Stelle der Aussetzung die Aufhebung der Vollziehung (§ 361 Abs. 2 Satz 3 AO 1977 i.V.m. § 69 Abs. 3 FGO). Der Senat geht in Übereinstimmung mit den beiden Beteiligten davon aus, dass hier die Voraussetzungen für eine Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung insofern vorliegen, als ernstliche Zweifel daran bestehen, ob der Antragsteller Einkünfte aus gewerblichem Grundstückshandel erzielt hat.
2. Nach § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO i.d.F. des Jahressteuergesetzes 1997 (JStG 1997) sind bei Steuerbescheiden sowohl die Aussetzung als auch die Aufhebung der Vollziehung auf die festgesetzte Steuer, vermindert um die anzurechnenden Steuerabzugsbeträge, um die anzurechnende Körperschaftsteuer und "um die festgesetzten Vorauszahlungen", beschränkt; dies gilt nicht, wenn die Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Diese Neuregelung ist am 21. Dezember 1996 in Kraft getreten (Art. 32 Abs. 1 JStG 1997) und ist deshalb im Streitfall anwendbar (Art. 97 § 1 Abs. 6 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung i.d.F. des JStG 1997).
3. Die Voraussetzungen des § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO liegen im Streitfall vor. Hiervon ist ―hinsichtlich des Wortlauts der Vorschrift― auch das FG ausgegangen. Es hat indes die AdV mit Hilfe verfassungskonformer Auslegung u.a. mit der Begründung gewährt, dass andernfalls durch den Erlass des Jahressteuerbescheides 1996 eine zuvor bereits durch AdV des diesbezüglichen Vorauszahlungsbescheids erlangte ―möglicherweise erstrittene― Rechtsposition genommen würde, ohne dass die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung bestünde. Der erkennende Senat folgt dieser Rechtsansicht nicht. Vielmehr vertritt er im Anschluss an den Beschluss des I. Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 2. November 1999 I B 49/99 (BFHE 190, 59, BStBl II 2000, 57) die Auffassung, dass die in § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO ―ebenso wie die im inhaltsgleichen § 361 Abs. 2 Satz 4 AO 1977― enthaltenen Beschränkungen der Möglichkeit, die Vollziehung eines Steuerbescheids auszusetzen oder aufzuheben, mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar sind und deswegen im Streitfall die vom FG befürwortete verfassungskonforme Auslegung nicht in Betracht kommt.
Es trifft allerdings zu, dass eine ―u.U. erstrittene― AdV eines Vorauszahlungsbescheids durch den Erlass eines Jahressteuerbescheides gegenstandslos werden kann. Diese "Entwertung" einer verfahrensrechtlichen Position verstößt indes nicht gegen Art. 19 Abs. 4 GG. Zwar garantiert Art. 19 Abs. 4 GG einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, und diese Garantie erstreckt sich auch auf das Rechtsinstitut des vorläufigen Rechtsschutzes. Die Ausgestaltung dieses Rechtsschutzes obliegt jedoch dem Gesetzgeber, der dabei lediglich sicherstellen muss, dass nicht zum Nachteil des Bürgers irreparable Folgen entstehen. Dieser Anforderung trägt das Gesetz durch § 69 Abs. 2 Satz 8 2. Halbsatz FGO Rechnung, nach welchem die Beschränkung der Rechtsschutzmöglichkeit zurücktreten muss, wenn dies zur Abwendung "wesentlicher Nachteile" nötig ist. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf den Beschluss vom 2. November 1999 I B 49/99 Bezug genommen.
4. Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Seine Entscheidung erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als im Ergebnis zutreffend. Insbesondere hat der Antragsteller nicht geltend gemacht, dass die AdV zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Daher ist der angefochtene Beschluss aufzuheben; der Antrag auf AdV ist abzulehnen.
Fundstellen
Haufe-Index 425443 |
BFH/NV 2000, 938 |