Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknahme eines rechtswidrigen unanfechtbaren Haftungsbescheids
Leitsatz (NV)
Die Entscheidung des Finanzamtes, die Rücknahme eines rechtswidrigen unanfechtbaren Haftungsbescheids abzulehnen, ist in der Regel ermessensfehlerfrei, wenn der Haftungsschuldner die Gründe, die seiner Auffassung nach eine Rücknahme rechtfertigen, mit einem fristgerecht eingelegten Einspruch gegen den Bescheid hätte vorbringen können.
Normenkette
AO 1977 § 130 Abs. 1; FGO § 102
Tatbestand
I. Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin) führt beim Finanzgericht (FG) einen Rechtsstreit gegen den Beklagten (Finanzamt ―FA―) wegen Haftung für Körperschaftsteuer, Umsatzsteuer, Umsatzsteuervorauszahlungen, Zinsen und Säumniszuschlägen. Grund für die Inanspruchnahme der Antragstellerin als Haftungsschuldnerin war die Tatsache, dass sie ab März 1995 Geschäftsführerin einer GmbH war, die ihren Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem FA ab Ende Mai 1995 nicht mehr nachkam und zahlungsunfähig wurde. In dem Rechtsstreit begehrt die Antragstellerin sinngemäß, das FA zu verpflichten, gemäß § 130 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) den unanfechtbaren Haftungsbescheid vom 15. Mai 1997 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15. Februar 2000 zurückzunehmen.
Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 14. März 2000 beantragte die Antragstellerin beim FG, ihr unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten ratenfreie Prozesskostenhilfe (PKH) zu bewilligen. Dem Antrag war eine Erklärung der Antragstellerin über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse beigefügt, aus der sich ergibt, dass die Antragstellerin und ihr Ehegatte Sozialhilfe erhalten und über keine Einkünfte und für die Kosten des Rechtsstreites einsetzbares Vermögen verfügen. Das FG lehnte durch Beschluss vom 9. Mai 2000 den Antrag mit der Begründung ab, die beabsichtigte Rechtsverfolgung biete keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
Mit der Beschwerde beantragt die Antragstellerin, den Beschluss des FG aufzuheben und ihr für das Klageverfahren PKH zu gewähren.
Das FA beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde war als unbegründet zurückzuweisen.
1. Die Bewilligung von PKH setzt u.a. voraus, dass die Rechtsverfolgung oder -verteidigung, für die PKH beantragt wird, hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 114 der Zivilprozeßordnung i.V.m. § 142 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―). Daran fehlt es im Streitfall. Es ist nicht ersichtlich, dass das FA verpflichtet ist, den Haftungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15. Februar 2000 zurückzunehmen. Dabei unterstellt der beschließende Senat zu Gunsten der Antragstellerin, dass der Haftungsbescheid zumindest teilweise rechtswidrig ist.
a) Gemäß § 130 Abs. 1 AO 1977 kann das FA einen rechtswidrigen Haftungsbescheid ganz oder teilweise auch dann zurücknehmen, wenn der Bescheid bereits unanfechtbar geworden ist. Die Entscheidung des FA, ob es den Bescheid zurücknimmt oder von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch macht, ist eine Ermessensentscheidung. Sie darf von den FG nur auf Ermessensfehler hin überprüft werden (s. § 102 FGO).
In der Regel ist die Entscheidung des FA, die Rücknahme eines rechtswidrigen unanfechtbaren Haftungsbescheids abzulehnen, ermessensfehlerfrei, wenn der Haftungsschuldner die Gründe, die seiner Auffassung nach eine Rücknahme rechtfertigen, mit einem fristgerecht eingelegten Einspruch gegen den Bescheid hätte vorbringen können. Denn Zweck der Ermessensermächtigung in § 130 Abs. 1 AO 1977 ist es, zwischen der materiellen Gerechtigkeit einerseits und dem durch die Bestandskraft eingetretenen Rechtsfrieden andererseits abwägen zu können. Bei der nur in eingeschränktem Umfang zulässigen gerichtlichen Überprüfung der Ermessensentscheidung des FA ist es daher nicht als ermessensfehlerhaft anzusehen, wenn das FA dem Rechtsfrieden und damit der aufgrund gesetzlicher Regelungen eingetretenen Bestandskraft des Haftungsbescheides grundsätzlich eine derart gewichtige Bedeutung beimisst, dass es die Zurücknahme ablehnt, wenn außer der von Anfang an vorliegenden Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nicht zusätzlich nach Eintritt der Bestandskraft eingetretene oder bekannt gewordene Umstände geltend gemacht werden (s. Bundesfinanzhof ―BFH―, Urteil vom 26. März 1991 VII R 15/89, BFHE 164, 215, BStBl II 1991, 552; s.a. BFH-Beschluss vom 22. Juni 1999 VII B 244/98, BFH/NV 1999, 1583; Klein/Rüsken, Abgabenordnung, 7. Aufl., 2000, § 130 Rz. 28).
b) Der Antragstellerin waren nach ihrem eigenen Vortrag bereits bei Erhalt des Haftungsbescheides vom 15. Mai 1997 alle Tatsachen bekannt, aus denen sie nunmehr die Rechtswidrigkeit des Bescheides herleitet. Spätestens Mitte November 1996, als sie die Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen der GmbH beantragte, kannte sie die ―nach ihrem Vortrag schon ab März 1995 bestehende― völlige Mittellosigkeit der GmbH und die Überschuldung der Gesellschaft. Die Antragstellerin war daher in der Lage, alle nunmehr gegen die Rechtmäßigkeit des Bescheides vorgebrachten Gründe bereits in dem Verfahren aufgrund ihres Einspruchs vom 2. Juni 1997 gegen den Bescheid vorzutragen. Dies hat sie jedoch unterlassen und trotz Aufforderungen des FA den Einspruch nicht begründet. Hinzu kommt, dass das FA die Antragstellerin schon im März 1997 ohne Erfolg aufgefordert hatte, über die für ihre Inanspruchnahme als Haftende entscheidenden Tatsachen Auskunft zu geben. Dass es ihr seinerzeit unmöglich oder unzumutbar gewesen sei, die vom FA erbetenen Auskünfte zu erteilen und den Einspruch zu begründen, hat die Antragstellerin weder vorgetragen noch lässt sich dies den Akten entnehmen.
2. Ungeklärt bleiben kann, ob aufgrund der nunmehr bestehenden wirtschaftlichen Notlage der Antragstellerin ein Erlass der Haftungsschuld gemäß § 227 AO 1977 in Betracht kommt und ob das FA den Erlass zu Recht und bestandskräftig abgelehnt hat (s. Schreiben des FA vom 2. Oktober 1998). Denn der Rechtsstreit, für den die Antragstellerin die Bewilligung von PKH beantragt hat, betrifft nicht die Ablehnung des Erlassantrags.
Fundstellen