Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsatz der anteiligen Tilgung; Rüge von Verfahrensmängeln
Leitsatz (NV)
- Die Anwendung des Grundsatzes der anteiligen Tilgung setzt voraus, dass dem Steuerschuldner in dem betreffenden Zeitraum ausreichende Mittel zur Tilgung seiner sämtlichen Verbindlichkeiten fehlten; seine jederzeit einziehbaren Forderungen sind dabei zu berücksichtigen.
- Bei der Beurteilung, ob das Urteil des Tatrichters auf einem Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO beruhen kann, ist von dessen sachlich-rechtlicher Beurteilung auszugehen.
- Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht von ihm entgegengenommenes Vorbringen bei seiner Entscheidung berücksichtigt; wird gerügt, das FG habe seiner Entscheidung nicht den Inhalt der Akten zugrunde gelegt, sind dafür konkrete Anhaltspunkte zu benennen.
- Mit der Behauptung, das FG habe das Vorbringen des Klägers "nicht zur Kenntnis genommen" oder nicht "berücksichtigt", wird keine Verletzung der Sachaufklärungspflicht, sondern eine Gehörsrüge erhoben.
Normenkette
AO 1977 § 69; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3
Tatbestand
Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) war seit Oktober 1992 Geschäftsführer einer GmbH, die inzwischen in Konkurs gefallen ist, ohne ihre Steuern einschließlich steuerlicher Nebenleistungen beglichen zu haben. Der Kläger ist von dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt ―FA―) deshalb in Haftung genommen worden. Seine dagegen erhobene Klage hatte nur zum kleineren Teil Erfolg. Wegen Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger Beschwerde erhoben, mit der grundsätzliche Bedeutung, Divergenz und Verfahrensmängel gerügt werden.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist unbegründet. Die Revision ist nicht zuzulassen. Es liegt keiner der geltend gemachten Revisionszulassungsgründe (§ 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―) vor.
1. Das Urteil des Finanzgerichts (FG) weicht nicht dadurch von den in der Beschwerdebegründung angeführten Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (BFH) ab, dass es den Grundsatz der anteiligen Tilgung, der in den Entscheidungen aufgestellt worden ist, im Streitfall nicht zugunsten des Klägers hat eingreifen lassen. Die Anwendung des Grundsatzes der anteiligen Tilgung setzt nämlich voraus, dass der Gesellschaft in dem betreffenden Zeitraum ausreichende Mittel zur Tilgung ihrer sämtlichen Verbindlichkeiten fehlten, wie der BFH bereits in dem von der Beschwerde angeführten Urteil vom 26. April 1984 V R 128/79 (BFHE 141, 443, BStBl II 1984, 776) ausgeführt hat. Dass dieses Ungenügen der bei der Gesellschaft verfügbaren Mittel Voraussetzung dafür ist, dass bei Nichtbegleichen der Steuerschuld eine Pflichtverletzung des Geschäftsführers oder zumindest sein Verschulden verneint werden kann, versteht sich im Übrigen von selbst; denn der Grundsatz der anteiligen Tilgung soll lediglich dem den Haftungstatbestand prägenden Schadensersatzgedanken Rechnung tragen, der es ausschließt, den Geschäftsführer für etwas haften zu lassen, was der von ihm vertretene Steuerschuldner ohnehin nicht hätte leisten können.
Im Streitfall hat das FG ―mit Bindungswirkung für ein künftiges Revisionsverfahren (§ 118 Abs. 2 FGO)― festgestellt, dass der von dem Kläger vertretenen Steuerschuldnerin eine rechtzeitige Zahlung der Steuern möglich war (Urteilsabdruck Bl. 10 oben), und zwar aus den ihr zur Verfügung stehenden Geldkonten und den Forderungen, die ihr gegen den Kläger zugestanden hätten.
2. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung wegen der von der Beschwerde herausgestellten Frage, ob das FG jene nach den Feststellungen des FG nicht beigetriebenen, gestundeten oder ―was die dem Kläger gewährten Darlehen angeht― nicht zurückgeführten Forderungen ―in vollem Umfang― bei der Feststellung berücksichtigen durfte, ob die Gesellschaft fähig war, ihre Steuerschulden zu begleichen. Denn dass bei der nach der eben erwähnten Rechtsprechung des BFH gebotenen Prüfung, ob dem vertretenen Steuerschuldner die Fähigkeit fehlte, seine Steuerschulden zu begleichen, und deshalb nur eine anteilige Tilgung in Betracht kam, jederzeit einziehbare Forderungen des Steuerschuldners nicht unberücksichtigt bleiben können, versteht sich von selbst und bedarf nicht der Klärung in einem Revisionsverfahren. Ob es sich bei den vom FG berücksichtigten Außenständen um solche Forderungen handelte, ist eine vornehmlich der tatrichterlichen Würdigung obliegende Frage des Einzelfalls und einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich; in der Beschwerdebegründung ist im Übrigen nichts Substantiiertes gegen die diesbezügliche Bewertung des FG vorgebracht worden.
Es würde der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung verleihen, wenn das FG die seiner Auffassung nach der Gesellschaft in dem fraglichen Zeitraum zur Verfügung stehenden Mittel nicht den Steuerschulden hätte gegenüberstellen dürfen, sondern nach den Grundsätzen der anteiligen Tilgung andere Außenstände der Gesellschaft hätte berücksichtigen müssen. Denn dies würde das Urteil des FG allenfalls insoweit sachlich-rechtlich unrichtig machen; welche Grundsatzfrage in diesem Zusammenhang zu klären wäre, ist jedenfalls in der Beschwerdebegründung nicht ausreichend dargelegt.
3. Das FG hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör entgegen der Behauptung der Beschwerde nicht dadurch verletzt, dass es die mündliche Verhandlung nicht entsprechend dem Antrag des Klägers vertagt und ihm dadurch Gelegenheit gegeben hat, zur Ermittlung der Tilgungsquote weiter vorzutragen. Denn bei der Beurteilung, ob das Urteil des Tatrichters auf einem Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO beruhen kann, ist von dessen sachlich-rechtlicher Beurteilung auszugehen. Wenn das FG aber, wie ausgeführt, vom Vorhandensein ausreichender Zahlungsmittel ausging, kam es auf (weitere) Darlegungen des Klägers zu der Quote, in der die Gesellschaft in dem fraglichen Zeitraum andere Schulden als die gegenüber dem FA getilgt hat, nicht an, worauf das FG bereits (Bl. 10 oben des Urteilsabdrucks) hingewiesen hat. Soweit im Übrigen der Kläger seinen Anspruch auf Gehör dadurch verletzt sieht, dass er nicht noch "ergänzend" zu der Auffassung des FG habe vortragen können, die ihm als Darlehen gewährten, gestundeten oder nicht beigetriebenen Mittel stünden der Berücksichtigung der Grundsätze anteiliger Tilgung entgegen, ist dieses Vorbringen unschlüssig; denn die Beschwerde trägt selbst vor, dass der für diese Auffassung des FG maßgebliche rechtliche Gesichtspunkt in der mündlichen Verhandlung vom FG mit dem Kläger erörtert worden ist; sie gibt nicht an, warum sich der Kläger dabei durch seine fachkundige Prozessvertreterin nicht ausreichend hat äußern können.
4. Die weitere Rüge, das FG habe seiner Entscheidung nicht den Inhalt der Akten zugrunde gelegt, ist ebenfalls unschlüssig. Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht von ihm entgegengenommenes Vorbringen bei seiner Entscheidung berücksichtigt; soll geltend gemacht werden, dies sei im Einzelfall nicht geschehen, sind dafür konkrete Anhaltspunkte zu benennen (Beschlüsse des BFH vom 11. November 1996 VIII B 57/96, BFH/NV 1997, 419, und vom 19. November 1998 VII B 127/98, BFH/NV 1999, 673). Daran fehlt es hier. Im Übrigen hat das FG ausdrücklich ausgeführt, der von dem Kläger in den eingereichten Unterlagen angestellte Rechenvorgang sei nicht nachvollziehbar (Urteilsabdruck Bl. 9 unten). Dass das FG sich in seinem Urteil mit dem Zahlenmaterial "überhaupt nicht auseinander (gesetzt)" habe, wie die Beschwerde rügt, ist überdies deshalb unschlüssig, weil das Urteil des FG, wie dargelegt, maßgeblich auf einem anderen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkt als dem der Tilgungsquote beruht.
5. Das "Gebot des fairen Verfahrens" ist nicht dadurch verletzt worden, dass das FG ein Urteil erlassen hat, obwohl es dem Kläger vor der mündlichen Verhandlung mitgeteilt hatte, es könne sich erst in der mündlichen Verhandlung endgültig Klarheit darüber verschaffen, ob weiterer Sachvortrag des Klägers entscheidungserheblich ist. Denn der Kläger konnte daraus nicht die Zusicherung entnehmen, das FG werde nicht aufgrund der mündlichen Verhandlung entscheiden.
6. Schließlich ist auch die Rüge, das FG habe seine Sachaufklärungspflicht verletzt, nicht schlüssig erhoben. Denn soweit in diesem Zusammenhang von der Beschwerde ausgeführt wird, das FG habe das Vorbringen des Klägers "nicht zur Kenntnis genommen" oder jedenfalls nicht "berücksichtigt", wird damit nicht eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht, sondern ―wie dargelegt, in unzulässiger Weise― eine Gehörsrüge erhoben. Soweit weiter auf angebliche ―nicht durch eine genaue Angabe der Aktenstelle ausreichend substantiierte― Widersprüche zwischen dem Urteil des FG und den Bilanzen hingewiesen wird, ergibt sich auch daraus nicht ein Verfahrensmangel, sondern allenfalls die Unrichtigkeit des angegriffenen Urteils.
Fundstellen
Haufe-Index 507931 |
BFH/NV 2001, 294 |