Entscheidungsstichwort (Thema)
NZB: Zur Akzessorietät von Haftungs- und Steuerschuld und zum Widerruf des Verzichts auf mündliche Verhandlung
Leitsatz (NV)
1. Für das Entstehen, den Fortbestand und die Geltendmachung einer Haftungsschuld kommt es nicht auf die Festsetzung der der Haftung zugrunde liegenden Steuerschuld an. Der Haftungsanspruch kann vielmehr unmittelbar nach seiner Entstehung gegenüber dem Haftenden eigenständig durch Haftungsbescheid geltend gemacht werden, ohne dass ein Steuerbescheid hätte erlassen oder gar bestandskräftig werden müssen.
2. Als prozesserhebliche Erklärung, die grundsätzlich unwiderruflich ist, führt der wirksame Verzicht auf mündliche Verhandlung auch zur Verwirkung des Rechts, sich im anschließenden Rechtsmittelverfahren auf eine Verletzung des Grundsatzes der Mündlichkeit zu berufen.
3. Im Wechsel des Prozessbevollmächtigten ist keine wesentliche Änderung der Verfahrenslage zu sehen, die einen Widerruf des vom ersten Prozessbevollmächtigten erklärten Verzichts auf mündliche Verhandlung gerechtfertigt erscheinen lassen würde.
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2 Nrn. 1-3, § 90 Abs. 2; AO 1977 §§ 69, 110 Abs. 2
Verfahrensgang
FG München (Urteil vom 21.01.2004; Aktenzeichen 3 K 2139/01) |
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wurde vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) für Steuerschulden einer GmbH, für die er als Geschäftsführer tätig war, als Haftungsschuldner in Anspruch genommen. Der Haftungsbescheid wurde dem Kläger am 10. Januar 2000 durch Niederlegung zugestellt. In einem Schreiben vom 15. Februar 2000 teilte der Kläger dem FA mit, dass er zurzeit aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage sei, auf den Haftungsbescheid zu reagieren. Mit Schreiben vom 17. August 2000 legte der frühere Prozessbevollmächtigte des Klägers gegen den Haftungsbescheid "vorläufig … --obwohl verfristet-- Widerspruch ein". Gründe für das Versäumnis trug er nicht vor, indes wandte er sich gegen die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides. Auch auf den wiederholten Hinweis des FA auf die Verfristung und das Fehlen von Wiedereinsetzungsgründen äußerte sich weder der Kläger noch sein Prozessbevollmächtigter.
Das FA deutete das Schreiben des Prozessbevollmächtigten vom 17. August 2000 als Einspruch und wies diesen als unzulässig zurück. Daraufhin ließ der Kläger durch seinen früheren Prozessbevollmächtigten Klage erheben. Nach Klageerhebung legitimierte sich ein weiterer Prozessbevollmächtigter für den Kläger und übersandte ein Schreiben aus dem hervorging, dass er die bisher gestellten Anträge übernehme und dass der frühere Prozessbevollmächtigte sein Mandat niedergelegt habe. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab. Es urteilte, dass das FA den Einspruch gegen den Haftungsbescheid zu Recht als unzulässig zurückgewiesen habe. Der Kläger habe die Einspruchsfrist versäumt und innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist keine Gründe glaubhaft gemacht, die eine Wiedereinsetzung rechtfertigen würden. Im Übrigen seien die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Streitfall auch nicht erfüllt, weil sich der Prozessbevollmächtigte ausweislich seines Schreibens vom 17. August 2000 darüber im Klaren gewesen sei, dass die Einspruchsfrist bereits abgelaufen war. Der Vortrag des Klägers, er habe gegen den Haftungsbescheid keinen Einspruch eingelegt, weil er geglaubt habe, alles Erforderliche getan zu haben, nachdem er dem FA mit Schreiben vom 17. November 1999 seine Abberufung als Geschäftsführer mitgeteilt und die an ihn gerichteten Steuerbescheide zurückgesandt habe, sei nicht innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist des § 110 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) erfolgt und könne daher keine Berücksichtigung finden. Darüber hinaus halte das FG diesen Vortrag auch nicht für schlüssig, da sich der Kläger selbst mit einem Schreiben vom 15. Februar 2000 an das FA gewandt und eine Reaktion auf den Haftungsbescheid angekündigt habe.
Mit seiner gegen die Nichtzulassung der Revision gerichteten Beschwerde macht der Kläger geltend, dass er als Geschäftsführer der GmbH abberufen worden sei. In dem Monat, in dem er als Geschäftsführer tätig geworden sei, habe es keine Beschäftigten bei der GmbH gegeben. Deshalb habe er für diesen Monat auch keine Lohnsteueranmeldungen eingereicht. In dieser Zeit seien auch keine umsatzsteuerpflichtigen Umsätze getätigt worden. Diese Umstände habe er in seinem Schreiben vom 17. November 1999 dem FA mitgeteilt und damit fristgerecht Einspruch gegen die an ihn gerichteten Steuerbescheide eingelegt. Das FA hätte seine Schreiben vom 17. und 30. November 1999 als Rechtsbehelf gegen diese Bescheide deuten müssen. Da er nach seinen Vorstellungen alles Erforderliche getan habe, um den Sachverhalt aufzuklären, habe er gegen den Haftungsbescheid keinen Rechtsbehelf eingelegt. Der Haftungsbescheid hätte nicht erlassen werden können, weil das FA zunächst über den Einspruch gegen die Steuerbescheide hätte entscheiden müssen. Darüber hinaus sei es unbillig, sich auf den formalen Standpunkt der Fristversäumung zu stellen, denn der Haftungsbescheid leide an einem Rechtsmangel. Im Übrigen hätten weder das FA noch das FG den Sachverhalt entsprechend aufgeklärt. Auch hätte das FG nicht ohne Anberaumung einer mündlichen Verhandlung entscheiden dürfen. Insofern sei der Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Der Kläger hat einen Zulassungsgrund, der nach § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Zulassung der Revision führen könnte, nicht in der erforderlichen Weise dargelegt (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO); soweit der Kläger die Verletzung seines Anspruches auf rechtliches Gehör (§ 90 Abs. 1 Satz 1 FGO) rügt, liegt ein solcher Verfahrensmangel auch nicht vor.
a) Der Kläger hat seine Nichtzulassungsbeschwerde nicht ausdrücklich auf einen der in § 115 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 FGO abschließend aufgezählten Zulassungsgründe gestützt. Aus seinem Vortrag geht jedoch hervor, dass er sich einerseits gegen die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides, andererseits gegen die seiner Meinung nach rechtsfehlerhafte Behandlung der Sache durch das FG wendet. Soweit der Kläger Einwände gegen die rechtliche Würdigung seines Verhaltens durch das FA und gegen die Tatbestandserfüllung des § 69 AO 1977 erhebt, ist dieser Vortrag zur schlüssigen Darlegung eines Zulassungsgrundes nicht geeignet, weil das Urteil auf Aussagen zur Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides nicht beruht. Vielmehr hat das FG die Klage aufgrund der Verfristung des gegen den Haftungsbescheid eingelegten Einspruchs abgewiesen.
b) Soweit der Kläger rügt, das FG hätte den Sachverhalt auch ohne entsprechenden Beweisantritt von Amts wegen näher aufklären müssen, hat er einen Verfahrensmangel nicht schlüssig dargelegt. Dies erfordert einen substantiierten Vortrag dazu, aus welchen (genau bezeichneten) Gründen sich dem FG die Notwendigkeit einer weiteren Sachaufklärung auch ohne entsprechenden Antrag hätte aufdrängen müssen, welche (entscheidungserheblichen) Tatsachen sich bei einer weiteren Sachaufklärung voraussichtlich ergeben hätten und inwiefern eine weitere Aufklärung des Sachverhalts auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG zu einer anderen Entscheidung hätte führen können (vgl. Senatsbeschluss vom 28. August 2003 VII B 260/02, BFH/NV 2004, 69, m.w.N.). Diesen Anforderungen wird das Vorbringen des Klägers, das FG habe bezüglich des mitgeteilten Sachverhalts eine eigene Aufklärungspflicht gehabt und diese nicht erfüllt, nicht gerecht. Denn aus der Sicht des FG musste sich ihm eine weitere Aufklärung des Sachverhalts hinsichtlich der Erfüllung des Haftungstatbestandes nicht aufdrängen, weil es die Klage aufgrund der Verfristung des Einspruches als unbegründet abgewiesen hat, ohne die Tatbestandsmerkmale des § 69 AO 1977 näher zu überprüfen.
c) Auch der Vortrag des Klägers, das FA hätte den Inhalt seines Schreibens vom 17. November 1999 als Einspruch gegen die Steuerbescheide auslegen müssen, kann nicht zur Zulassung der Revision führen, selbst wenn in diesem Vorbringen die Geltendmachung eines Zulassungsgrundes nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO gesehen werden könnte. Denn diese Einwände richten sich gegen die Rechtmäßigkeit der dem Haftungsbescheid zugrunde liegenden Primärschuld. Diese war jedoch nicht Gegenstand des finanzgerichtlichen Verfahrens, so dass das erstinstanzliche Erkenntnis auf Aussagen zur Primärschuld oder zu deren wirksamer Anfechtung nicht beruht.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) führt die sich aus der Rechtsnatur der Haftung ergebende Abhängigkeit der Haftungsschuld vom Entstehen und Bestehen der Steuerschuld nicht zu einer inhaltlichen Identität ihres verfahrensrechtlichen Schicksals. Vielmehr ist die Haftung trotz der gegebenen Akzessorietät gegenüber der Steuerschuld weitgehend verselbständigt, so dass die Primärschuld unterschieden werden muss von der eigenständigen Haftungsschuld des Haftenden. Auf den Haftenden geht die Steuerschuld nicht über, vielmehr tritt der Anspruch des FA auf Haftung für eine bestimmte Steuerschuld neben die Steuerforderung des FA. Es besteht weder nach steuerrechtlichen noch nach zivilrechtlichen Vorschriften eine Akzessorietät dahin gehend, dass es für das Entstehen, den Fortbestand und die Geltendmachung einer Haftungsschuld auf die Festsetzung der zugrunde liegenden Steuerschuld ankommt. Der Haftungsanspruch des FA kann vielmehr unmittelbar nach seiner Entstehung gegenüber dem Haftenden eigenständig durch Haftungsbescheid geltend gemacht werden, ohne dass ein Steuerbescheid hätte erlassen oder gar bestandkräftig werden müssen (vgl. BFH-Entscheidungen vom 2. Februar 1994 II R 7/91, BFHE 173, 306, BStBl II 1995, 300, und vom 12. Oktober 1999 VII R 98/98, BFHE 190, 25, BStBl II 2000, 486). Selbst wenn in dem Schreiben des Klägers vom 17. November 1999 ein Einspruch gegen die Steuerbescheide gesehen werden könnte, wäre das FA im Streitfall nicht daran gehindert gewesen, vor dessen Bescheidung gegen den Kläger den streitbefangenen Haftungsbescheid zu erlassen.
Im Übrigen hat das FG in seinem Urteil auch nicht zu der Frage Stellung genommen, ob das Schreiben des Klägers vom 17. November 1999, mit dem dieser die Steuerbescheide an das FA zurückgesandt hatte, als Einspruch gedeutet werden könnte. Aus der materiell-rechtlichen Sicht des FG kam es auf diese Frage nicht an. Vielmehr hat das FG das Vorbringen des Klägers deshalb zurückgewiesen, weil es nicht innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist des § 110 Abs. 2 AO 1977 erfolgte. Auf das Vorliegen von Gründen, die eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen würden, hat sich der Kläger in seiner Beschwerdeschrift jedoch nicht berufen und auch diesbezüglich keinen Verfahrensmangel des erstinstanzlichen Erkenntnisses gerügt.
d) Entgegen der Ansicht des Klägers hat das FG den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör nicht dadurch verletzt, dass es ohne mündliche Verhandlung entschieden hat. Der Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör ist verletzt, wenn ein Urteil ohne mündliche Verhandlung ergeht und das Einverständnis der Beteiligten nach § 90 Abs. 2 FGO hierzu nicht vorliegt (vgl. Senatsurteil vom 5. November 1991 VII R 64/90, BFHE 166, 415, BStBl II 1992, 425). Haben die Beteiligten allerdings auf mündliche Verhandlung verzichtet, kann das Gericht nach Aktenlage entscheiden, ohne den Anspruch auf rechtliches Gehör zu verletzen. Als prozesserhebliche Erklärung, die grundsätzlich unwiderruflich ist, führt der wirksame Verzicht auf mündliche Verhandlung auch zur Verwirkung des Rechts, sich im anschließenden Rechtsmittelverfahren auf eine Verletzung des Grundsatzes der Mündlichkeit zu berufen (Stöcker in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 90 FGO Rdnr. 46, m.w.N.). Im Streitfall hat der frühere Prozessvertreter des Klägers in seinem Schriftsatz vom 10. Juli 2001 dem FG mitgeteilt, dass er und der Kläger einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zustimmen. Ein Widerruf dieses Verzichts ist nach der Rechtsprechung des BFH nur in Ausnahmefällen bei wesentlicher Änderung der Verfahrenslage zulässig (vgl. BFH-Entscheidung vom 21. September 1989 V R 55/84, BFH/NV 1990, 353). Dabei ist der Widerruf eindeutig zu erklären; schlüssiges Verhalten reicht nicht aus (BFH-Entscheidung vom 8. Juni 1994 IV R 9/94, BFH/NV 1995, 129). Das Schreiben des zweiten Prozessbevollmächtigten vom 14. Mai 2002, in dem dieser mitteilt, dass er die Prozessführung und die bisher gestellten Anträge übernehme, kann nach Auffassung des Senats nicht als ein eindeutiger Widerruf des Verzichts auf mündliche Verhandlung gedeutet werden. Darüber hinaus ist im Wechsel des Prozessbevollmächtigten keine wesentliche Änderung der Verfahrenslage zu sehen, die einen Widerruf des Verzichts auf mündliche Verhandlung ausnahmsweise gerechtfertigt erscheinen lassen würde. Nach der Rechtsprechung des BFH bleibt das vom Bevollmächtigten erklärte Einverständnis mit einer Entscheidung ohne vorangegangene mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 FGO) auch dann wirksam, wenn der Kläger einen weiteren Prozessbevollmächtigten bestellt (BFH-Beschluss vom 21. Juli 1988 X R 92/87, BFH/NV 1989, 187).
Fundstellen