Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstreckung der Befangenheitsbesorgnis auf Nebenstreitpunkte; Anspruch auf Überlassung von Kopien der Gerichtsakten
Leitsatz (NV)
Die Besorgnis der Befangenheit erstreckt sich nicht nur auf den Hauptstreitgegenstand, sondern auch auf Nebenstreitpunkte, die mit dem Hauptstreitgegenstand eine sachliche Einheit bilden.
Es besteht kein Anspruch auf Überlassung der gesamten Gerichtsakten einschließlich der Beiakten.
Normenkette
FGO § 51 Abs. 1, § 78 Abs. 1; ZPO § 42 Abs. 2
Tatbestand
Die Kläger, Antragsteller und Beschwerdeführer (Kläger) beantragten, Kopien aus den Gerichtsakten und den Beiakten zu fertigen und ihnen zu übersenden. Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle wies diesen Antrag mit Verfügung vom 28. Juli 1992 insoweit zurück, als die Kläger beantragt hatten, den Inhalt ganzer Ordner, Akten bzw. umfangreicher Hefter sowie Schriftstücke, die von den Klägern eingereicht bzw. diesen übersandt worden seien, zu kopieren. Auch seien keine Ablichtungen von Urschriften der den Klägern zugestellten Beschlüsse und den entsprechenden Zustellungsnachweisen angefertigt worden. Die Kläger beantragten die Entscheidung des Finanzgerichts Z. Durch Schreiben vom 10. Dezember 1992 teilte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle den Klägern mit, welche der beantragten Kopien nicht gefertigt worden seien. Mit Schreiben vom 12. Januar 1993 forderte der Senatsvorsitzende die Kläger auf, bis zum 19. Februar 1993 im einzelnen zu begründen, zu welcher Rechtssache weitere Kopien zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig seien. Der Vertreter der Kläger teilte daraufhin mit, daß er die Information durch den Vorsitzenden nicht für ausreichend halte. Das Finanzgericht (FG) wies den Antrag zurück.
Mit der Beschwerde, der das FG nicht abgeholfen hat, machen die Kläger die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Beschlusses geltend.
Der Beklagte (das Finanzamt - FA -) hingegen teilt die Rechtsauffassung des FG. Das FG habe - insbesondere auch unter Berücksichtigung der bereits mehrfach gewährten Akteneinsicht - den nicht detailliert begründeten Antrag zu Recht abgelehnt.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist begründet; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 155 der Finanzgerichtsordnung - FGO - i.V.m. § 575 der Zivilprozeßordnung - ZPO -; vgl. ferner Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 31. Mai 1972 II B 34/71, BFHE 105, 337, BStBl II 1972, 576; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., 1993, § 132 Rz. 10).
An der Entscheidung über die Anfertigung weiterer Kopien haben Vorsitzender Richter am FG A und Richter am FG B mitgewirkt, bei denen nach Auffassung des Senats seit Juli 1992 Befangenheit zu besorgen ist (vgl. Beschlüsse vom heutigen Tage XI B 91/92, BFH/NV 1994, 489 und XI B 95/92, BFH/NV 1994, 565).
Die Besorgnis der Befangenheit erstreckt sich nicht nur auf den Hauptstreitgegenstand, sondern auch auf die Nebenstreitpunkte, die mit dem Hauptstreitgegenstand eine sachliche Einheit bilden; bezüglich der Nebenverfahren ist in gleicher Weise Befangenheit zu besorgen. Die Befangenheitsbesorgnis erstreckt sich daher auch auf Nebenverfahren, mögen sie auch verfahrenstechnisch unter einem anderen Aktenzeichen geführt werden und streitgegenständlich nicht identisch sein. Befangenheitsrechtlich sind diese Verfahren als Einheit anzusehen (so wohl auch - konkludent - BFH-Beschluß vom 24. Mai 1993 V B 119/92, nicht amtlich veröffentlicht). Allerdings erstreckt sich die Befangenheitsbesorgnis nicht von vornherein auf alle Verfahren, die für einen Kläger bei dem betreffenden Senat anhängig sind. Insoweit müssen besondere Gründe gegeben sein, daß die in anderen Verfahren begründete Befangenheitsbesorgnis sich auch auf mit diesen Verfahren sachlich nicht verbundenen Verfahren auswirkt.
Im Streitfall steht das auf Fertigung und Übersendung von Kopien gerichtete Verfahren in einem sachlichen Zusammenhang mit dem Hauptverfahren. Die Wirkung der Befangenheitsbesorgnis erstreckt sich daher auch auf dieses Verfahren. Vorsitzender Richter am FG A und Richter am FG B hätten an der Entscheidung nicht mitwirken dürfen.
Für die erneute Entscheidung des FG wird hingewiesen auf den BFH-Beschluß vom 15. Juli 1992 II B 29/92 (BFH/NV 1993, 111), in dem ausgeführt wird, daß ein Anspruch auf Überlassung von Fotokopien der gesamten Gerichtsakten und der gesamten dem Gericht vorgelegten Akten, die einer Überlassung von Zweitakten gleichkommt, nicht besteht. Andererseits weisen die Kläger zu Recht darauf hin, daß angesichts des Umfangs der Akten die Fertigung von Abschriften überhaupt erst die sachgerechte Prozeßführung ermöglicht. Zudem ist nicht ersichtlich, daß die Kläger die für die Prozeßführung notwendigen Auszüge und Abschriften selbst ohne Schwierigkeiten herstellen könnten (vgl. Gräber/Koch, a.a.O., § 78, Tz. 11).
Fundstellen
Haufe-Index 419555 |
BFH/NV 1994, 567 |