Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzung einer Revisionszulassung nach § 116 Abs. 1 Nr. 3 und 5 FGO
Leitsatz (NV)
1. Wird eine Sache nicht i. S. d. § 92 Abs. 2 FGO aufgerufen, hat dies nicht zur Folge, daß die Vorschriften über die Öffentlichkeit verletzt sind.
2. Das Fehlen einer Begründung zu einer prozeßleitenden Entscheidung ist revisionsrechtlich nicht relevant.
Normenkette
FGO § 92 Abs. 2, § 113 Abs. 2 S. 1, § 116 Abs. 1 Nrn. 3, 5, § 128 Abs. 2
Tatbestand
Die Beteiligten streiten u. a. um die Verfassungsmäßigkeit der Begrenzung des Sonderausgabenabzugs sowie darüber, ob der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) den Einkommensteuerbescheid 1990 noch im Einspruchsverfahren insoweit gemäß § 165 der Abgabenordnung (AO 1977) für vorläufig erklären durfte.
Dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) wurde die Ladung zur mündlichen Verhandlung am 17. Februar 1993 ausweislich der Postzustellungsurkunde am 13. Januar 1993 zugestellt. Das Finanzgericht (FG) hat in der mündlichen Verhandlung vom 17. Februar 1993, in der für die Klägerin deren Prozeßbevollmächtigter aufgetreten war, die Klage abgewiesen, ohne die Revision zuzulassen. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision hat der erkennende Senat als unbegründet zurückgewiesen. Mit der auf § 119 Nr. 4, 5 und 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gestützten Revision trägt die Klägerin vor:
Die Ladung zur mündlichen Verhandlung sei nicht ordnungsgemäß gewesen, weil die Postzustellungsurkunde lediglich das allgemeine Aktenzeichen trage. Dieser Mangel könne nicht geheilt werden. Die nicht ordnungsgemäße Ladung bewirke eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, weil sich "der Kläger" nicht auf die mündliche Verhandlung habe vorbereiten können.
Bei der mündlichen Verhandlung seien die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden. Die Öffentlichkeit sei nur dann gewährleistet, wenn in der Zeugenhalle des Gerichts "ein Aufruf zur Sache mit Angabe des Sitzungssaales und des Finanzgerichts" erfolge, jedenfalls dann, wenn von der Zeugenhalle mehrere Sitzungssäle abgingen und gleichzeitig Verhandlungen bei mehreren Gerichten (z. B. Finanzgericht, Amtsgericht, Verwaltungsgericht) stattfänden. Ohne Aufruf in der Zeugenhalle könne die Öffentlichkeit nicht hergestellt werden. Das FG verfahre immer so; beispielhaft werde auf die Revisionsschriftsätze in den Verfahren ... und ... verwiesen.
Zur Frage, ob die Vorschriften über die Öffentlichkeit eingehalten seien, enthalte das Urteil keine Ausführungen und sei insoweit nicht mit Gründen versehen. Das FG habe zu der Frage der Verfassungswidrigkeit des § 32 b des Einkommensteuergesetzes (EStG) lediglich ausgeführt, das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sei "offensichtlich aussichtslos" und deshalb nicht vorgreiflich. Diese lapidare Feststellung sei keine Begründung i. S. des § 119 Nr. 6 FGO.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und das Verfahren zur anderweitigen Verhandlung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unzulässig. Die Klägerin hat Gründe für eine zulassungsfreie Revision nicht dargelegt.
1. Zur ordnungsgemäßen Besetzung des X. Senats wird verwiesen auf den Beschluß des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 22. März 1994 X R 66/93 (BFH/NV 1994, 499) und auf den im Betriebs-Berater 1994 Beilage 11 zu Heft 17, S. 1 ff. abgedruckten Beschluß der Vereinigten Senate des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 5. Mai 1994 VGS 1--4/93, insbesondere auf die Ausführungen auf S. 5 zum Recht des Vorsitzenden, den Berichterstatter "aus demKreis der Spruchgruppe" auszuwählen, "die durch Mitwirkungsgrundsätze festgelegt ist". Die einschlägigen ergänzenden Geschäftsverteilungspläne des X. Senats entsprechend schon jetzt den verschärften Grundsätzen, die der BGH erst für die Zeit ab 1995 fordert.
2. Selbst wenn man aus den Rechtsausführungen der Klägerin zur Bedeutung des "Aufrufs der Sache" zu ihren Gunsten die -- für den Streitfall nicht näher substantiierte -- Behauptung entnähme, das FG habe die Sache nicht i. S. des § 92 Abs. 2 FGO aufgerufen, rechtfertigt dies nicht die Zulassung der Revision.
Wird eine Sache nicht i. S. des § 92 Abs. 2 FGO aufgerufen, hat dies nicht die Rechtsfolge, daß die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt wären. Eine Verletzung der Pflicht zum Aufruf der Sache ist nur unter dem rechtlichen Gesichtspunkt einer Versagung des rechtlichen Gehörs von Bedeutung (z. B. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 92 Rz. 6; Senatsbeschluß vom 25. Juli 1994 X R 51/93, BFH/NV 1995, 233, m. w. N.).
Die Rüge der Versagung rechtlichen Gehörs fällt nicht unter die in § 116 Abs. 1 FGO abschließend aufgezählten Verfahrensmängel (BFH-Urteil vom 29. November 1985 VI R 13/82, BFHE 145, 125, BStBl II 1986, 187) und kann nur mit der Nichtzulassungsbeschwerde geltend gemacht werden. Im übrigen hat die Klägerin die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht schlüssig gerügt (zu den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Rüge z. B. Senatsbeschluß vom 29. Juli 1993 X B 210/92, BFH/NV 1994, 382), denn sie hat nicht vorgetragen, wozu ihr in der mündlichen Verhandlung für sie aufgetretener Prozeßbevollmächtigter sich nicht hat äußern können.
3. Die Rüge der -- wegen Verstoßes gegen § 3 des Verwaltungszustellungsgesetzes -- nicht ordnungsgemäßen Ladung enthält grundsätzlich die Behauptung, der Beteiligte sei "im Verfahren nicht nach den Vorschriften des Gesetzes vertreten" gewesen (§ 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO). Die unter § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO fallenden Sachverhalte sind dadurch gekennzeichnet, daß der Beteiligte überhaupt nicht vertreten gewesen ist (z. B. BFH-Beschluß in BFH/NV 1994, 382 m. w. N.). Ein Verfahrensmangel liegt deshalb offensichtlich nicht vor, wenn -- wie im Streitfall -- der Beteiligte in der mündlichen Verhandlung durch seinen Prozeßbevollmächtigten vertreten war.
4. Eine Entscheidung ist nur dann "nicht mit Gründen versehen" i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO, wenn jegliche Begründung fehlt oder lediglich inhaltslose oder unverständliche Wendungen niedergeschrieben sind, die nicht erkennen lassen, von welchen Erwägungen das Gericht ausgegangen ist, und die eine Überprüfung des Rechtsstandspunktes nicht ermöglichen, oder wenn ein selbständiger Anspruch bzw. ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen worden ist. Ein Urteil ist nicht bereits dann nicht mit Gründen versehen, wenn seine Begründung lückenhaft, unzulänglich oder nicht überzeugend ist (z. B. BFH-Beschluß in BFH/NV 1994, 499).
a) Prozeßleitende Entscheidungen des Vorsitzenden wie hier die -- im übrigen nicht in der mündlichen Verhandlung, sondern erstmals im Revisionsverfahren -- beanstandete Entscheidung über die Art und Weise des "Aufrufs zur Sache" sind nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 128 Abs. 2 FGO) und deshalb nach § 113 Abs. 2 Satz 1 FGO nicht zu begründen. Das Fehlen einer Begründung kann deshalb insoweit revisionsrechtlich nicht relevant sein.
b) Das FG hat verfassungsrechtliche Zweifel bezüglich § 32 b EStG unter Hinweis auf das Urteil des BFH vom 29. April 1988 VI R 74/86 (BFHE 153, 363, BStBl II 1988, 674) verneint. Ob sich die Klägerin dieser Auffassung anschließen kann, ist im Rahmen des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO nicht von Bedeutung.
Fundstellen