Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulassungsfreie Revision: vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts bei Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter
Leitsatz (NV)
- § 6 Abs. 1 FGO, wonach der erkennende Senat des FG den Rechtsstreit einem seiner Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen kann, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, verstößt nicht gegen Verfassungsrecht, insbesondere nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
- Die Unterlassung der vorherigen Anhörung der Beteiligten bei der Übertragung auf den Einzelrichter kann die zulassungsfreie Revision gemäß § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO nicht begründen.
- Die namentliche Benennung des Einzelrichters in dem Übertragungsbeschluß ist nicht notwendig.
Normenkette
FGO § 116 Abs. 1 Nr. 1, § 6 Abs. 1; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2
Tatbestand
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage, mit der der Kläger und Revisionskläger (Kläger) den Abzug von Kinderfreibeträgen von 7 000 DM pro Kind, einen Grundfreibetrag von 20 000 DM und der Versicherungsbeiträge in voller Höhe begehrte, als unzulässig ab. Zur Begründung führte es aus, die Klage sei rechtsmißbräuchlich. Dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers sei bei Klageerhebung bekannt gewesen, daß weder das Einspruchs- noch das Klageverfahren vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in einschlägigen Musterverfahren (zur Höhe des im Streitjahr zu berücksichtigenden Kinderfreibetrags pro Kind und zur Höhe des im Streitjahr zu berücksichtigenden Grundfreibetrags) Erfolg haben konnte. Die Erhebung der Untätigkeitsklage sei daher im Hinblick auf den Zweck des § 46 der Finanzgerichtsordnung (FGO) sinnlos. Die mißbräuchlich erhobene Untätigkeitsklage könne nicht in die Zulässigkeit hineinwachsen. Eine Aussetzung des Verfahrens komme nicht in Betracht. Die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter gemäß § 6 FGO sei unanfechtbar. Sie sei auch nicht greifbar gesetzeswidrig; Gründe für eine Rückübertragung auf den Senat seien nicht gegeben. Das formularmäßige, nach Urteilsverkündung beim FG eingegangene Ablehnungsgesuch des Klägers gegen den Vorsitzenden Richter und den im Streitfall erkennenden Einzelrichter sei unzulässig. Es sei keine konkret auf das betreffende Verfahren bezogene Befangenheit des Richters glaubhaft gemacht geworden.
Mit seiner auf § 116 FGO gestützten Revision rügt der Kläger die Verletzung von Bundesrecht; insbesondere der Art. 101 und 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) sowie des § 119 Nr. 1 und 6 FGO und des § 74 FGO.
Zur Begründung trägt er vor, der Einzelrichter sei nur dann der gesetzliche Richter, wenn er unter Beachtung rechtsstaatlicher Gesichtspunkte zum Einzelrichter ernannt worden sei. Gegen die Vorschrift des § 6 FGO bestünden verfassungsrechtliche Bedenken. Die Entscheidungsgründe enthielten zur Frage des ohne vorherige Gewährung rechtlichen Gehörs beauftragten Einzelrichters keine Ausführungen, obwohl es sich bei der Beauftragung eines Einzelrichters um eine Sachentscheidungsvoraussetzung handle, die jederzeit von Amts wegen zu prüfen sei.
Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und den Rechtsstreit an das FG zurückzuverweisen. Außerdem beantragt er, die Kosten des Revisionsverfahrens nicht zu erheben. Vorsorglich rügt er die Verletzung des gesetzlichen Richters bei der Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) über diese Revision und beantragt die Aussetzung des Verfahrens.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Entscheidungsgründe
1. Der Senat ist vorschriftsmäßig besetzt. Die Verfügung der Vorsitzenden des XI. Senats vom 11. Dezember 1998 über die Mitwirkung der Senatsmitglieder an den Verfahren für das Geschäftsjahr 1999 entspricht den Anforderungen des Art. 101 GG und des § 4 FGO i.V.m. § 21 g des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG). Die Verfügung legt abstrakt fest, welche Richter des erkennenden Senats im Geschäftsjahr 1999 an den einzelnen Entscheidungen mitzuwirken haben. Sie entspricht den Vorgaben des BVerfG-Beschlusses vom 8. April 1997 1 PBvU 1/95 (BVerfGE 95, 322, BStBl II 1997, 672). Durch diese Entscheidung ist der Antrag nach § 74 FGO gegenstandslos geworden.
2. Die Revision ist unzulässig; sie ist nicht zugelassen worden, ein Verfahrensmangel i.S. des § 116 Abs. 1 FGO ist nicht schlüssig gerügt worden.
Sie ist durch Beschluß zu verwerfen (§ 126 Abs. 1 FGO).
Eine zulassungsfreie Verfahrensrevision setzt voraus, daß innerhalb der Revisionsbegründungsfrist ein Mangel i.S. des § 116 FGO schlüssig gerügt wird. Ein Verfahrensmangel ist schlüssig gerügt, wenn die zu seiner Begründung vorgetragenen Tatsachen ―ihre Richtigkeit unterstellt― einen Mangel i.S. von § 116 Abs. 1 FGO ergeben. Die zur Begründung des Mangels erforderlichen Tatsachen müssen lückenlos vorgetragen werden (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschluß vom 2. August 1996 XI R 50/95, BFH/NV 1997, 134).
a) Der Kläger hat keine konkreten Tatsachen vorgetragen, die geeignet erscheinen, eine unvorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts i.S. des § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO darzutun.
Das FG war gemäß § 6 Abs. 1 FGO berechtigt, den Rechtsstreit einem seiner Mitglieder als Einzelrichter zu übertragen.
Die Regelung verstößt nicht gegen Verfassungsrecht, insbesondere nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (BFH-Beschlüsse vom 10. September 1996 IV R 51/94, BFH/NV 1997, 242; vom 27. März 1998 X R 161/96, BFH/NV 1998, 1487 und X R 105/96, BFH/NV 1998, 1488, m.w.N.; Buciek in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 6 FGO Rz. 14 ff.).
Unabhängig von der Frage, ob eine vorherige Anhörung der Beteiligten, die in § 6 Abs. 1 FGO ―im Unterschied zu § 6 Abs. 3 FGO― nicht vorgesehen ist, geboten ist (vgl. hierzu Urteil des FG Baden-Württemberg vom 16. Oktober 1997 10 K 130/97, Entscheidungen der Finanzgerichte 1998, 124, Revision IX R 94/97; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 6 FGO, Tz. 9; Buciek, a.a.O., Rz. 27 f.), könnte ihre Unterlassung nicht die zulassungsfreie Revision gemäß § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO eröffnen (vgl. BFH-Beschluß in BFH/NV 1998, 488, m.w.N.).
Die namentliche Benennung des Einzelrichters ist nicht notwendig (vgl. BFH-Urteil vom 16. Dezember 1997 IX R 22/95, BFH/NV 1998, 720; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, § 6, Rz. 7). Die Beteiligten können den Namen des zuständigen Richters jederzeit aus dem senatsinternen Mitwirkungsplan in Erfahrung bringen.
Der Kläger hat nicht dargetan, daß die Übertragung nicht dem maßgeblichen Mitwirkungsplan entsprochen habe und "greifbar gesetzeswidrig" gewesen sei (vgl. BFH-Beschlüsse vom 19. Januar 1994 II R 69/93, BFH/NV 1994, 725; vom 17. April 1996 VI R 105/95, BFH/NV 1996, 767; vom 17. April 1997 III R 39/96, BFH/NV 1997, 860).
b) Der Revisionsgrund des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO ist ebenfalls nicht schlüssig gerügt.
Nach der Rechtsprechung des BFH fehlen einer Entscheidung die Gründe zwar nicht nur dann, wenn die Entscheidung überhaupt nicht oder nicht rechtzeitig mit Gründen versehen worden ist. Der Revisionsgrund des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO liegt auch vor, wenn das FG einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat, der selbständige Anspruch oder das selbständige Angriffs- oder Verteidigungsmittel in dem Verfahren vor dem FG geltend gemacht worden ist und es sich um einen wesentlichen Streitpunkt gehandelt hat.
Mängel in der Begründung sind nicht erkennbar. Ausführungen zur Übertragung auf den Einzelrichter sind nicht notwendiger Teil des Urteils, sondern Gegenstand des Übertragungsbeschlusses, der ―da unanfechtbar (§ 6 Abs. 4 Satz 1 FGO)― nicht begründet zu werden braucht.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO. Gründe, gemäß § 8 des Gerichtskostengesetzes von der Erhebung der Gerichtskosten abzusehen, sind nicht gegeben.
Fundstellen
Haufe-Index 171165 |
BFH/NV 1999, 1242 |