Entscheidungsstichwort (Thema)
Anscheinsbeweis/Indizienbeweis
Leitsatz (NV)
Der Nachweis des Zugangs eines Verwaltungsakts nach § 122 Abs. 2 AO 1977 kann nicht (mehr) nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises geführt werden. Das FG kann aber im Zusammenhang mit der festgestellten Absendung des Bescheids aufgrund bestimmter Verhaltensweisen des Steuerpflichtigen bzw. seines Beraters im Wege der freien Beweiswürdigung zu dem Ergebnis gelangen, daß der Bescheid dem Steuerpflichtigen zugegangen ist. Es handelt sich hierbei jedoch um einen Indizienbeweis und nicht um einen Beweis des ersten Anscheins. Die - fehlerhafte - Verwendung des Rechtsbegriffs Beweis des ersten Anscheins schließt die Verwertbarkeit des nach anderen Grundsätzen gewonnenen Beweises (Indizienbeweis) durch das FG nicht aus.
Normenkette
AO 1977 § 122 Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) führte auf den 1. Januar 1977 für das Grundstück ... eine Nachfeststellung durch, weil durch die Teilung eines Grundstücks eine wirtschaftliche Einheit neu entstanden war. Er bewertete das Grundstück als Einfamilienhaus. Vor Bekanntgabe des Feststellungsbescheids erfuhr das FA, daß der Kläger und Revisionskläger (Kläger) das Grundstück im Jahre 1977 erworben hatte. Eine Ausfertigung des Nachfeststellungsbescheids auf den 1. Januar 1977 wurde dem Kläger zusammen mit dem Bescheid über die Zurechnungsfortschreibung auf den 1. Januar 1978 übersandt. Laut Absendevermerk auf den Berechnungsbögen erfolgte die Aufgabe zur Post am 28. Februar 1979. Einspruch wurde nicht eingelegt.
In der Anlage zum Einkommensteuerbescheid 1977 vom 27. November 1981 teilte das FA dem Kläger mit, daß sich die Besteuerung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung nach § 21a des Einkommensteuergesetzes (EStG) richte. Im Rahmen des Einspruchsverfahrens gegen die Einkommensteuerbescheide 1977 bis 1979 wies das FA den Kläger in einem Schreiben vom 2. April 1982 darauf hin, daß das Grundstück als Einfamilienhaus bewertet worden sei und diese Artfeststellung auch für die Einkommensbesteuerung Bindungswirkung erzeuge. Hierauf entgegnete der damalige Berater des Klägers mit Schreiben vom 4. Mai 1982, die Feststellung der Grundstücksart Einfamilienhaus im Einheitswertbescheid sei unzutreffend.
Erstmals mit Schriftsatz vom 3. Januar 1983 behauptete der Kläger gegenüber der Einheitswertstelle, die Einheitswertbescheide nicht erhalten zu haben und beantragte gleichzeitig die Artfeststellung gemäß §§ 173 Abs. 1 Nr. 2, 181 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) in Zweifamilienhaus zu ändern. Das FA lehnte den Antrag mit Verfügung vom 7. März 1983 ab. Den dagegen eingelegten Einspruch wies es mit Einspruchsentscheidung vom 16. September 1983 als unbegründet zurück.
Die Klage hatte ebenfalls keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) sah den Zugang des Feststellungsbescheids nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises als erwiesen an (Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 28. November 1973 I R 66/71, BFHE 110, 502, BStBl II 1974, 70). Es lägen nämlich mehrere Tatsachen vor, die darauf schließen ließen, daß der Kläger den Einheitswertbescheid erhalten habe. So habe das FA den Kläger bei der Einkommensteuerveranlagung für mehrere Veranlagungszeiträume nicht nur darauf hingewiesen, daß es an die von der Einheitswertstelle getroffenen Feststellungen gebunden sei, sondern es habe auch daraus für ihn nachteilige Folgerungen gezogen, als es die Ermittlung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung nach § 21a EStG vorgenommen habe. Bei dieser Sachlage wende sich ein Steuerpflichtiger sofort gegen die ihn belastenden Grundlagenbescheide der Einheitswertstelle, zumal wenn er - wie der Kläger - durch einen Steuerberater vertreten werde. Dies habe der Kläger jedoch unterlassen. Darüber hinaus müsse aus dem Schreiben des Steuerberaters vom 4. Mai 1982 gefolgert werden, daß dem Kläger oder seinem Berater der Einheitswertbescheid bekannt gewesen sei, denn seine Existenz sei nicht bestritten worden. Eine Änderung des Bescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 scheide aus, weil den Kläger ein grobes Verschulden daran treffe, daß die Tatsachen erst nachträglich bekanntgeworden seien. Schon nach seinem eigenen Vortrag habe das streitgegenständliche Grundstück zwei Wohnungen mit eigenen Zugängen besessen, so daß er oder sein Berater diese Tatsachen dem FA noch innerhalb der Rechtsbehelfsfrist hätten bekannt geben müssen.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts und verfolgt sein Klageziel weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
1. Zutreffend ist das FG davon ausgegangen, daß der Einheitswertbescheid dem Kläger zugegangen ist.
Nach der neueren Rechtsprechung des BFH (Urteil vom 14. März 1989 VII R 75/85, BFHE 156, 66, BStBl II 1989, 534), auf die sich der Kläger beruft, kann der Nachweis des Zugangs eines schriftlichen Verwaltungsakts nach § 122 Abs. 2 AO 1977 von der Finanzbehörde nicht (mehr) nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises (Primafacie-Beweis) geführt werden. Das FG kann aber im Zusammenhang mit der festgestellten Absendung des Bescheids aufgrund bestimmter Verhaltensweisen des Steuerpflichtigen bzw. seines Beraters im Wege der freien Beweiswürdigung nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO zu dem Ergebnis gelangen, daß dem Steuerpflichtigen - trotz seines Bestreitens - der Bescheid zugegangen sein muß. Es handelt sich hierbei jedoch um einen Indizienbeweis und nicht um einen Beweis des ersten Anscheins (BFH in BFHE 156, 66, 72, BStBl II 1989, 534, 537).
Im Streitfall ergibt sich aus den Urteilsgründen, daß das FG - entgegen seiner Bezugnahme auf den Beweis des ersten Anscheins - in freier Beweiswürdigung aufgrund von Indizien zu der Schlußfolgerung gelangt ist, dem Kläger sei der Einheitswertbescheid zugegangen. Denn das FG bezieht sich für das von ihm gewonnene Ergebnis nicht - wie beim Anscheinsbeweis - auf allgemeine Erfahrensregeln, die es auf einen typischen Geschehensablauf anwendet. Es beruft sich gerade nicht darauf - was nach der Entscheidung in BFHE 156, 66, BStBl II 1989, 534 unzulässig wäre -, daß der Zugang einer nachweislich zur Post gegebenen Briefsendung beim Empfänger typisch sei. Vielmehr leitet das FG seine Folgerung, daß der Kläger den Bescheid tatsächlich erhalten hat, aus den Tatsachen (Indizien) ab, daß sich der steuerlich beratene Kläger in Kenntnis der Bewertung des Grundstücks als Einfamilienhaus und der damit für ihn nachteiligen Folgen (Ermittlung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung nach § 21a EStG) nicht sofort gegen die Einheitswertfeststellung gewandt hatte und daß im Schreiben vom 4. Mai 1982 die Existenz dieses Bescheids nicht bestritten wurde. Die tatsächliche Würdigung des FG, daß sich in einem solchen Fall ein Steuerpflichtiger sofort gegen die ihn belastenden Grundlagenbescheide der Einheitswertstelle wendet und den Zugang bestreitet, ist im Hinblick auf die dem FG obliegende freie Beweiswürdigung revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die - fehlerhafte - Verwendung des Rechtsbegriffs Beweis des ersten Anscheins schließt die Verwertbarkeit des nach anderen Grundsätzen gewonnenen Beweises durch das FG nicht aus (BFH-Urteil vom 14. Januar 1992 VII R 112/89, BFH/NV 1992, 365).
Das Revisionsgericht ist an die Beweiswürdigung des FG gemäß § 118 Abs. 2 FGO gebunden, wenn sie verfahrensrechtlich einwandfrei zustande gekommen und nicht durch Denkfehler oder die Verletzung von Erfahrungssätzen beeinflußt ist, auch wenn sie nicht zwingend, sondern nur möglich ist (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 118 Rdnr. 40 m.w.N.). Diese Voraussetzungen liegen hinsichtlich der Schlußfolgerung des FG, daß dem Kläger der Einheitswertbescheid wirksam bekanntgegeben worden ist, vor.
2. Soweit das FG die Voraussetzungen einer Änderung des Einheitswertbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 verneint hat, ist dies revisionsrechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden.
Fundstellen
Haufe-Index 419073 |
BFH/NV 1994, 141 |