Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Die Unterlassung eines Hinweises an den Steuerpflichtigen auf die Verböserungsabsicht im Einspruchsverfahren stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, der zu einer Zurückverweisung des Falles an das Finanzamt nach § 284 Abs. 1 Satz 2 AO führt.
Normenkette
AO § 205 Abs. 3, § 243/1, § 246; FGO § 76/1; AO § 243/3, § 248/1, § 284 Abs. 1 S. 2; FGO § 100/2/2
Tatbestand
Der Abgabepflichtige ist Eigentümer eines landwirtschaftlichen Anwesens mit einem Einheitswert von 17.900 DM. In dem Auseinandersetzungsvertrage vom 19. Dezember 1944 hat er folgende Lasten übernommen:
das auf der Leibgedingsbestellung vom 31. Mai 1935 beruhende Leibgedinge der Eheleute A.
die auf dem übergabe- und Auseinandersetzungsvertrage vom 29. Januar 1922 beruhenden Ansprüche auf Wohnung und verschiedene Reichnisse der B. und C.
Der Abgabepflichtige hat die genannten Lasten in seiner Erklärung zur Vermögensabgabe als Abzugsposten geltend gemacht.
Gegen die Veranlagung zur Vermögensabgabe mit einem Vierteljahresbetrage von 5,80 DM legte der Abgabepflichtige Einspruch ein; er beantragte, die Lasten höher zu bewerten, trug weitere Einzelheiten vor und brachte eine ärztliche Bescheinigung über die seit 1944 bestehende Arbeitsunfähigkeit der Frau A. bei. In der Einspruchsentscheidung verböserte das Finanzamt die Veranlagung und setzte einen Vierteljahresbetrag von 31,10 DM fest. Es vertrat nunmehr die Ansicht, daß anstelle der Mittelpreise des Verbrauchsortes die Bewertung der Rechte der B. und C. nach der Verwaltungsanweisung vom 4. Juli 1953 S 3530 - 5/9 - 65 367 I V Abschn. 19 - erfolgen müsse. Danach seien die Werte für derartige Naturalreichnisse nach den Richtlinien für die Bewertung der Sachbezüge für die Zwecke des Steuerabzuges vom Arbeitslohn und für die Zwecke der Sozialversicherung vom 1. August 1941 (RStBl 1941 S. 561) mit 367 DM zu ermitteln.
Das Leibgedinge der Eheleute A. könne überhaupt nicht berücksichtigt werden, da den genannten Eltern am Währungsstichtage das Recht der Verwaltung und Nutznießung nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch zugestanden sei. Der Abgabepflichtige sei am 21. Juni 1948 noch nicht 21 Jahre alt gewesen.
Auf die Berufung hat das Finanzgericht die Einspruchsentscheidung aufgehoben und die Sache zur neuerlichen Entscheidung an das Finanzamt zurückverwiesen. In der Begründung wird ausgeführt, der Abgabepflichtige sei auf die beabsichtigte Verböserung nicht hingewiesen worden. Darin liege ein wesentlicher Verfahrensmangel, da der Abgabepflichtige im andern Falle sein Rechtsmittel hätte zurücknehmen oder Tatsachen vortragen können, die für die rechtliche Beurteilung des Falles von entscheidender Bedeutung sein könnten. Wenn § 205 AO auch für das Rechtsmittelverfahren, insbesondere aber auch dann gelte, wenn eine Steuerfestsetzung nach § 243 Abs. 3 AO zuungunsten des Steuerpflichtigen geändert werden solle, so sei vom Gesetzgeber selbst das rechtliche Gehör zu einer unabdingbaren Voraussetzung für die änderung gemacht worden. Das gelte im Berufungsverfahren auch, wenn der Mangel vom Rechtsmittelführer nicht besonders geltend gemacht sei. Die durch den Verfahrensmangel verursachte Störung der prozessualen Lage des Steuerpflichtigen könne in der Berufungsinstanz nicht beseitigt werden, so daß § 284 Abs. 1 AO nicht anwendbar und die Aufhebung der Einspruchsentscheidung geboten sei. Die Kammer stütze die Zurückverweisung außerdem darauf, daß der Tatbestand noch der Ergänzung bedürfe, die an Ort und Stelle zur Ersparung von Kosten und Zeit besser vom Finanzamt als von dem 80 km entfernten Gericht veranlaßt werden könne.
In seiner Rechtsbeschwerde (Rb.) trägt der Vorsteher des Finanzamts vor, es sei Auffassungssache, ob der Sachverhalt vom Finanzamt mangelhaft aufgeklärt sei. Für die Bewertung der Reichnisse seien nach § 17 Abs. 2 des Bewertungsgesetzes die legalen Preise maßgebend. Wegen des Rechtes auf Verwaltung und Nutznießung am Vermögen des Kindes kraft elterlicher Gewalt habe das Finanzamt keine Ursache gehabt, weitere Ermittlungen anzustellen. Der Grundsatz der gleichmäßigen Anwendung der Steuergesetze sei so bedeutungsvoll, daß er in einem Rechtsmittelverfahren immer den Vorzug vor verfahrensrechtlichen Bestimmungen genießen müsse. Ein Verfahrensmangel könne, selbst wenn er wesentlich sei, nicht bewirken, daß durch seine Heilung unter Umständen eine unzutreffende gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßende Besteuerung ermöglicht werde. Es sei nicht zulässig, daß durch die Heilung des Verfahrensmangels ein Einzelner, gesehen im Verhältnis zur großen Zahl der von einem Gesetz betroffenen Personen, Vorteile erreiche. Die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs zu dieser Frage sei auch heute noch gültig. Danach könne sich ein Steuerpflichtiger nicht beschwert fühlen, wenn seine Steuern richtig festgesetzt würden. Diese Auffassung entspreche dem Volksempfinden und sei nach § 1 Abs. 2 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG) auch heute noch Rechtens.
Entscheidungsgründe
Die Rb. ist nicht begründet.
Das Finanzgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß § 205 Abs. 3 AO auch im Rechtsmittelverfahren, insbesondere aber auch im Einspruchsverfahren, gilt; darum muß das Finanzamt dem Steuerpflichtigen, wenn es den Steuerbescheid im Einspruchsverfahren zum Nachteil des Steuerpflichtigen ändern will, die Punkte, in denen es eine wesentliche Abweichung zu seinen Ungunsten beabsichtigt, zur vorherigen äußerung mitteilen. Das Unterlassen dieser Mitteilung stellt einen Verfahrensmangel dar. Fraglich ist nur, ob das Finanzgericht in solchen Fällen die Sache an das Finanzamt zurückverweisen muß, um dadurch den Steuerpflichtigen in die ihm günstigere Lage zurückzuversetzen, in der er sich vor Erlaß der Einspruchsentscheidung befand. Während die ältere Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs (vgl. u. a. Urteil II A. 545/21 vom 14. März 1922, Slg. Bd. 8 S. 344) eine solche Pflicht bejahte, hat das Urteil III e A 45/36 vom 26. August 1936 (RStBl 1936 S. 1078) unter Berufung auf § 1 StAnpG und die damals herrschende Rechtsanschauung das Interesse an einer richtigen Erfassung der steuerpflichtigen Tatbestände in den Vordergrund gestellt und gemeint, ein Steuerpflichtiger könne sich nicht beschwert fühlen, wenn er zu einer Steuer herangezogen werde, die er nach dem Gesetz schulde. Das Urteil hat daher eine Zurückverweisung der Sache durch das Finanzgericht an das Finanzamt nicht für zulässig gehalten.
Dieser Rechtsansicht, auf die sich auch der Beschwerdeführer stützt, vermag der Senat nicht zu folgen. Es trifft zwar zu, daß die materielle Richtigkeit der Steuerveranlagung ein rechtsstaatliches Prinzip ist; ein anderes rechtsstaatliches Prinzip ist aber auch das der Rechtssicherheit, das erfordert, daß die Grundsätze der Besteuerung und die Vorschriften über den Rechtsschutz gegenüber allen Steuerpflichtigen gleichmäßig angewandt werden müssen. Daß der Bundesfinanzhof dieses Prinzip nicht gering achtet, hat er in seiner Rechtsprechung zu § 92 Abs. 3 AO (vgl. u. a. Urteil II 113/53 U vom 10. Juni 1953, BStBl 1953 III S. 214, Slg. Bd. 57 S. 558) deutlich zum Ausdruck gebracht. Zu den Vorschriften, die der Gleichmäßigkeit der Besteuerung dienen, gehört auch § 205 Abs. 3 AO, der den Grundsatz auf ausreichendes rechtliches Gehör gewährleistet. Da diese Bestimmung auch für das Einspruchsverfahren gilt, wird bei ihrer Nichtbeachtung ein Recht des Steuerpflichtigen verletzt, das für gerichtliche Verfahren durch Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes garantiert ist. Eine Verletzung dieses Rechtes muß auch als schwerer Verstoß angesehen werden; die Gerichte haben den Betroffenen so zu stellen, daß er durch das unrechtmäßige Verhalten keinen Schaden erleidet. Das Finanzgericht muß daher den Steuerpflichtigen in die Lage zurückversetzen, in der er sich ohne den prozessualen Verstoß befände; das kann aber nur durch die Zurückverweisung an das Finanzamt geschehen; diese ist deshalb zu Recht erfolgt.
Wenn der Bf. demgegenüber meint, durch die Heilung eines Verfahrensmangels dürfe ein Einzelner zu keiner gegenüber anderen Steuerpflichtigen vorteilhafteren Besteuerung kommen, so muß darauf hingewiesen werden, daß das Prinzip der Rechtskraft stets dazu führen kann, daß eine fehlerhafte Veranlagung Gültigkeit erlangt. Der Grundsatz, daß rechtskräftige Veranlagungen, abgesehen von den im Gesetz vorgesehenen Ausnahmen, nicht mehr geändert werden können, ist in der AO deutlich zum Ausdruck gekommen. Der Steuerpflichtige hätte aber die Möglichkeit gehabt, den Steuerbescheid rechtskräftig werden zu lassen, indem er den Einspruch vor der verbösernden Entscheidung zurücknahm. Es kann darum nicht Rechtens sein, wenn dem Steuerpflichtigen diese Möglichkeit dadurch abgeschnitten wird, daß das Finanzamt entgegen der gesetzlichen Verpflichtung die Verböserungsabsicht vorher nicht bekanntgibt.
Daß ein solches Verfahren nicht zulässig ist und einen "besonderen Grund" zur Zurückverweisung im Sinne des § 284 Abs. 1 AO darstellt, hat auch der IV. Senat im Urteil IV 101/58 U vom 4. Juni 1959 (BStBl 1959 III S. 310) anerkannt. Das muß auch gelten, wenn im Einzelfalle das Finanzamt auf Grund einer neuen Tatsache eine Verböserung annehmen könnte. Die Frage der Zulässigkeit einer Neuveranlagung nach § 222 AO wäre einem anderen Verfahren vorbehalten und kann die hier in Rede stehende Beurteilung nicht beeinflussen.
Fundstellen
Haufe-Index 409488 |
BStBl III 1959, 472 |
BFHE 1960, 569 |
BFHE 69, 569 |