Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Ermittelt der Veranlagungsbeamte bei der Veranlagung den Gewinn deshalb falsch, weil er den Grundsatz des Bilanzenzusammenhangs nicht beachtet oder verkennt, so handelt es sich hierbei nicht um einen Rechenfehler oder eine ähnliche offenbare Unrichtigkeit, die gemäß § 92 Abs. 3 AO zur Berichtigung rechtskräftiger Steuerbescheide führen kann.
Normenkette
AO § 92 Abs. 3, § 92/2
Tatbestand
Nach Durchführung einer Betriebsprüfung fand über deren Ergebnis zwischen der Beschwerdegegnerin und Anschlußbeschwerdeführerin (abgekürzt: Bgin.) und dem Finanzamt am 21. Dezember 1953 eine Besprechung statt, bei der die Beteiligten übereinkamen, daß für zusätzliche Aktivierungen von Maschinen für den Veranlagungszeitraum II/1948 eine Sonderabsetzung für Abnutzung nach § 7 a EStG 1948 von 50 v. H. (= 15.000 DM) zugelassen und daß weitere Rückstellungen für Verluste aus schwebenden Geschäften anerkannt würden, die zum 31. Dezember 1949 mit 53.000 DM, zum 31. Dezember 1950 mit 32.000 DM und zum 31. Dezember 1951 mit 60.000 DM anzusetzen seien.
Bei den auf Grund der Betriebsprüfung erforderlich gewordenen Berichtigungsveranlagungen wurde die Sonderabsetzung für Abnutzung von 15.000 DM nicht nur für 1948/1949, sondern auch bei den Veranlagungen für 1950 und 1951 gewinnmindernd berücksichtigt. Die vereinbarten Rückstellungsposten wurden nicht als Bilanzansätze behandelt, sondern es wurden die Jahresergebnisse 1949 bis 1951 jeweils um die vollen Rückstellungsbeträge gemindert. Erst nach Rechtskraft erkannte das Finanzamt die Unrichtigkeit der Steuerbescheide, die es nun unter Hinweis auf § 92 Abs. 3 AO berichtigte.
Die nach erfolglosem Einspruch eingelegte Berufung hatte teilweise Erfolg. Hinsichtlich der falsch behandelten Rückstellungen für Verluste aus schwebenden Geschäften verneinte das Finanzgericht die Voraussetzungen des § 92 Abs. 3 AO; die mehrfache Zulassung der Sonderabsetzung für Abnutzung sah es dagegen als offenbare Unrichtigkeit im Sinne dieser Vorschrift an.
Entscheidungsgründe
Die Rb. des Vorstehers des Finanzamts ist unbegründet, die Anschlußbeschwerde muß zum Erfolg führen.
Nach § 92 Abs. 3 AO können bekanntgegebene Verfügungen berichtigt werden, soweit sie Schreib- oder Rechenfehler oder ähnliche offenbare Unrichtigkeiten enthalten. Verfügungen in diesem Sinne sind im Streitfalle die Steuerbescheide, bei denen um die Zulässigkeit der Berichtigung gestritten wird. Wann eine "ähnliche offenbare Unrichtigkeit" im Sinne von § 92 Abs. 3 AO vorliegt, hat die Rechtsprechung im Wandel der Zeit unterschiedlich beurteilt. Der Oberste Finanzgerichtshof und ihm folgend der Bundesfinanzhof haben bewußt die weite Auslegung, die die Vorschrift im Anschluß an das Gutachten des Reichsfinanzhofs Gr.S. D 9/36 vom 7. August 1936 (RStBl 1936 S. 919, Slg. Bd. 40 S. 52) erfahren hatte wieder eingeschränkt (vgl. zum Beispiel die Urteile des Bundesfinanzhofs II 113/53 U vom 10. Juni 1953, BStBl 1953 III S. 214, Slg. Bd. 57 S. 558; IV 320/53 U vom 18. Februar 1954, BStBl 1954 III S. 133, Slg. Bd. 58 S. 585; IV 486/53 U vom 18. November 1954, BStBl 1955 III S. 19, Slg. Bd. 60 S. 52). Die Grundsätze des genannten Gutachtens, nach denen in weitem Umfange die Berichtigung rechtskräftiger Veranlagungen möglich war, sind entgegen der Auffassung des beschwerdeführenden Vorstehers des Finanzamts mit dem heutigen, stark am rechtsstaatlichen Postulat der Rechtssicherheit orientierten Rechtsdenken nicht mehr vereinbar. Auf der Suche nach einem Abgrenzungsmerkmal zwischen den einem Schreib- und Rechenfehler ähnlichen und solchen Fehlern unähnlichen Unrichtigkeiten hat die Rechtsprechung des IV. Senats des Bundesfinanzhofs die sogenannte "Erklärungstheorie" entwickelt, nach welcher eine ähnliche offenbare Unrichtigkeit nur dann vorliegt, wenn bei der Erklärung des Entscheidungswillens, nicht jedoch, wenn bereits bei der Bildung des Entscheidungswillens ein Fehler unterläuft (vgl. die Urteile des Bundesfinanzhofs IV 320/52 U, a. a. O., und IV 444/53 U vom 1. Juli 1954, BStBl 1954 III S. 265, Slg. Bd. 59 S. 146). Die Parteien streiten darüber, ob die zur objektiven Unrichtigkeit der Veranlagungen für die Streitjahre führenden Fehler dem Veranlagungsbeamten diesseits oder jenseits dieser Grenze unterlaufen sind.
Der Senat stimmt der Vorentscheidung darin zu, daß mit der Vereinbarung vom 21. Dezember 1953 der Entscheidungswille des Finanzamts noch nicht abschließend gebildet war. Zwischen der Vereinbarung vom 21. Dezember 1953 und dem Erlaß der Berichtigungsbescheide war sehr wohl Raum für weitere Entscheidungen, nämlich für die Entscheidungen über die Auswertung der Vereinbarung, wie überhaupt des gesamten Ergebnisses der Betriebsprüfung. Die Auswertung des Betriebsprüfungsberichts, zu dem die Vereinbarung vom 21. Dezember 1953 nur einen Annex bildet, vollzieht sich aber grundsätzlich im Bereich des überlegens und Wertens. Das zeigt auch das Vorgehen des Veranlagungsbeamten bei Durchführung der Berichtigungsveranlagungen. Wenn der Beamte bei der auf Grund der Vereinbarung vom 21. Dezember 1953 erforderlich gewordenen erneuten Gewinnermittlung die zugelassenen Rückstellungen für Verluste aus schwebenden Geschäften in der Weise berücksichtigt hat, daß er den Bilanzposten "Rückstellungen" jeweils um die Bilanzansätze der zusätzlichen Rückstellung erhöhte und den Bilanzsummenausgleich durch entsprechende Verminderung des Gewinns herbeiführte, so handelt es sich hierbei nicht um ein Versehen bei der Erklärung des Entscheidungswillens, sondern um eine den Entscheidungswillen selbst beeinflussende falsche Schlußfolgerung. Ob der Beamte bei genauerer überlegung die Unrichtigkeit seiner Schlußfolgerung hätte erkennen können, ist unerheblich.
Dasselbe gilt, im Gegensatz zur Auffassung der Vorinstanz, auch hinsichtlich der gewährten Sonderabsetzung für Abnutzung. Daß hier der gemachte Fehler noch offensichtlicher ist, bedeutet nicht, daß er nicht auch auf Grund falscher überlegungen zustande gekommen ist. Der Veranlagungsbeamte hatte hier in der Prüferbilanz zum 31. Dezember 1949 den Aktivposten "Maschinen" und damit die Bilanzsumme der Aktivseite um die zugelassene Sonderabsetzung für Abnutzung von 15.000 DM gemindert. Ebenso ist er - folgerichtig - auch bei den Bilanzen 1951 und 1952 verfahren. Um nun wiederum den Ausgleich der Bilanzsummen herzustellen, hat er auch den Gewinn dieser drei Jahre um 15.000 DM gemindert, was für 1949 richtig war, während für 1950 und 1951 der Bilanzsummenausgleich durch entsprechende Minderung des Kapitals hätte erfolgen müssen. Mag das insoweit bei den Berichtigungsveranlagungen gewonnene Ergebnis auch widersinnig sein und der Vereinbarung vom 21. Dezember 1953 widersprechen, so ist doch dieses Ergebnis auf Grund - allerdings falscher - überlegungen zustande gekommen. Während bei der Berücksichtigung der zusätzlichen Rückstellungen der Beamte den Bilanzenzusammenhang außer acht gelassen hat, hat er bei der Berücksichtigung der Sonderabsetzung für Abnutzung den Bilanzenzusammenhang - nun aber auf falsche Weise - herzustellen versucht. In beiden Fällen erfolgte der Fehler im Rahmen der Bildung des Entscheidungswillens.
In neuerer Zeit sind Bedenken gegen die sogenannte "Erklärungstheorie" erhoben worden, die als zu eng bezeichnet wird (vgl. Barske, Reichsabgabenordnung, 5. Aufl., S. 99, und in "Der Betriebs-Berater" 1958 S. 1235; Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, § 92 Anm. 8; Felix in "Finanz- Rundschau" 1960 S. 35; siehe auch Urteil des Senats I 270/60 U vom 17. Januar 1961, BStBl 1961 III S. 144). Es wird insbesondere darauf hingewiesen, daß auch der in § 92 Abs. 3 AO angeführte Rechenfehler im Bereich der Willensbildung unterlaufen, das heißt die Bildung des Entscheidungswillens beeinflussen kann. Dem ist zuzustimmen. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist § 92 Abs. 3 AO aber dann ausgeschlossen, wenn auch nur die Möglichkeit besteht, daß falsche rechtliche Erwägungen zu der unrichtigen Entscheidung geführt haben (vgl. das genannte Urteil I 270/60 U, a. a. O., und die dort angeführte Rechtsprechung). Im Streitfalle liegt nicht nur ein mechanischer Rechenfehler vor. Der Veranlagungsbeamte hat in den Streitfragen den Grundsatz des Bilanzenzusammenhangs nicht beachtet bzw. falsch angewendet. Hierin liegt ein Rechtsverstoß (kein Rechenfehler), der § 92 Abs. 3 AO ausschließt. Es mag durchaus zutreffen, daß dem Beamten der Rechtsbegriff des Bilanzenzusammenhangs geläufig war. Das ändert aber nichts daran, daß der Beamte ihn bei der Streitfrage verkannt hat. In der Verkennung eines Rechtsbegriffs liegt, wie auch in dem Urteil des Bundesfinanzhofs IV 486/53 U, a. a. O., zum Ausdruck kommt, keine offenbare Unrichtigkeit im Sinne des § 92 Abs. 3 AO. Es wurde eine gesetzliche Bestimmung nicht richtig angewendet. Dem steht auch nicht entgegen, daß bei den übrigen Bilanzansätzen keine Verstöße gegen den Bilanzenzusammenhang vorliegen. Für die Streitfrage kommt es ausschließlich auf die umstrittenen Ansätze an. Eine Berichtigung der rechtskräftigen Veranlagungen für die Streitjahre nach § 92 Abs. 3 AO ist demnach nicht möglich. Das schließt aber nicht aus, daß im Rahmen des Bilanzenzusammenhangs, der auch für fehlerhafte Ansätze gilt, in späteren Jahren ein Ausgleich erfolgt; denn die fehlerhafte Gewinnermittlung muß im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen in der für die nächsten Jahre maßgebenden Bilanz zum Ausdruck gebracht werden.
Fundstellen
Haufe-Index 410219 |
BStBl III 1961, 502 |
BFHE 1962, 649 |
BFHE 73, 649 |