Leitsatz (amtlich)
Lag dem Finanzamt erst bei Bekanntgabe des Steuerbescheides, nicht aber bereits bei Zeichnung des Eingabebogens die Mitteilung über den Erlaß eines Grundlagenbescheides vor, so ist es berechtigt, den Steuerbescheid nach § 175 Nr. 1 AO 1977 zu ändern.
Normenkette
AO 1977 § 175 Nr. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) machte in seiner Einkommensteuererklärung für 1976 bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung folgende Angaben:
Überschuß aus dem Grundstück in B. 8 274 DM
Verlust aus der Grundstücksgemeinschaft in S. ./. 7 296 DM
Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung 978 DM
Nach einer Mitteilung über die einheitliche und gesonderte Feststellung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung für die Grundstücksgemeinschaft in S. durch das Lagefinanzamt, die beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) am 28. September 1977 einging, betrug der Verlustanteil des Klägers aus dieser Grundstücksgemeinschaft 3 536 DM. Das FA setzte im Einkommensteuerbescheid für 1976 vom 2. November 1977 entsprechend der Einkommensteuererklärung die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung mit 978 DM an.
Am 13. Dezember 1977 erließ das FA einen nach § 175 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) berichtigten Einkommensteuerbescheid für 1976, in welchem unter Verwertung der Mitteilung des Lagefinanzamts die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung nunmehr mit 4 738 DM (8 274 DM ./. 3 536 DM) angesetzt wurden.
Nach erfolglosem Einspruchsverfahren gab das Finanzgericht (FG) der Klage statt. Das FG ist der Ansicht, das FA sei nicht berechtigt gewesen, den Einkommensteuerbescheid vom 2. November 1977 zu ändern. Die Voraussetzungen des § 175 Nr. 1 AO 1977 hätten nicht vorgelegen. Nach § 175 Nr. 1 AO 1977 sei ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid, dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukomme, erlassen, aufgehoben oder geändert werde. Liege ein derartiger Grundlagenbescheid dem FA bei Erlaß des Folgebescheids bereits vor, ohne daß der Grundlagenbescheid berücksichtigt werde, seien die Voraussetzungen dieser Norm nicht erfüllt; denn die Vorschrift betreffe ausdrücklich nur den Fall, daß nach Erlaß des Folgebescheids ein Grundlagenbescheid erlassen, aufgehoben oder geändert werde. Sie sei mithin nicht anwendbar, wenn - wie im Streitfall - der Grundlagenbescheid bei Erlaß des Folgebescheids bereits ergangen und bei dem für den Folgebescheid zuständigen FA eingegangen sei, aus irgendwelchen Gründen bei Erlaß des Folgebescheids aber nicht berücksichtigt werde. Eine ausdehnende Anwendung des § 175 AO 1977 auch auf diese Fälle komme wegen des Ausnahmecharakters der Vorschrift nicht in Betracht.
Das FA sei auch nicht zur Berichtigung nach § 129 AO 1977 berechtigt gewesen.
Desgleichen seien auch die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 im Streitfall nicht erfüllt, da dem FA bereits am 28. September 1977 und damit vor Erlaß des Einkommensteuerbescheids 1976 vom 2. November 1977 die Einkünfte des Klägers aus der Grundstücksgemeinschaft in S. bekannt gewesen seien.
Mit der wegen grundsätzlicher Bedeutung vom FG zugelassenen Revision rügt das FA die Verletzung der §§ 175 Nr. 1 und 129 AO 1977.
Das FA beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Der Kläger ist der Ansicht, das FG habe zutreffend ausgeführt, daß § 175 Nr. 1 AO 1977 nicht anwendbar sei, da bei Erlaß des Folgebescheids der Grundlagenbescheid bereits ergangen gewesen sei. Das FA habe auch seiner Ermittlungspflicht nicht genügt. Die Rechtsprechung folgere hieraus, daß bei mangelnder Sachaufklärung eine Berichtigung nach § 129 AO 1977 nicht in Betracht komme.
Entgegen der Ansicht des Bundesministers der Finanzen (BdF) könne auch nicht auf eine gesetzliche Unterscheidung zwischen Erlaß (§ 119 Abs. 2 AO 1977) und Bekanntgabe (§ 122 AO 1977) abgestellt werden.
Der BdF, der dem Verfahren beigetreten ist (§ 122 der Finanzgerichtsordnung - FGO -), macht geltend, für die Anwendung des § 175 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 komme es nicht darauf an, in welchem Stadium sich das Verfahren des Folgebescheids befunden habe. Im übrigen habe das FA erst nach Zeichnung des Eingabebogens für den Folgebescheid Kenntnis von dem Grundlagenbescheid erlangt.
Zum Erlaß des Verwaltungsaktes gehöre vornehmlich die Zeichnung des Eingabebogens durch den zuständigen Beamten. Diese Auslegung des Begriffs "Erlaß des Verwaltungsaktes" im Rahmen des § 175 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 sei geboten, da mit der Zeichnung des Eingabebogens die Willensbildung hinsichtlich der Steuerfestsetzung abgeschlossen und der für die Steuerfestsetzung zuständige Beamte mit dem Steuerfall grundsätzlich nicht mehr befaßt sei. Im Streitfall ergebe sich aus den Steuerakten, daß dem FA der Erlaß eines Grundlagenbescheids erst nach Zeichnung und mithin nach "Erlaß" des Folgebescheids bekanntgeworden sei (Zeichnung des Eingabebogens am 20. September 1977, Eingang der ESt 4 B-Mitteilung am 28. September 1977; handschriftlicher Vermerk "Mitteilung fehlt" in der Steuererklärung neben den erklärten anteiligen Einkünften aus der Hausgemeinschaft).
Darüber hinaus lägen auch die Voraussetzungen für eine Änderung des Einkommensteuerbescheids nach § 129 AO 1977 vor.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Die Vorentscheidung verletzt § 175 Nr. 1 AO 1977.
Das FG meint in der angefochtenen Entscheidung, § 175 Nr. 1 AO 1977 erfasse ausdrücklich nur den Fall, daß nach Erlaß eines Folgebescheids ein Grundlagenbescheid erlassen, aufgehoben oder geändert werde. Bereits dieser Ausgangspunkt ist rechtsfehlerhaft. Denn der Wortlaut dieser Vorschrift deckt auch den Fall, daß ein Grundlagenbescheid erlassen wird und daraufhin ein Steuerbescheid zu erlassen ist. Das folgt aus der Wortfassung, wonach ein Steuerbescheid zu erlassen ist, soweit ein Grundlagenbescheid erlassen wird.
Diese Ansicht wird durch die bisherige Rechtsprechung bestätigt. Auch nach der früheren Rechtslage entsprach es dem regelmäßigen Verfahrensablauf, daß zunächst der Grundlagenbescheid und danach der Folgebescheid erging (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 17. Mai 1978 I R 50/77, BFHE 125, 423, BStBl II 1978, 579, unter III. 1. c) und die weiteren Rechtsprechungshinweise dort). Es widersprach aber auch nicht der Rechtsordnung, wenn ein Folgescheid bereits vor Ergehen des Grundlagenbescheids erlassen wurde. Die insoweit strittige Frage, ob dies auch zutraf, wenn dem für den Erlaß des Steuerbescheids zuständigen FA bekannt war, daß über gesondert festzustellende Besteuerungsgrundlagen noch zu entscheiden war (vgl. BFHE 125, 423, BStBl II 1978, 579 und BFH-Beschluß vom 19. Oktober 1978 IV B 34/77, BFHE 125, 510, BStBl II 1978, 632), ist nunmehr i. S. der bisherigen Verwaltungshandhabung durch das Gesetz zur Änderung des Einkommensteuergesetzes, Körperschaftsteuergesetzes und anderer Gesetze vom 20. August 1980 (BGBl I 1980, 1545, BStBl I 1980, 589) geregelt worden.
Entgegen der Ansicht des FG besitzt § 175 Nr. 1 AO 1977 keinen Ausnahmecharakter. Das FG hat diese Ansicht nicht begründet. Sie ist auch weder dem Gesetzeswortlaut noch dem Gesetzeszweck zu entnehmen. § 175 Nr. 1 AO 1977 schreibt nur vor, daß eine in einem Grundlagenbescheid festgesetzte Besteuerungsgrundlage in einem Steuerbescheid berücksichtigt werden muß, sei es daß der Steuerbescheid noch ergehen muß oder bereits ergangen ist. Diese auf dem Grundsatz der Ermittlung der zutreffenden Steuer und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung beruhende Gesetzesaussage stellt keine Ausnahmeregelung dar. Es handelt sich insoweit auch nicht um eine Ermessensregelung, wie dem Wortlaut der Vorschrift zu entnehmen ist.
Eine zeitliche Beschränkung hinsichtlich des Anwendungsbereiches des § 175 Nr. 1 AO 1977 würde sich allenfalls aus § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ergeben. Für das Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen bietet der Sachverhalt keinen Anhalt.
Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob die Rechtsgrundsätze hinsichtlich der Anwendung des § 175 Nr. 1 AO 1977 auch dann gelten, wenn dem FA bei Erlaß des Folgebescheids der Grundlagenbescheid bereits vorliegt und das FA diesen bei Erlaß des Folgebescheids nicht berücksichtigt. Insoweit könnte die Anwendung des § 175 Nr. 1 AO 1977 zweifelhaft sein, weil das FA die Möglichkeit bei Erlaß des Folgebescheids hatte, die sich aus dem Grundlagenbescheid zu entnehmenden Besteuerungsgrundlagen zu berücksichtigen. Im hier zu entscheidenden Fall ergibt sich aus dem Eingabebogen, daß dem FA erst nach Zeichnung des Eingabebogens die Mitteilung über den Erlaß eines Grundlagenbescheids zugegangen war (Zeichnung des Eingabebogens am 20. September 1977 und Eingang der ESt 4 B-Mitteilung am 28. September 1977). Hieraus folgt, daß das FA keine Möglichkeit hatte, bei Erlaß des Einkommensteuerbescheids für 1976 die gesondert festzustellenden Besteuerungsmerkmale zu berücksichtigen.
Bei diesem Ergebnis bedarf es keines Eingehens darauf, ob eine Änderung des Steuerbescheids nach § 129 AO 1977 wegen Vorliegens einer offenbaren Unrichtigkeit in Betracht kam.
Fundstellen
BStBl II 1982, 99 |
BFHE 1981, 210 |