Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Zur Aussetzung der Vollziehung eines Steuerbescheids.
Normenkette
AO §§ 251, 242 Abs. 2
Tatbestand
Streitig ist, ob die Voraussetzungen für die Aussetzung einer Vollziehung nach § 251 der Reichsabgabenordnung (AO) vorliegen.
Durch Einspruchsentscheidung des Finanzamts vom 3. November 1954 wurde die Einkommensteuer der Beschwerdeführer (Bf.) für 1951 auf 3.390 DM (entsprechend Notopfer Berlin und Kirchensteuer) festgesetzt. Dagegen wurde Berufung eingelegt. Unter Hinweis auf das Rechtsmittel beantragten die Steuerpflichtigen Aussetzung der Vollziehung. Das Finanzamt entsprach mit der den Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits bildenden Verfügung vom 25. November 1954 dem Antrag nur hinsichtlich der Hälfte der festgesetzten Steuerbeträge. Die Beschwerde gegen die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung der restlichen Steuerbeträge wurde von der Oberfinanzdirektion unter dem 29. Dezember 1954 als unbegründet zurückgewiesen.
Mit der Berufung gegen die Entscheidung der Oberfinanzdirektion wurde geltend gemacht, die Aussetzung der Vollziehung sei geboten, weil
aus den vorgebrachten Gründen sich ergebe, daß die erhobenen Rechtsmittel Erfolg hätten,
durch die mit Schreiben vom 16. Dezember 1954 an das Finanzamt mitgeteilte Erklärung der Aufrechnung (bzw. der Abtretung) mit einer Forderung in Höhe von mindestens 7.000 DM auf Grund des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) die Schuld erloschen bzw. gesichert sei,
die Bf. zur Zahlung der geforderten Beträge unfähig seien. Die Berufung blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht kam zu Punkt 1 der Einwendungen zu dem Ergebnis, die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels in der Hauptsache böten keine Möglichkeit zu einer Aussetzung der Vollziehung des Steuerbescheids über die vom Finanzamt gewährte Aussetzung in Höhe der Hälfte der gesamten Steuerbeträge hinaus. Das Vorbringen unter 2 und 3 über die Aufrechnung bzw. Abtretung von Wiedergutmachungsansprüchen und über die Unfähigkeit zur Zahlung könne im vorliegenden Verfahren keine Berücksichtigung finden. überdies gehe aus dem eigenen Vorbringen der Steuerpflichtigen hervor, daß die Wiedergutmachungsansprüche mangels Fälligkeit zur Aufrechnung nicht geeignet seien.
Mit der Rechtsbeschwerde (Rb.) wird Aufhebung des Urteils des Finanzgerichts wegen Verletzung des materiellen Rechts und wegen prozessualer Mängel gefordert.
Entscheidungsgründe
Die Prüfung der Rb. ergibt folgendes:
In prozessualer Hinsicht wird eingewendet, die Beschwerde an die Oberfinanzdirektion habe nicht allein die Aussetzung der Vollziehung des Steuerbescheids betroffen, sondern in erster Linie die vom Finanzamt angedrohten und betriebenen Vollstreckungsmaßnahmen. Infolge der erklärten Aufrechnung sei eine Vollstreckung nicht mehr zulässig, weil der Steueranspruch getilgt bzw. durch Abtretung gesichert sei. Die Oberfinanzdirektion habe nur teilweise zur Vollstreckungsbeschwerde Stellung genommen, weil sie sich zu der Aufrechnung und ihren Folgen für den Weiterbetrieb der Vollstreckung nicht geäußert habe. Mangels Ausschöpfung der Rechtsbehelfe bei den Verwaltungsbehörden hinsichtlich der Aufrechnungsfrage hätte das Finanzgericht die Beschwerdeentscheidung aufheben und die Sache an die Oberfinanzdirektion zurückverweisen müssen. Die formellen Einwendungen sind nicht begründet. Die angegriffene Verfügung des Finanzamts vom 25. November 1954 ist zu dem Aussetzungsantrag der Bf. nach § 251 AO ergangen. Nur diese Frage ist Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens. Demgemäß heißt es auch in der Berufung vom 6. Januar 1955: "Es handelt sich um die Aussetzung der Vollstreckung wegen des Steuerbescheids 1951." Gegen die Androhung von Vollstreckungsmaßnahmen gibt es regelmäßig keinen Rechtsbehelf, abgesehen von der Dienstaufsichtsbeschwerde. In der Beschränkung der Beurteilung auf die Aussetzungsfrage ist somit ein Ermessensfehler nicht zu erblicken. Zudem trifft es nicht zu, daß die Oberfinanzdirektion nur "teilweise" entschieden habe. Streitgegenstand ist die "teilweise" Ablehnung der Aussetzung. Hierüber ist von der Oberfinanzdirektion in vollem Umfang entschieden worden, auch wenn auf eine der zahlreichen einzelnen Einwendungen der Bf., wie Aufrechnung usw., nicht näher eingegangen ist. Daher kann nicht aus diesem Grunde eine Pflicht des Finanzgerichts anerkannt werden, die Sache zur Prüfung der Aufrechnungsfrage an die Oberfinanzdirektion zurückzuverweisen. Das Finanzgericht konnte vielmehr selbst über diese Frage befinden.
In materieller Hinsicht ist das Finanzgericht zutreffend davon ausgegangen, daß Entscheidungen der Finanzämter über die Aussetzung der Vollziehung nach § 251 Satz 2 AO Ermessensentscheidungen sind und daher von den Gerichten nur darauf nachgeprüft werden können, ob die Behörden bei ihren Maßnahmen den Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens eingehalten haben. Dabei werden sich die Erwägungen dem Wesen der Vorschrift gemäß nach zwei Richtungen bewegen: Einmal ist zu prüfen, ob und inwieweit das Rechtsmittel in der Hauptsache Aussicht auf Erfolg verspricht; vgl. hierzu Urteile des Bundesfinanzhofs II 37/53 U vom 10. Februar 1954, Slg. Bd. 58 S. 538, Bundessteuerblatt (BStBl.) III S. 116, und III 187/52 S vom 10. September 1954, Slg. Bd. 59 S. 307, BStBl. III S. 328. Sodann kommt eine Aussetzung der Vollziehung in Frage, wenn der Eingang der festgesetzten Steuern aus außerhalb der Hauptsache liegenden Gründen gesichert erscheint. Im Gesetz selbst ist in dieser Hinsicht die Sicherheitsleistung erwähnt. Die Aussetzung kann aber auch dann angebracht erscheinen und ihre Ablehnung einen Ermessensfehler darstellen, wenn dem Pflichtigen dem Steueranspruch entsprechende Ansprüche gegen den Fiskus zustehen, durch deren Aufrechnung oder Abtretung die Tilgung der Steuerschulden in absehbarer Zeit erwartet werden kann. Der Senat hat in dem Urteil II 176/52 U vom 6. Oktober 1954 (Slg. Bd. 59 S. 432, BStBl. III S. 375) darauf hingewiesen, daß es im Rahmen eines Stundungsverfahrens erforderlich werden kann, über die Frage der Aufrechnung mit zu entscheiden, selbst wenn die Klärung der Frage im Wege des ordentlichen Rechtsmittelverfahrens nach § 125 AO bzw. im Wege des Erstattungsverfahrens gemäß §§ 150 ff. AO noch nicht herbeigeführt worden ist. Da die Aussetzung der Vollziehung nach § 251 AO der Stundung der Steuerbeträge in der Wirksamkeit ähnlich ist, wird das gleiche für die Aussetzung gelten müssen.
Mit Rücksicht auf den Zweck der Vorschrift kann jedoch in dem seiner Natur nach summarischen Verfahren über die Aussetzung keine umfassende, sich auf alle Einzelheiten erstreckende Prüfung vorgenommen werden. Die Prüfung braucht regelmäßig nur eine "begrenzte" zu sein, die auch dem Gedanken Rechnung trägt, ob bei der Aussetzung der Vollziehung der Eingang der Steuern gesichert erscheint. Die genaue Nachprüfung muß dem ordentlichen Rechtsmittelverfahren überlassen bleiben.
Werden die Entscheidungen der Vorbehörden unter diesen Grundsätzen nachgeprüft, so läßt sich eine überschreitung der Ermessensgrenzen nicht feststellen. Was die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels anlangt, so hat das Finanzgericht die einzelnen Einwendungen der Bf. eingehend gewürdigt. Es konnte auf Grund seiner Befugnis zur freien Beweiswürdigung zu der Feststellung kommen, daß die Aussetzung der Vollziehung des Steuerbescheids auf Grund der Erfolgsaussicht des Rechtsmittels nicht über den gewährten Betrag hinaus möglich sei.
Was die Aufrechnungs- (Abtretungs) Frage anlangt, so kann der Senat nach den obigen Ausführungen die Ansicht des Finanzgerichts nicht billigen, daß im Verfahren über die Aussetzung die Aufrechnungs- bzw. Abtretungsfrage nicht berücksichtigt werden dürfe, weil diese Fragen nicht die Erfolgsaussicht des Rechtsmittels in der Hauptsache beträfen. Die Ablehnung einer Aussetzung kann auch dann den Rahmen des Ermessens überschreiten, wenn nach den Umständen die Gewähr besteht, daß infolge einer erklärten Aufrechnung oder Abtretung die festgesetzten Steuerbeträge in nicht zu langer Zeit eingehen werden. In einem solchen Fall hat das Finanzamt dem Aussetzungsantrag stattzugeben. Wegen des Rechtsirrtums des Finanzgerichts in dieser Frage braucht aber die Vorentscheidung nicht aufgehoben zu werden. Denn das Finanzgericht hat zu der Aufrechnungsfrage auch sachlich im Sinne der Rechtsprechung des Senats Stellung genommen. Das Finanzgericht konnte dem Vorbringen der Bf. entnehmen, daß die von ihnen geltend gemachten Wiedergutmachungsansprüche noch nicht festgestellt sind. Das Finanzgericht hat weiter festgestellt, daß die Bf. wegen ihrer Entschädigungsforderungen nach den eigenen Angaben vom zuständigen Innenministerium auf den Weg der Klage nach § 100 BEG verwiesen wurden; es ist nicht geltend gemacht, daß diese Klage eingereicht ist. Daraus konnte das Finanzgericht mit Recht schließen daß mit der Erledigung des Wiedergutmachungsverfahrens der Bf. in absehbarer Zeit nicht zu rechnen sei. Infolgedessen ist es nicht als ein überschreiben der Ermessensgrenzen anzusehen, wenn die Vorbehörden auch wegen der Aufrechnung oder Abtretung der Entschädigungsforderungen keine Aussetzung der Vollziehung ausgesprochen haben. Die Auffassung des Finanzgerichts, daß die geltend gemachte Unfähigkeit der Bf. zur Zahlung der Beträge im Verfahren nach § 251 AO keine Berücksichtigung finden könne, ist nicht zu beanstanden.
Die Rb. war daher mit der Kostenfolge aus § 307 AO als unbegründet zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 408263 |
BStBl III 1955, 355 |
BFHE 1956, 406 |
BFHE 61, 406 |