Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen für die Abzweigung des Kindergeldes an den Sozialleistungsträger bei vollstationärer Unterbringung eines behinderten, volljährigen Kindes
Leitsatz (NV)
Entstehen dem Kindergeldberechtigten für sein behindertes, volljähriges Kind, das überwiegend auf Kosten des Sozialleistungsträgers in einer Pflegeeinrichtung untergebracht ist, Aufwendungen mindestens in Höhe des Kindergeldes, ist das Ermessen der Familienkasse, ob und in welcher Höhe das Kindergeld an den Sozialleistungsträger abzuzweigen ist, eingeschränkt; ermessensgerecht ist allein die Auszahlung des vollen Kindergeldes an den Kindergeldberechtigten (Fortführung des Senatsurteils vom 23. Februar 2006 III R 65/04, BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753).
Normenkette
EStG § 74 Abs. 1 Sätze 1, 4; FGO § 102
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der 1963 geborene Sohn (S) des Beigeladenen ist aufgrund seiner Behinderung in einer sozialen Einrichtung vollstationär untergebracht. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) gewährte S für die Unterbringung in der Pflegeeinrichtung Eingliederungshilfe. Ab Januar 2002 wurde der Beigeladene nach § 91 Abs. 2 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) zu einem Kostenbeitrag von monatlich 26 € und ab 1. Januar 2005 nach § 94 Abs. 2 Satz 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) zu einem Kostenbeitrag von monatlich 46 € herangezogen.
Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) gewährte dem Beigeladenen Kindergeld. Mit Bescheid vom 5. Dezember 2000 zweigte sie das Kindergeld an den Kläger ab. Auf den Einspruch des Beigeladenen hob sie den Abzweigungsbescheid mit Bescheid vom 9. Juli 2001 wieder auf. Der Einspruch des Klägers blieb ohne Erfolg. Die Familienkasse führte in der Einspruchsentscheidung aus, der Beigeladene leiste S Unterhalt, da er für ihn ein Zimmer bereit halte, ihn an über 50 Tagen in seinen Haushalt aufnehme, regelmäßig mit ihm in Urlaub fahre und weitere Kosten übernehme, die nicht durch die Eingliederungshilfe gedeckt seien. Diese Leistungen in Geld oder Geldeswert erreichten die Höhe des Kindergeldes, so dass das Kindergeld nicht mehr habe abgezweigt werden dürfen.
Der Kläger beantragte vor dem Finanzgericht (FG), das Kindergeld abzüglich des Kostenbeitrags an ihn abzuzweigen (von August bis Dezember 2001 in Höhe von 138,05 € monatlich, von Januar 2002 bis Dezember 2004 in Höhe von 128 € monatlich und ab Januar 2005 in Höhe von 108 € monatlich). Das FG wies die Klage ab. Es führte im Wesentlichen aus, die Familienkasse habe keine Ermessenserwägungen angestellt, weil sie bereits die Voraussetzungen für eine Abzweigung verneint habe. Denn sie habe angenommen, der Beigeladene leiste S Unterhalt, weil er ihn an mehr als 50 Tagen im Jahr in seinen Haushalt aufnehme, mit ihm regelmäßig in Urlaub fahre und sonstige Kosten übernehme, die nicht durch die Eingliederungshilfe gedeckt seien. Diese Rechtsauffassung sei zwar systematisch verfehlt, jedoch sei das Ergebnis, das Kindergeld nicht an den Kläger abzuzweigen, richtig, da allein die Ablehnung der Abzweigung ermessensfehlerfrei sei. Die vom Beigeladenen erbrachten Leistungen erreichten die Höhe des Kindergeldes, was --zumindest bei grundsätzlicher Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen-- auch zwischen den Beteiligten unstreitig sei.
Mit seiner Revision trägt der Kläger im Wesentlichen vor, der Aufhebungsbescheid und die Einspruchsentscheidung seien mangels Ermessensausübung rechtswidrig. Entgegen der Auffassung des FG sei die volle Auszahlung des Kindergeldes an den Beigeladenen nicht die allein ermessensgerechte Entscheidung. Die zusätzlichen Betreuungsaufwendungen gehörten zwar zum Mehrbedarf des vollstationär untergebrachten S, müssten jedoch bei der Ermittlung, welche Aufwendungen zur Deckung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs notwendig seien, außer Betracht bleiben. Der Kindergeldberechtigte leiste den erforderlichen Unterhalt durch den gesetzlich vorgesehenen Kostenbeitrag. Übernehme der Sozialleistungsträger mehr als die Hälfte der Kosten für die Pflegeeinrichtung, sei es ermessensgerecht, das Kindergeld abzüglich des Kostenbeitrags an den Sozialleistungsträger abzuzweigen. Der Klage sei daher unter Änderung des angefochtenen Urteils stattzugeben.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das FG-Urteil aufzuheben und unter Änderung des Aufhebungsbescheids vom 9. Juli 2001 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 24. Oktober 2001 das Kindergeld für den Zeitraum von August bis Dezember 2001 in Höhe von monatlich 138,05 € (270 DM), für den Zeitraum Januar 2002 bis Dezember 2004 in Höhe von monatlich 128 € und ab Januar 2005 in Höhe von monatlich 108 € an ihn abzuzweigen.
Die Familienkasse und der Beigeladene beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet und wird zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Das FG hat den --die Abzweigung aufhebenden-- Bescheid der Familienkasse zu Recht bestätigt.
1. Nach zutreffender Entscheidung des FG liegen die Voraussetzungen für eine Abzweigung des Kindergeldes dem Grunde nach vor.
Nach § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld nach § 66 Abs. 1 EStG auch an die Person oder Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt, wenn der Kindergeldberechtigte seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt.
a) Der Beigeladene ist nach den §§ 1601 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) zur Gewährung von Unterhalt verpflichtet, da S sich nicht selbst unterhalten kann. Der Unterhaltsanspruch umfasst nach § 1610 Abs. 2 BGB den gesamten Lebensbedarf. Dazu gehört auch der krankheits- und behinderungsbedingte Mehrbedarf eines behinderten und dauernd pflegebedürftigen Kindes. Die Eingliederungshilfe mindert nicht die Bedürftigkeit des S, da sie subsidiär ist und den Unterhaltspflichtigen nicht von seiner Verpflichtung befreien soll (Senatsurteil vom 23. Februar 2006 III R 65/04, BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753, m.w.N.). Der Unterhaltsanspruch des Kindes, für das Sozialleistungen gewährt werden, geht grundsätzlich nach § 91 Abs. 1 Satz 1 BSHG bzw. § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in Höhe der geleisteten Aufwendungen auf den Sozialleistungsträger über.
Die Verpflichtung zur Unterhaltsgewährung bleibt auch insoweit bestehen, als der Unterhaltsanspruch eines volljährigen behinderten oder pflegebedürftigen Kindes nach § 91 Abs. 2 Satz 3 BSHG nur in Höhe eines Betrages von 26 € monatlich bzw. nach § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII nur in Höhe eines Betrages von 46 € monatlich auf den Sozialleistungsträger übergeht. Denn diese Regelung hat lediglich zur Folge, dass der gesetzliche Übergang des Unterhaltsanspruchs auf den Sozialleistungsträger, soweit er den Betrag von 26 € bzw. 46 € überschreitet, ausgeschlossen ist, setzt also voraus, dass überhaupt ein Unterhaltsanspruch besteht (vgl. Senatsurteil in BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753, m.w.N.).
b) Der Beigeladene ist seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht i.S. des § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG nachgekommen, da er die laufenden Kosten für die vollstationäre Unterbringung von S in der Pflegeeinrichtung --mit Ausnahme des Kostenbeitrags-- nicht übernommen hat. Auf die Gründe der Nichterfüllung der Unterhaltspflicht kommt es nicht an (Senatsurteil in BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753, m.w.N.).
2. Zu Recht ist das FG davon ausgegangen, dass die Familienkasse rechtsfehlerhaft keine Ermessensentscheidung getroffen hat.
Ob und in welcher Höhe das Kindergeld an eine andere Person oder Stelle abgezweigt wird, steht nach § 74 Abs. 1 EStG im Ermessen der Familienkasse ("kann"). Die Familienkasse hat aber kein Ermessen ausgeübt, weil nach ihrer Auffassung die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 EStG für eine Abzweigung mangels Verletzung der Unterhaltspflicht nicht gegeben waren (sog. Ermessensnichtgebrauch).
3. Ebenfalls zutreffend hat das FG angenommen, dass der Aufhebungsbescheid und die Einspruchsentscheidung trotz der Rechtswidrigkeit nicht aufzuheben sind, weil die Aufhebung des Abzweigungsbescheids die einzig ermessensgerechte Entscheidung ist.
a) Ermessensentscheidungen der Familienkasse darf das FG nur auf Ermessensfehler überprüfen (§ 102 FGO). Stellt es einen Ermessensfehler fest, kann es deshalb nicht selbst Ermessen ausüben, sondern ist darauf beschränkt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben. Lediglich dann, wenn nur eine Entscheidung ermessensgerecht erscheint (sog. Ermessensreduzierung auf Null), ist das FG befugt, seine Entscheidung an die Stelle der Ermessensentscheidung der Familienkasse zu setzen (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 10. Oktober 2001 XI R 52/00, BFHE 196, 572, BStBl II 2002, 201).
b) Bei der Ausübung des Ermessens ist der Zweck des Kindergeldes zu berücksichtigen (§ 5 der Abgabenordnung). Das Kindergeld dient der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums eines Kindes und, soweit es dafür nicht erforderlich ist, der Förderung der Familie (§ 31 Sätze 1 und 2 EStG).
Kein Kindergeld wird deshalb gewährt, wenn die eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes den --am steuerlich zu belassenden Existenzminimum eines Erwachsenen orientierten-- Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG übersteigen. In einem solchen Fall sind die Eltern in der Regel wirtschaftlich nicht mehr in einer Weise belastet, die eine Entlastung im Wege des Familienleistungsausgleichs erfordert (BTDrucks 13/1558, 164; vgl. auch BFH-Urteil vom 21. Juli 2000 VI R 153/99, BFHE 192, 316, BStBl II 2000, 566, unter II. 1. c aa). Bei Einkünften und Bezügen des Kindes bis zur Höhe des Jahresgrenzbetrages wird dagegen typisierend eine Belastung der Eltern mit Unterhaltsaufwendungen unterstellt und daher unter den weiteren Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 EStG Kindergeld gewährt.
Hiervon abweichend hängt der Anspruch auf Kindergeld für ein volljähriges behindertes Kind davon ab, dass das Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG). Es wird typisierend davon ausgegangen, dass den Eltern Unterhaltsaufwendungen für das Kind entstehen, wenn dessen eigene finanzielle Mittel nicht seinen gesamten Lebensbedarf abdecken. Der Lebensbedarf eines behinderten Kindes besteht aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) in Höhe des Existenzminimums eines Erwachsenen, zu dem z.B. auch Kontakte zur Familie, Teilnahme am kulturellen Leben, und Erholung gehören, und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf, der auch ergänzende persönliche Betreuungsleistungen der Eltern und Fahrtkosten umfasst (vgl. BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 40/98, BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75, unter II. 1. c d).
Da das Kindergeld die finanzielle Belastung der Eltern durch den Unterhalt für das Kind ausgleichen soll, hängt die Entscheidung über die Abzweigung davon ab, ob und in welcher Höhe ihnen --den Grund- und den behinderungsbedingten Mehrbedarf betreffende-- Aufwendungen für das Kind entstanden sind. Dabei sind auch im Verhältnis zu den Kosten des Sozialleistungsträgers geringe Aufwendungen für das Kind miteinzubeziehen.
c) Entstehen dem Kindergeldberechtigten Aufwendungen für das volljährige behinderte Kind mindestens in Höhe des Kindergeldes, kommt eine Abzweigung an den Sozialleistungsträger nicht in Betracht. Dies folgt mittelbar aus § 74 Abs. 1 Satz 3 Alternative 2 EStG. Danach kann Kindergeld auch abgezweigt werden, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht oder nur in Höhe eines unter dem Kindergeld liegenden Betrages unterhaltspflichtig ist. Hieraus schließt der Senat, dass eine Abzweigung ermessensfehlerhaft ist, wenn der Kindergeldberechtigte Unterhalt in Höhe des Kindergeldes oder darüber hinaus leistet (Senatsurteil in BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753, m.w.N.).
d) Nach übereinstimmender Auffassung der Beteiligten sind dem Beigeladenen neben dem monatlichen Kostenbeitrag von 26 € bzw. 46 € erhebliche, die Höhe des Kindergeldes erreichende Aufwendungen für S entstanden, so dass allein die Aufhebung der Abzweigungsentscheidung ermessensgerecht ist.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 1 i.V.m. § 135 Abs. 2 FGO und § 139 Abs. 4 FGO. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen im Revisionsverfahren waren dem Kläger aufzuerlegen. Es entspricht der Billigkeit, diese Kosten der unterliegenden Partei aufzuerlegen, wenn der Beigeladene das Revisionsverfahren jedenfalls dadurch wesentlich gefördert hat, dass er auf mündliche Verhandlung verzichtet und eine Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung ermöglicht hat (BFH-Urteil vom 20. Juni 2001 VI R 169/97, BFH/NV 2001, 1443, m.w.N.).
Fundstellen