Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung Gewerbesteuer
Leitsatz (amtlich)
Das Finanzamt darf einen nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO berichtigten und selbständig angefochtenen Gewerbesteuermeßbescheid nicht nach § 35 b GewStG ändern.
Normenkette
AO § 222 Abs. 1 Nr. 1; GewStG § 35b
Tatbestand
Streitig ist in dem Gewerbesteuermeßbetragsverfahren für die Jahre 1959 bis 1961, ob das Finanzamt im Einspruchsverfahren den Gewerbesteuermeßbescheid nach § 35 b GewStG ändern durfte.
Das Finanzamt setzte die Gewerbesteuermeßbeträge für die Jahre 1959 bis 1961 rechtskräftig fest. Auf Grund einer Betriebsprüfung, bei der sich Mehrgewinne ergaben, wurden die Einkommensteuerbescheide und die Gewerbesteuermeßbescheide für 1959 bis 1961 nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO berichtigt.
In der Einkommensteuersache wurden die Einsprüche nach § 94 AO erledigt. Da der Bg. die Einsprüche in der Gewerbesteuersache aufrechterhielt, setzte das Finanzamt durch Einspruchsentscheidung im Anschluß an die geänderten Einkommensteuerbescheide die Gewerbesteuermeßbeträge fest, wobei es sich auf die Vorschrift des § 35 b GewStG bezog. Die Mehrsteuern betrugen
1959 -------------- 1960 --------------- 1961 DM ----------------- DM ----------------- DM 110 ---------------- 137 ---------------- 165.Das Finanzgericht gab der Berufung des Bg. statt. In seiner in den "Entscheidungen der Finanzgerichte " 1965 S. 121 veröffentlichten Entscheidung vertrat es die Auffassung, daß ein Gewerbesteuermeßbescheid im Hinblick auf festgestellte neue Tatsachen nur dann nach § 35 b GewStG angepaßt werden dürfte, wenn diese neuen Tatsachen auch in ihrer Auswirkung auf die Gewerbesteuer von einigem Gewicht im Sinne des § 222 Abs. 1 AO seien. Im Streitfall seien die neuen Tatsachen nicht gewichtig. Die berichtigten Steuermeßbescheide seien daher ersatzlos aufzuheben.
Entscheidungsgründe
Die Rb. des Vorstehers des Finanzamts führt zur Aufhebung der Vorentscheidungen und zur Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht zu erneuten Entscheidung über die Einsprüche.
Die Vorschrift des § 35 b GewStG dient der Vereinfachung (vgl. Entscheidung des erkennenden Senats IV 19/65 U vom 6. Mai 1965, BStBl 1965 III S. 419 und die dort angeführten Urteile). Durch sie soll nicht das Recht des Steuerpflichtigen beschnitten werden, sowohl im Einkommensteuer- als auch im Gewerbesteuermeßbetragsverfahren eine selbständige und unabhängige Nachprüfung der Höhe des Gewinns und des Gewerbeertrags zu verlangen. Für die Anwendung der Vorschrift des § 35 b GewStG ist deshalb auch dann kein Raum, wenn sich der Steuerpflichtige in dem Rechtsmittelverfahren gegen die beiden Bescheide mit denselben Einwendungen gegen die Höhe des Gewinns wendet. Beide Verfahren laufen nebeneinander. Die Entscheidung in der Einkommensteuersache hat keine unmittelbaren und zwingenden Auswirkungen auf die Erledigung des Rechtsmittels in der Gewerbesteuersache (vgl. Urteil des Senats IV 403/61 U vom 30. Juli 1964, BStBl 1964 III S. 534, Slg. Bd. 80 S. 166).
über den Einspruch gegen einen Gewerbesteuermeßbescheid kann somit nicht unter Anwendung des § 35 b GewStG entschieden werden. Das Rechtsmittelverfahren ist nach den allgemeinen Vorschriften durchzuführen. Handelt es sich bei dem mit dem Einspruch angegriffenen Bescheid um einen Berichtigungsbescheid, der zulässig auf Grund der Vorschrift des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO ergangen ist, so ist der gesamte Gewerbesteuerfall wiederaufzurollen.
Für die Beurteilung, ob die Berichtigungsbescheide zulässig waren, kommt es darauf an, ob die ihnen zugrunde gelegten neuen Tatsachen wie sie sich nach dem Ergebnis des Rechtsmittelverfahrens darstellen, von einigem Gewicht sind. Nach ständiger Rechtsprechung der Ertragsteuersenate des Bundesfinanzhofs ist die Gewichtigkeit neuer Tatsachen nach absoluten und relativen Merkmalen zu bestimmen. Maßgebend sind die Umstände des Einzelfalles (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs IV 515/56 U vom 5. Dezember 1957, BStBl 1958 III S. 52, Slg. Bd. 66 S. 132). Die übernahme starrer Grenzen, wie sie in dem zur Umsatzsteuer ergangenen Urteil des Bundesfinanzhofs V 180/59 U vom 8. Februar 1962 (BStBl 1962 III S. 225, Slg. Bd. 74 S. 610) aufgestellt wurden, kommt es auf dem Gebiete der Ertragsteuern nicht in Betracht (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs I 95, 110/60 S vom 5. Juni 1962, BStBl 1963 III S. 100, Slg. Bd. 76 S. 282; VI 324/61 U vom 12. Juli 1963, BStBl 1963 III S. 435, Slg. Bd. 77 S. 315). Diese Grundsätze treffen auch auf die Berichtigung von Gewerbesteuermeßbescheiden zu (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs IV 224/60 vom 18. Oktober 1962, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Reichsabgabenordnung § 222, Rechtsspruch 131). Im Gegensatz zur Vorentscheidung hält der Senat die den Steuermehrbeträgen zugrunde gelegten neuen Tatsachen, von denen die Vorinstanzen ausgingen, für gewichtig genug, um die Wiederaufrollung der Gewerbesteuermeßbetragsfestsetzungen zu rechtfertigen. Die Vorentscheidung ist deshalb aufzuheben.
Die Einspruchsentscheidung ist ebenfalls aufzuheben. Das Finanzamt war, wie dargelegt, nicht berechtigt, über den Einspruch auf der Grundlage des § 35 b GewStG zu entscheiden. Die Sache wird an das Finanzamt zurückverwiesen. Das Finanzamt wird, wozu das Finanzgericht von seinem Standpunkt aus nicht Stellung zu nehmen brauchte, nunmehr die Höhe des Gewerbeertrages unabhängig von dem Ausgang des Einkommensteuerverfahrens zu prüfen haben. Es wird dabei dem Bg. Gelegenheit geben, gegen die Gewerbesteuermeßbescheide auch andere als die im Einkommensteuerverfahren vorgetragenen Einwendungen geltend zu machen. Andererseits ist auch das Finanzamt nicht gehindert, etwaige weitere neue Tatsachen zu berücksichtigen oder bekannte Tatsachen rechtlich anders zu würdigen. Sollten die Beteiligten keine neuen Tatsachen oder rechtlichen Gesichtspunkte geltend machen, so steht nichts im Wege, über den Einspruch entsprechend der im Einkommensteuerverfahren getroffenen Regelung zu entscheiden.
Fundstellen
Haufe-Index 411773 |
BStBl III 1965, 667 |
BFHE 1966, 466 |
BFHE 83, 466 |