Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensfehler bei der Besetzung der Richterbank mit ehrenamtlichen Richtern aus der Hilfsliste
Leitsatz (NV)
Das Finanzgericht ist nicht ordnungsgemäß besetzt, wenn es ehrenamtliche Richter aus der Hilfsliste zur Sitzung heranzieht, obwohl nicht eindeutig geklärt ist, dass die nach der Hauptliste berufenen ehrenamtlichen Richter ‐ nach vorausgegangener Ladung ‐ unvorhergesehen verhindert sind.
Normenkette
FGO § 27 Abs. 2, § 116 Abs. 1 Nr. 1
Tatbestand
I. Streitig war im Klageverfahren, ob der Kläger und Revisionskläger (Kläger) einen Veräußerungsverlust i.S. von § 17 des Einkommensteuergesetzes (EStG) geltend machen kann. Das Finanzgericht (FG) hat die Klage insoweit abgewiesen. Das Urteil erging unter Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter Sch und W.
Mit der Revision rügt der Kläger u.a., das Gericht sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen (§ 116 Abs. 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung in der bis zum 31. Dezember 2000 gültigen Fassung ―FGO a.F.―). Er trägt dazu vor:
Die Reihenfolge der Inanspruchnahme der ehrenamtlichen Richter ergebe sich für den XIII. Senat des FG aus zwei Hauptlisten A und B und einer Hilfsliste. Zu den für einen Sitzungstag terminierten Verhandlungen werde ―entsprechend der namentlichen Reihenfolge― jeweils ein ehrenamtlicher Richter der Listen A und B geladen; im Falle seiner Verhinderung werde der hinter seinem Namen vermerkte Sitzungstermin durchgestrichen. Diese Vermerke fehlten bei den beiden, nach den Hauptlisten turnusmäßig berufenen M und P. Statt diesen seien die Richter Sch und W aus den Hilfslisten für den XIII. und den XV. Senat des FG geladen worden. Zur Begründung habe der zuständige Urkundsbeamte der Geschäftsstelle gegenüber dem Prozessbevollmächtigten des Klägers erklärt, dass ihm der Sitzungstermin nicht rechtzeitig, sondern erst am 15. Februar 1999 (zwei Tage vor der mündlichen Verhandlung vom 17. Februar 1999) mitgeteilt worden sei; er habe dann diejenigen ehrenamtlichen Richter aus der Hilfsliste geladen, die ihre Mitwirkung zusagten. Richter der Hauptlisten habe er nicht angesprochen bzw. geladen.
Der Vorsitzende Richter des XIII. Senats des FG und der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle bestätigten diesen Vortrag. Nach § 4 Abs. 4 der Geschäftsordnung des FG ist auf die Hilfsliste zurückzugreifen, "wenn ein geladener ehrenamtlicher Richter erst innerhalb einer Woche vor der Sitzung seine Verhinderung anzeigt".
Der Kläger beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
1. Eine Revision ist auch ohne Zulassung u.a. dann statthaft, wenn als wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird, dass das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war (§ 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO a.F. i.V.m. Art. 4 des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze ―2.FGOÄndG― vom 19. Dezember 2000, BGBl I 2000, 1757). Die Rüge setzt einen schlüssigen Vortrag des Verfahrensmangels voraus (ständige Rechtsprechung, vgl. u.a. Beschluss des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 21. September 1994 VIII R 80-82/93, BFH/NV 1995, 416; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 116 Rz. 3, m.w.N.). Als solcher kommt hier nur die Verletzung von § 27 Abs. 2 FGO i.V.m. § 4 Abs. 4 der Geschäftsordnung des FG in Betracht.
Ein Verfahrensfehler i.S. von § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO a.F. liegt bei unrichtiger Anwendung einer Vorschrift, die die Besetzung des Gerichts betrifft, aber nur dann vor, wenn der Gesetzesverstoß zugleich das Gebot der Entscheidung durch den gesetzlichen Richter verletzt (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes ―GG― und dazu u.a. BFH-Beschlüsse vom 17. Dezember 1997 VIII R 12/92, BFH/NV 1998, 721, und vom 9. November 1998 V R 67/97, BFH/NV 1999, 643). Das bedeutet, dass sich die Entscheidung über die Besetzung des Gerichts soweit von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt haben muss, dass sie nicht mehr zu rechtfertigen ist (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ―BVerfG― vom 23. Juni 1981 2 BvR 1107/77 u.a., BVerfGE 58, 1, 45; BFH-Beschluss in BFH/NV 1998, 721, m.w.N.).
2. Ein solcher Verfahrensmangel liegt hier vor. Das FG durfte keinen ehrenamtlichen Richter aus der Hilfsliste zur Sitzung berufen. Die Voraussetzungen für die Mitwirkung eines Ersatzrichters lagen nicht vor.
a) Die ehrenamtlichen Richter werden nach einer für jeden Senat aufzustellenden Liste (Hauptliste), ggf. nach einer Hilfsliste, zu den Sitzungen des Senats herangezogen (§ 27 FGO, § 4 der Geschäftsordnung des FG). Bei einem Verstoß gegen die durch die Haupt- oder Hilfsliste bestimmte Reihenfolge für die Berufung der ehrenamtlichen Richter ist das FG "nicht vorschriftsmäßig besetzt" i.S. von § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO a.F. (ständige Rechtsprechung, vgl. u.a. BFH-Beschlüsse vom 8. März 1994 VII R 18/94, BFH/NV 1994, 879, und vom 23. November 1994 X R 15/94, BFH/NV 1995, 626, m.w.N.; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 27 FGO Tz. 3; Gräber/Koch, a.a.O., § 27 Rz. 10, jeweils m.w.N.). Dieser Verfahrensmangel verstößt zugleich gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Denn die Bestimmung der Reihenfolge der Heranziehung ehrenamtlicher Richter durch das Präsidium des Gerichts dient dem Ziel, den gesetzlichen Richter verbindlich festzulegen; von dieser Bestimmung darf deshalb ohne gesetzlich zulässigen Grund nicht abgewichen werden (BFH-Beschluss vom 1. Oktober 1998 VII R 1/98, BFH/NV 1999, 933).
b) Ein solcher Verstoß liegt hier vor. Das FG hätte in erster Linie die nach der Hauptliste berufenen ehrenamtlichen Richter zur Sitzung laden müssen; denn sie waren die zunächst berufenen gesetzlichen Richter i.S. von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Zwar ist die Frage, in welcher Weise die ehrenamtlichen Richter den einzelnen Sitzungen des jeweiligen Senats zuzuteilen sind, in § 27 Abs. 1 FGO nicht geregelt; das ist Aufgabe des Geschäftsverteilungsplans, bzw. der Geschäftsordnung und ergänzend der "gewachsenen Übung" des Gerichts (vgl. u.a. BFH-Entscheidungen vom 17. Januar 1989 VII R 187/85, BFH/NV 1989, 532, unter 4. der Gründe, und vom 23. April 1996 VIII R 70/93, BFH/NV 1997, 31, unter I. 2. der Gründe, sowie vom 6. April 1999 XI R 17/97, BFH/NV 1999, 1243). Im Streitfall ergeben sich die Bindungen, denen der XIII. Senat des FG insoweit unterlag, aus § 4 der Geschäftsordnung des FG und § 27 Abs. 2 FGO.
Danach hätten die ehrenamtlichen Richter Sch und W in der Sitzung vom 17. Februar 1999 nicht mitwirken dürfen. Nach dem unstreitigen Sachverhalt wurden nicht die nächstberufenen ehrenamtlichen Richter der Hauptlisten A und B, sondern statt diesen ehrenamtliche Richter der Hilfsliste zur Sitzung zugezogen. Das kann nach Maßgabe des Geschäftsverteilungsplans (hier § 4 Abs. 4 der Geschäftsordnung des FG) im Einzelfall auch geboten sein, wenn die ehrenamtlichen Richter der Hauptliste ―wie auch im Streitfall― nicht mehr innerhalb einer Woche vor Sitzungsbeginn geladen werden können (vgl. u.a. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ―BVerwG― vom 25. April 1991 VII C 11.90, BVerwGE 88, 159, 164; BFH-Beschlüsse vom 14. März 1986 VI R 11/85, BFH/NV 1986, 548, und vom 27. Februar 1996 IV R 41/95, BFH/NV 1996, 623). Eine solche Regelung ist jedoch nur im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften zulässig. Aus diesen ergibt sich, dass auf die Hilfsliste nur bei "unvorhergesehener Verhinderung" der turnusmäßig berufenen ehrenamtlichen Richter zurückgegriffen werden kann (§ 27 Abs. 2 FGO); in anderen Verhinderungsfällen dürfen die ehrenamtlichen Richter nicht nach der Hilfsliste geladen werden (BFH-Urteile vom 30. August 1994 IX R 42/91, BFH/NV 1995, 481, unter 1. b der Gründe, und vom 18. Juni 1996 IV R 66/95, BFH/NV 1996, 840; vgl. auch BVerwG-Beschluss vom 31. Januar 1986 2 CB 57.84, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 310, § 54 VwGO Nr. 35, und dazu näher Ziekow in Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, § 30 Rz. 8, 9, m.w.N.).
Eine Ladung der turnusmäßig nach der Hauptliste berufenen ehrenamtlichen Richter ist hier gar nicht versucht worden; diese konnten deshalb weder an der Sitzung teilnehmen noch eine ggf. vorhandene Verhinderung mitteilen (zur Bedeutung der Ladung für die Vertretungsregelung vgl. u.a. BVerwG-Urteil vom 12. Dezember 1973 VI C 104.73, BVerwGE 44, 215, 218 f.; BFH-Urteil in BFH/NV 1996, 840; Schmid in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 27 FGO Rz. 11, m.w.N.). Unter diesen Umständen lag weder eine "angezeigte Verhinderung geladener ehrenamtlicher Richter" i.S. von § 4 Abs. 4 der Geschäftsordnung des FG vor noch war die Verhinderung eine "unvorhersehbare" i.S. von § 27 Abs. 2 FGO; denn dies hätte vorausgesetzt, dass die Verhinderung erst nach Absendung der Ladung an die turnusmäßig berufenen ehrenamtlichen Richter bekannt geworden ist (vgl. u.a BFH-Urteil in BFH/NV 1996, 840; Schmid in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 27 FGO Rz. 10, m.w.N.).
Fundstellen
Haufe-Index 635882 |
BFH/NV 2001, 1594 |