Entscheidungsstichwort (Thema)
Umsatzsteuer
Leitsatz (amtlich)
Pathologen, die auf Grund von Gewebeproben Befundberichte und Gutachten erteilen, können ärztliche Hilfeleistungen im Sinne des § 4 Ziff. 11 UStG erbringen.
Normenkette
UStG § 4 Ziff. 11; UStDB § 39; UStG § 4/14
Tatbestand
Der Steuerpflichtige, ein Pathologe, fertigt auf Grund histologischer Untersuchungen von Gewebeproben schriftliche Befunde und Gutachten an. Er hat in seinen Umsatzsteuererklärungen für 1955 bis 1958 die hierauf entfallenden Umsätze als umsatzsteuerfrei behandelt. Das Finanzamt veranlagte ihn für 1955 bis 1957 entsprechend seinen Erklärungen.
Bei einer im Oktober 1959 durchgeführten Betriebsprüfung vertrat der Prüfer die Auffassung, daß für die fraglichen Umsätze eine Umsatzsteuerbefreiung gemäß § 4 Ziff. 11 UStG nicht in Betracht komme, weil der Steuerpflichtige durch seine Tätigkeit nicht unmittelbar heilend auf die Krankheitsprozesse einwirke, sondern lediglich Gutachten und Diagnose-Berichte erstatte. Das Finanzamt schloß sich dieser Auffassung an. Es berichtigte die Umsatzsteuerveranlagungen für 1955 bis 1957 gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO und setzte die Umsatzsteuer für 1958 durch vorläufige Veranlagung höher fest, wobei es zum Teil weitere (unstreitige) Feststellungen des Prüfers berücksichtigte.
Auf die Sprungberufung des Steuerpflichtigen ließ das Finanzgericht die in den Steuererklärungen als steuerfrei abgesetzten Beträge gemäß § 4 Ziff. 11 UStG zum Abzug zu, weil die diagnostische Tätigkeit des Steuerpflichtigen eine unmittelbare und entscheidende Bedeutung für die weitere ärztliche Behandlung der Kranken habe.
Mit der Rb. bemängelt der Vorsteher des Finanzamts in erster Linie unzureichende Sachaufklärung durch das Finanzgericht. Er führt im wesentlichen aus: ... Im übrigen bleibt das Finanzamt bei der Auffassung, die Tätigkeit des Steuerpflichtigen stelle keine ärztliche Hilfeleistung im Sinne des § 4 Ziff. 11 UStG dar, weil sie nicht unmittelbar in den Krankheitsverlauf des Patienten eingreife und zu dessen Gunsten erbracht werde, sondern lediglich als Vorstufe der Heilbehandlung anzusehen sei, da der Steuerpflichtige keinerlei persönlichen Kontakt zu den Patienten habe, keine eigenen Untersuchungen an ihnen ausführe und sie in der Regel nicht einmal sehe.
Entscheidungsgründe
Die Prüfung der Rb. ergibt folgendes.
...
Unter ärztlicher Hilfeleistung im Sinne des § 4 Ziff. 11 UStG ist grundsätzlich die unmittelbare Heilbehandlung des Kranken durch den Arzt zu verstehen, d. h. die vom Arzt ausgehende Tätigkeit verordnender oder ausführender Art, die eine Milderung oder Beseitigung des Krankheitszustandes bezweckt (vgl. Urteile des Reichsfinanzhofs V A 1048/30 vom 24. April 1931, RStBl 1931 S. 367, und V A 560/32 vom 15. Juli 1932, RStBl 1933 S. 282).
Der Begriff der ausführenden ärztlichen Tätigkeit darf aber nicht zu eng ausgelegt werden. Er umfaßt alle Maßnahmen eines Arztes, die erforderlich oder zweckmäßig sind, um das Ziel, die Heilung oder wenigstens Besserung des Krankheitszustandes, zu erreichen. Dazu gehören auch die Untersuchungen, die dazu dienen, die Art der Krankheit zu bestimmen, mögen sie am Kranken selbst oder an herausgeschnittenen Gewebeproben vorgenommen werden und zu Beginn oder im Verlaufe der eigentlichen Heilbehandlung stattfinden. Der Senat hat im Urteil V 36/54 U vom 12. August 1954 (BStBl 1954 III S. 364, Slg. Bd. 59 S. 400) klargestellt, daß sogar ärztliche Untersuchungen zur vorbeugenden Verhütung von Erkrankungen ärztliche Hilfeleistungen im Sinne des § 4 Ziff. 11 UStG sind. Das muß um so mehr gelten, wenn bereits Symptome einer Erkrankung aufgetreten sind.
Denn ohne genaue Bestimmung der Art der Krankheit ist eine Heilung in der Regel nicht möglich. Die histologische Untersuchung und Beurteilung krankheitsverdächtiger Gewebeteile erbringt bei fieberhaften, entzündlichen oder geschwulstartigen Erkrankungen oftmals überhaupt erst die Grundlage für die anzuwendende Therapie. Der in die ärztliche Behandlung eingeschaltete Pathologe wird - ebenso wie jeder andere zusätzlich herangezogene Mediziner mit Spezialkenntnissen - vorübergehend zum zweiten Arzt des Patienten (Consiliarius). Daß er den Patienten in der Regel nicht kennt und in keine näheren Beziehungen zu ihm tritt, ändert nichts daran, daß er durch seine Tätigkeit eine wesentliche, dem Kranken unmittelbar zugute kommende Voraussetzung für die Heilung oder Besserung der Krankheit setzt. Auch der Röntgenologe hat zum Patienten keine "persönliche Bindung" und sieht ihn, wenn die Röntgenaufnahmen von einer staatlich geprüften Röntgenassistentin gemacht werden, oft überhaupt nicht. Die Verwaltung hat hierin zu Recht keinen Grund erblickt, ihm die Steuerfreiheit nach § 4 Ziff. 11 UStG zu versagen (vgl. Erlaß des Reichsministers der Finanzen S 4146 - 149 III vom 9. April 1937, Umsatzsteuer-Kartei S 4146 Karte 11).
Der Vergleich des Finanzamts mit der untersuchenden und begutachtenden Tätigkeit des Vertrauensarztes einer Krankenversicherung zur Feststellung der Arbeitsfähigkeit oder - Unfähigkeit von Kassenpatienten geht fehl. Diese Tätigkeit dient im Gegensatz zu der des Steuerpflichtigen nicht der Heilung des Kranken, sondern dem Interesse der Versicherung (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs V 253/56 U vom 3. April 1957, BStBl 1957 III S. 201, Slg. Bd. 64 S. 540). Ebenso verfehlt ist der Einwand des Finanzamts, es sei denkbar, daß Patienten nach Erstellung des Gutachtens durch den Steuerpflichtigen, aber noch vor einer weiteren Behandlung durch ihren Arzt verstorben sind oder daß die Untersuchung durch den Steuerpflichtigen ein unheilbares Leiden ergeben hat, das auch durch eine weitere Behandlung nicht mehr hätte beseitigt oder gelindert werden können. Der Erfolg der ärztlichen Hilfeleistung ist weder beim Hauptarzt noch bei den hinzugezogenen Spezialärzten Voraussetzung für die Gewährung der Steuerfreiheit nach § 4 Ziff. 11 UStG.
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Fundstellen
BStBl III 1963, 547 |
BFHE 1964, 624 |
BFHE 77, 624 |
StRK, UStG:4/11 R 10 |
NJW 1964, 472 |