Entscheidungsstichwort (Thema)
Einkommensteuer, Lohnsteuer, Kirchensteuer
Leitsatz (amtlich)
Erhält der Kaufmann erst nach Aufstellung der Bilanz von am Bilanzstichtag gegebenen Tatsachen Kenntnis, die eine Forderung am Bilanzstichtag nicht vollwertig erscheinen lassen, so kommt eine Bilanzberichtigung nicht in Betracht. Der Kaufmann ist im allgemeinen auch nicht berechtigt, die unter Anwendung der gebotenen Sorgfalt aufgestellte Bilanz zu ändern.
Es ist auch im allgemeinen kein Fehlgebrauch des Ermessens, wenn das Finanzamt oder das Finanzgericht in Fällen der Ziff. 1 die Zustimmung zu einer änderung der dem Finanzamt eingereichten Bilanz verweigert.
Normenkette
EStG § 4 Abs. 2, §§ 5, 6/1/2
Tatbestand
Streitig ist, ob die beschwerdeführende offene Handelsgesellschaft ihre Bilanz vom 31. Dezember 1955 in der Weise ändern darf, daß sie auf ihre Wechselhaftung und ihre Forderungen gegenüber einer GmbH eine Rückstellung von 50 v. H. der Nennbeträge bildet.
Zu den Hauptabnehmern der den Metallgroßhandel betreibenden Bfin. gehörte seit vielen Jahren die GmbH. In der im Oktober 1956 aufgestellten und dem Finanzamt eingereichten Bilanz vom 31. Dezember 1955 beliefen sich die Kaufpreisforderungen gegen die GmbH auf rund 88 000 DM und die Haftungen aus den von der GmbH akzeptierten und von der Bfin. weitergegebenen Wechseln auf rund 190 000 DM. Für diese Forderungen und Haftungen machte die Bfin. keine Einzelrückstellungen. Die Risiken wurden lediglich bei der Berechnung einer pauschalen Wertberichtigung der Buch- und Wechselforderungen mit 5 v. H. der Forderungen und mit 1 v. H. des unter dem Strich vermerkten Wechselobligos berücksichtigt. Die GmbH beglich die von der Bfin. in der Bilanz vom 31. Dezember 1955 ausgewiesenen Forderungen vereinbarungsgemäß und löste auch die Wechsel pünktlich ein, aus denen sich das Wechselobligo der Bfin. in Höhe von rund 190 000 DM ergab. Während des ersten Halbjahrs 1956 kam die GmbH auch sonst ihren laufenden Verpflichtungen in vollem Umfange nach.
Am 22. November 1956 beantragte die GmbH die Eröffnung des gerichtlichen Vergleichsverfahrens, das im Mai 1957 mit einer Vergleichsquote von 45 v. H. und einem Bonus von 30 v. H. endete. Nach Eröffnung des Vergleichsverfahrens nahm die Bfin. mit dem Finanzamt Verhandlungen wegen einer Berichtigung der Bilanz vom 31. Dezember 1955 mit dem Ziele auf, die Buchforderungen gegen die GmbH auf 50 v. H. des Nennbetrags abzuschreiben und eine Rückstellung von 50 v. H. auf das Wechselobligo zu bilden. Im Juli 1957 reichte die Bfin. dem Finanzamt eine entsprechend berichtigte Steuererklärung und Bilanz für 1955 ein. Das Finanzamt ließ bei der jetzt vorgenommenen vorläufigen Veranlagung 1955 weder die Abschreibung noch die Rückstellung zu.
Die Bfin. begründete ihren erfolglos gebliebenen Einspruch und ihre Berufung im wesentlichen damit, daß es sich um eine Bilanzberichtigung handle; denn es habe sich nachträglich herausgestellt, daß ihre Forderungen gegen die GmbH am 31. Dezember 1955 objektiv notleidend gewesen seien und deshalb nicht mit dem Nennbetrag hätten ausgewiesen werden dürfen. Eine objektive Gefährdung ergebe sich aus der am 31. Dezember 1955 vorhandenen überschuldung der GmbH. Selbst wenn ihre im Oktober 1956 dem Finanzamt eingereichte Bilanz nicht falsch sei und deshalb nicht berichtigt werden könne, so sei doch das Finanzamt nach Recht und Billigkeit verpflichtet, zu einer Bilanzänderung die nach § 4 Abs. 2 EStG notwendige Genehmigung zu erteilen.
Die Berufung der Bfin. blieb erfolglos. Das Finanzgericht nahm zu den Ausführungen der Bfin. wie folgt Stellung: Die Bfin. habe bei ihrer Bilanzaufstellung im Oktober 1956 keine Veranlassung gehabt, auf ihre Forderungen gegen die GmbH Rückstellungen zu bilden, da sie der GmbH nur die üblichen Zahlungsbedingungen eingeräumt habe und die GmbH ihren Verpflichtungen stets nachgekommen sei. Damit sei die Bilanzierung der Bfin. zulässig gewesen und eine Bilanzberichtigung komme nicht in Betracht. Auch eine Bilanzänderung sei nicht möglich, weil die Bfin. richtig bilanziert habe und die begehrte Rückstellung auch in der ursprünglichen Bilanz nicht zulässig gewesen wäre.
Entscheidungsgründe
Die Rb. der Bfin. ist nicht begründet.
Der Senat stimmt der Auffassung des Finanzgerichts zu, daß die Bewertung der Forderungen der Bfin. gegen die GmbH nicht falsch war und daß deshalb eine Bilanzberichtigung nicht in Betracht kommt. Selbst wenn man unterstellt, daß die GmbH am 31. Dezember 1955 bereits überschuldet war, so liegt doch eine unrichtige Bilanzierung der Bfin. und damit eine Pflicht, die Bilanz zu berichtigen, nicht vor. Handelsrecht und Steuerrecht können von dem Kaufmann nicht mehr verlangen, als daß er seine bis zur Aufstellung der Bilanz erlangte Kenntnis von dem am Bilanzstichtag vorliegenden Sachverhalt pflichtgemäß und gewissenhaft bei der Aufstellung der Bilanz verwertet. Kennt er bei der Aufstellung der Bilanz Tatsachen nicht, die seine Forderungen als nicht vollwertig erscheinen lassen, so kann er nicht verpflichtet werden, die von ihm nach bestem Wissen aufgestellte Bilanz, wenn er später diese Kenntnis erlangt, zu berichtigen.
Für die Bewertung einer Forderung ist der Teilwert entscheidend, der durch die Kenntnisse bestimmt wird, die ein sorgfältiger Kaufmann sich über die Verhältnisse des Schuldners am Bilanzstichtage verschaffen konnte. Der Grundsatz der Vorsicht hat dazu geführt, bei der Bewertung auch Kenntnisse zu berücksichtigen, die bis zur Bilanzaufstellung erworben worden sind (siehe Entscheidung des Reichsgerichts, Juristische Wochenschrift 1912 Nr. 6 Ziff. 26 S. 305, und die Entscheidungen des Reichsfinanzhofs VI A 844/30 vom 13. November 1930, RStBl 1931 S. 110; VI A 533/31 vom 17. Juni 1931, RStBl 1931 S. 813; VI 280/42 vom 19. August 1942, RStBl 1942 S. 934). Hat ein Kaufmann bei der Aufstellung der Bilanz nicht die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung befolgt, hat er sich also nicht ausreichend über die Verhältnisse des Schuldners unterrichtet, so muß die nachträglich erworbene Kenntnis zur Berichtigung der Bilanz führen. Zu derartigen Berichtigungen führen auch Versehen, die im Rahmen der Buchhaltung vorgekommen sind.
Es geht im Streitfall nur darum, ob der Steuerpflichtige seine innerhalb angemessener Frist nach der Aufstellung der Bilanz erlangte bessere Kenntnis durch eine Bilanzänderung berücksichtigen darf, und ob das Finanzamt dann nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit seine Zustimmung (ß 4 Abs. 2 EStG) zu der erstrebten Bilanzänderung erteilen mußte. Grundsätzlich ist die Möglichkeit, die Bilanz auf Grund der erst nach ihrer Aufstellung erlangten Kenntnisse zu ändern, deshalb nicht gegeben, weil der Steuerpflichtige bei Aufstellung der Bilanz kein Wahlrecht besaß und es nicht gerechtfertigt ist, der erst nach Bilanzaufstellung erlangten Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse am Bilanzstichtag die gleiche Bedeutung beizumessen wie der bis zur Bilanzaufstellung erlangten Kenntnis. Selbst wenn man aber die Möglichkeit einer solchen änderung kurze Zeit nach der Aufstellung der Bilanz nicht ausschließen will (vgl. Urteil des Reichsfinanzhofs I A 44/32 vom 25. Oktober 1933, RStBl 1934 S. 410, und Urteil des Obersten Finanzgerichtshofs IV 37/50 vom 13. Juni 1950, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Reichsabgabenordnung, § 222 Rechtsspruch 2), so besteht doch im vorliegenden Fall keine Veranlassung, die Verweigerung der Zustimmung als Ermessensverletzung anzusehen.
Wie im Urteil des Bundesfinanzhofs I 103/51 U vom 29. Januar 1952 (BStBl 1952 III S. 57, Slg. Bd. 56 S. 137) ausgeführt ist, ist ein Verstoß des Finanzamts oder des Finanzgerichts gegen Recht und Billigkeit ein Ermessensmißbrauch und eine Rechtsverletzung im Sinne des § 297 Abs. 1 AO, die im Rechtsbeschwerdeverfahren gerügt werden kann. Ein solcher Verstoß liegt aber nur dann vor, wenn die vom Finanzamt oder Finanzgericht getroffene Entscheidung nach allgemeiner Auffassung offensichtlich unbillig ist, also nicht schon, wenn der Senat ihr zwar nicht beitreten würde, wenn er den Fall an Stelle des Finanzamts oder Finanzgerichts zu entscheiden hätte, aber die Entscheidung des Finanzgerichts trotzdem vertretbar erscheint. Geht man von diesen Rechtsgrundsätzen aus, so bedarf es keiner Prüfung, ob die GmbH bereits am 31. Dezember 1955 notleidend war und damit die Forderungen der Bfin. am Bilanzstichtag nicht vollwertig waren. Denn es besteht schon deshalb kein Grund zur Annahme einer Ermessensverletzung, weil die Forderungen der Bfin. vom 31. Dezember 1955, deren Bewertung Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens ist, bei der Aufstellung der Bilanz im Oktober 1956 schon in vollem Umfange bezahlt waren.
Fundstellen
Haufe-Index 409823 |
BStBl III 1961, 3 |
BFHE 1961, 8 |
BFHE 72, 8 |
BB 1960, 1378 |
DB 1961, 54 |