Entscheidungsstichwort (Thema)
Wochenendfahrten einer alleinstehenden berufstätigen Mutter zu ihrem von der Großmutter betreuten Kind
Leitsatz (NV)
1. § 33 c EStG begünstigt nur Aufwendungen, die unmittelbar im Zusammenhang mit Dienstleistungen Dritter und für die Betreuungsperson erbracht werden.
2. Fahrtaufwendungen einer alleinstehenden Mutter zu ihrem an einem auswärtigen Ort von der Großmutter betreuten Kind sind nicht als außergewöhnliche Belastung nach § 33 EStG berücksichtigungsfähig.
3. Zur Auslegung eines Vorläufigkeitsvermerks, der einem ESt-Bescheid im Hinblick auf das Urteil des BVerfG vom 3. 11. 1982 1 BvR 620/78 u. a. (BStBl II 1982, 717) beigefügt wurde.
4. Zur Anerkennung von Fahrtaufwendungen als Werbungskosten, wenn sich der Arbeitnehmer abwechselnd von zwei Wohnungen zu seiner Arbeitsstätte begibt.
Normenkette
EStG § 9 Abs. 1 Nr. 4, §§ 33, 33c; AO 1977 §§ 165, 177
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) war in den Streitjahren 1980, 1982 und 1983 in F beschäftigt. Sie ist Mutter und alleinerziehender Elternteil einer am . . . 1980 geborenen Tochter. Während der Wochenarbeitstage wohnte sie in E; die Tochter war während dieser Zeit bei ihrer Großmutter in W untergebracht. Jeweils nach Dienstschluß am Freitagabend fuhr die Klägerin im eigenen Auto von F nach W, um die Pflege und Betreuung des Kindes über das Wochenende zu übernehmen und ihre Mutter, die herzleidend ist, zu entlasten. Großmutter, Mutter und Kind wohnten in W in der gleichen Wohnung und waren dort auch beim Einwohnermeldeamt, die Klägerin mit ihrem ersten Wohnsitz, gemeldet.
Die Fahrtkosten machte die Klägerin in ihren Einkommensteuererklärungen als Werbungskosten bei ihren Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit (doppelte Haushaltsführung) geltend. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) erkannte die geltend gemachten Aufwendungen nicht an. Das FA erließ für 1980, 1982 und 1983 vorläufige Einkommensteuerbescheide vom 14. November 1984, vom 30. Juni 1983 und vom 6. Juli 1984. In den Erläuterungen der Bescheide heißt es jeweils: ,,Der Bescheid ist aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 3. November 1982 vorläufig, soweit es sich um die Berücksichtigung von Kindern unter 18 (für 1983: unter 16) Jahren handelt." Die Einkommensteuerbescheide wurden bestandskräftig.
Mit Schreiben vom 29. April 1985 beantragte die Klägerin die Anerkennung der Kinderbetreuungspauschale für die Jahre 1980 bis 1983. Mit Schreiben vom 25. November 1985 schließlich beantragte sie außerdem, die Kosten für die Wochenendheimfahrten zu ihrem ersten Wohnsitz in den Streitjahren wie folgt als Kinderbetreuungskosten mit den Höchstbeträgen anzuerkennen:
1980 1 844 DM
1982 4 000 DM
1983 4 000 DM
Diesem Antrag lag eine Aufstellung folgender Fahrtkosten zugrunde: . . .
Das FA erließ daraufhin endgültige Einkommensteuerbescheide für 1980 und 1982 vom 30. Januar 1986 und für 1983 vom 19. Februar 1986, in denen es die Kinderbetreuungskosten in folgender Höhe als außergewöhnliche Belastung pauschal anerkannte:
1980 300 DM
1982 600 DM
1983 480 DM
Die geltend gemachten Aufwendungen für die Familienheimfahrten erkannte es nicht als Kinderbetreuungskosten an.
Gegen die Änderungsbescheide legte die Klägerin Einsprüche ein, die das FA zurückwies.
Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) erkannte die gesamten von der Klägerin errechneten Fahrtkosten als außergewöhnliche Belastung an und setzte lediglich jeweils die zumutbare Belastung ab; ferner saldierte es mit den vom FA gewährten pauschalen Kinderbetreuungskosten. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus:
Wegen des Vorläufigkeitsvermerks in den Ursprungsbescheiden unterlägen ,,alle Fragen der Kinderbetreuungskosten" dem Status der Vorläufigkeit. Unerheblich sei letztlich die anwendbare Rechtsvorschrift, so daß auch eine Änderung wegen § 33 des Einkommensteuergesetzes (EStG) noch in Betracht komme.
Die Voraussetzungen des § 33 EStG, der hier neben § 33 c EStG anwendbar sei, seien auch gegeben, weil der zu beurteilende Lebensvorgang außergewöhnlich sei und sich nicht in die Kinderbetreuungsaufwendungen einordnen lasse. Denn für die geistig-seelische Entwicklung eines Kleinkindes sei es von großer Wichtigkeit, daß die Mutter in einem engen, hautnahen Kontakt zum Kind bleibe. Die Erfüllung dieser naturgegebenen Bedürfnisse gehe über das hinaus, was man als Betreuung bezeichnen könne. Die entsprechende mütterliche Verpflichtung komme - auch unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) - einer Verpflichtung i. S. des § 33 Abs. 2 EStG gleich.
Der Senat sehe insoweit eine Parallele zu der Behandlung von Fahrtkosten als Krankheitskosten. Dort erkenne die Rechtsprechung ausnahmsweise Aufwendungen für Besuchsfahrten zu einem im Krankenhaus liegenden Ehegatten als außergewöhnliche Belastung an, wenn die Besuche unmittelbar der Heilung oder Linderung der Krankheit dienten. Dem könne entnommen werden, daß die durch den Krankenbesuch hergestellten unmittelbaren Kontakte notwendig seien und den Gesundungsprozeß unterstützten. Dieser Grundsatz müsse auf sozial adäquate Vorgänge ausgedehnt werden, wenn es - wie hier - darum gehe, durch eine ständige unmittelbare Kontaktpflege Fehlentwicklungen bei kranken, hilflosen und isolierten nahen Familienangehörigen entgegenzuwirken und dadurch helfend einen Gesundungsprozeß im psychischen, körperlichen und sozialen Bereich zu unterstützen.
Hiergegen richtet sich die Revision, mit der das FA die Verletzung materiellen Rechts rügt.
Es führt im wesentlichen aus, das FG habe verkannt, daß § 33 a EStG lex spezialis gegenüber § 33 EStG sei. Dies habe zur Folge, daß auf § 33 EStG nicht zurückgegriffen werden kann, wenn § 33 a Abs. 3 EStG nicht eingreife. Das Urteil des FG stelle deshalb einen ,,Systembruch" dar.
Die Vorentscheidung weiche aber auch vom Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 29. August 1986 III R 209/82 (BFHE 148, 22, BStBl II 1987, 167) ab. Denn danach seien Leistungen Unterhaltsverpflichteter in Erfüllung ihrer Pflicht zur Personensorge grundsätzlich durch die Regelungen über den Kinderlastenausgleich abgegolten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
1. Die streitigen Fahrtkosten können nicht als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt werden.
a) Wie auch die Vorinstanz nicht verkannt hat, sind die Fahrtkosten keine Aufwendungen für Dienstleistungen zur Betreuung eines Kindes i. S. v. § 33 c EStG.
Der Senat hat durch sein Urteil in BFHE 148, 22, BStBl II 1987, 167 für die insoweit wortgleiche Vorschrift des § 33 a Abs. 3 Nr. 1 EStG 1979 (§ 53 a EStG 1983) entschieden, daß nur die unmittelbar im Zusammenhang mit Dienstleistungen Dritter erbrachten Aufwendungen begünstigt sind und Aufwendungen des Steuerpflichtigen, die nicht für die Betreuungsperson geleistet werden, auch dann nicht abziehbar sind, wenn sie in irgendeiner Weise durch die Betreuung der Kinder veranlaßt werden. Er hat es deshalb abgelehnt, Fahrtkosten der - berufstätigen - Eltern für den täglichen Hin- und Rücktransport ihrer Kinder zur Großmutter, die die Kinder tagsüber beaufsichtigte, als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen. An den Grundsätzen dieser Entscheidung hält der Senat fest. Aus dem gleichen Grunde ist auch die Berücksichtigung eigener Fahrtkosten des Steuerpflichtigen im Rahmen des § 33 c EStG nicht möglich.
b) Entgegen der Auffassung des FG können die Fahrtkosten aber auch nicht gemäß § 33 EStG - ohne Bindung an die Höchstbeträge des § 33 c EStG - als außergewöhnliche Belastung anerkannt werden.
§ 33 EStG ist auf die streitigen Fahrtaufwendungen nicht anwendbar. § 33 c EStG geht als spezialgesetzliche Regelung dem § 33 EStG vor. Das bedeutet, daß § 33 EStG auch dann nicht anwendbar ist, wenn einzelne Voraussetzungen des § 33 c EStG nicht erfüllt sind (Kanzler in Herrmann / Heuer / Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, 19. Aufl., § 33 c EStG Rdnr. 27). Daß § 33 EStG in Fällen der hier vorliegenden Art nicht anwendbar ist, beruht letztlich darauf, daß Leistungen Unterhaltsverpflichteter in Erfüllung ihrer Pflicht zur Personensorge (§§ 1601, 1603, 1612 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) grundsätzlich durch die Regelungen über den Kinderlastenausgleich (Kindergeld und andere kindbedingte Entlastungen, Freibeträge und Pauschalen) abgegolten sind (vgl. auch insoweit Urteil in BFHE 148, 22, 25, BStBl II 1987, 167).
2. Die Aufwendungen der Klägerin für die Fahrten nach W können aber im Rahmen des § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG als Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zu berücksichtigen sein.
a) Obwohl es sich bei Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte um Werbungskosten aus nichtselbständiger Arbeit handelt, können die angefochtenen Bescheide gemäß § 165 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) auch insoweit noch berichtigt werden. Denn die Vorbehaltsklausel (,,soweit es sich um die Berücksichtigung von Kindern . . . handelt") ist nicht auf Tatsachen betreffend einen bestimmten Rechtsgrund, wie z. B. den Grundfreibetrag oder Kinderfreibeträge, beschränkt, sondern so weit gefaßt, daß die Bestandskraft hinsichtlich aller Minderungen der steuerlichen Leistungsfähigkeit durchbrochen ist, die im weitesten Sinne mit dem Kind der Klägerin zusammenhängen.
Dieser Auslegung steht die gleichzeitige Bezugnahme des FA auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 3. November 1982 1 BvR 620/78, 1335/78, 1104/79, 363/80 (BStBl II 1982, 717) nicht entgegen. Denn in dem Verfahren vor dem BVerfG waren nicht nur Kinderbetreuungskosten geltend gemacht worden, sondern es ging allgemein um die verminderte steuerliche Leistungsfähigkeit alleinerziehender Elternteile. Das BVerfG hatte es dem Gesetzgeber freigestellt, eine verfassungsgemäße Lage auf verschiedene Weise, z. B. durch die Einbeziehung Alleinerziehender in das Splitting-Verfahren, wiederherzustellen (Urteil in BStBl II 1982, 717, 729). Im Zeitpunkt des Erlasses der hier angefochtenen Einkommensteuerbescheide und der Formulierung der Vorbehaltsklausel war mithin noch nicht abzusehen, in welcher Weise der Gesetzgeber die verfassungswidrige Lage beseitigen würde. Dies erklärt die weite Fassung der Vorbehaltsklausel, deren Unbestimmtheit im übrigen nach allgemeinen Grundsätzen zu Lasten des FA gehen muß (vgl. insoweit auch Urteil vom 9. Oktober 1985 II R 74/83, BFHE 145, 11, BStBl II 1986, 38).
Ist aber die Bestandskraft hinsichtlich der Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit wegen der besonderen Belastung Alleinerziehender durchbrochen, so gilt dies auch für Fahrtaufwendungen zu einem weiter entfernt liegenden ersten Wohnsitz, die der Steuerpflichtige wegen seines dort lebenden Kindes unternimmt, wie dies hier der Fall war. In diesem Umfang, also soweit die Bestandskraft durchbrochen ist, können Rechtsfehler bei der endgültigen Steuerfestsetzung noch berücksichtigt werden.
Die Möglichkeit der Berücksichtigung von Rechtsfehlern im Rahmen von Aufhebungen und Änderungen von Steuerbescheiden ergibt sich schon aus § 177 Abs. 1 und 2 AO 1977. Aus Abs. 3 der Vorschrift ergibt sich darüber hinaus, daß die Berücksichtigung von Rechtsfehlern auch ohne die Voraussetzungen der Abs. 1 und 2 zulässig ist, soweit Änderungen oder Aufhebungen durch eine allgemeine Durchbrechung der Bestandskraft, wie hier durch eine Vorbehaltsfestsetzung gemäß § 165 Abs. 1 AO 1977, offengehalten sind (vgl. Kühn / Kutter / Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 177 AO 1977 Anm. 4; Klein / Orlopp, Abgabenordnung, 4. Aufl. 1989, § 177 Anm. 5).
b) Im Streitfall war die Nichtberücksichtigung der Aufwendungen für die Fahrten der Klägerin von F nach W objektiv rechtsfehlerhaft, wenn die Wohnung in W den Lebensmittelpunkt der Klägerin darstellte. Denn die Klägerin hatte zwei Wohnungen, in E und W, von denen sie sich abwechselnd zu ihrer Arbeitsstätte in F begab. War die weiter entfernt liegende Wohnung ihr Lebensmittelpunkt, steht ihr nach den Grundsätzen des BFH-Urteils vom 13. Dezember 1985 VI R 7/83 (BFHE 145, 386, BStBl II 1986, 221) der Werbungskostenabzug für die Fahrtaufwendungen in den Grenzen des § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG zu. Aus dem Urteil in BFHE 145, 386, BStBl II 1986, 221 ergibt sich zugleich, daß ein Lediger seinen Lebensmittelpunkt nicht stets an seinem Arbeitsort haben muß, sondern daß die weiter entfernt liegende Wohnung sein Lebensmittelpunkt sein kann, wenn er dorthin entsprechende Bindungen, insbesondere zu seinen dort wohnenden nächsten Angehörigen hat.
Daß das FA die Berücksichtigung der Fahrtaufwendungen als Werbungskosten nach der im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung bestehenden höchstrichterlichen Rechtsprechung möglicherweise zu Recht abgelehnt hat, steht der Berichtigung nicht entgegen. Denn insoweit kommt es auf die heutige Auslegung der Vorschrift des § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG an.
Das Urteil des FG, das der Rechtsauffassung des Senats nicht entspricht, ist aufzuheben. Da die Sache nicht spruchreif ist, ist sie gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) an das FG zurückzuverweisen. Dieses wird bei seiner erneuten Entscheidung zu berücksichtigen haben, daß nach den Grundsätzen des Urteils in BFHE 145, 386, BStBl II 1986, 221 im Zweifel auch im Streitfall davon auszugehen ist, daß die Klägerin ihren Lebensmittelpunkt an der weiter von der Arbeitsstätte entfernt liegenden Wohnung in W hatte.
Fundstellen
Haufe-Index 417900 |
BFH/NV 1992, 172 |