Entscheidungsstichwort (Thema)
Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Die Frage, ob vom Steuerpflichtigen ein Rechtsmittel oder nur ein Erlaßantrag gemäß § 131 AO beabsichtigt ist, ist im Zweifelsfall unter Beachtung der Grundsätze des § 249 Abs. 1 und 2 AO im Benehmen mit dem Steuerpflichtigen zu klären.
Eine Auslegung gegen den Wortlaut ist gerechtfertigt, wenn festgestellt werden kann, daß die Fassung einer Gesetzesvorschrift über das hinausgeht, was mit ihr vom Gesetzgeber beabsichtigt ist.
Soll sich die Vorläufigkeit eines Bescheides auf einzelne Punkte beschränken, so muß dies im Bescheid mit hinreichender, für den Steuerpflichtigen erkennbarer Bestimmtheit zum Ausdruck kommen.
Ergeht ein in vollem Umfange vorläufiger Bescheid, so ist bei Erlaß eines endgültigen Bescheides oder eines nach § 225 AO berichtigten Bescheides alles zu berücksichtigen, was der Steuerpflichtige bis zum Erlaß eines derartigen Bescheides noch vorgebracht hat.
Normenkette
StAnpG § 1 Abs. 2, § 1/3; AO §§ 100, 225, 249, 238
Tatbestand
Streitig ist, ob die für 1953 zu veranlagende Einkommensteuer des Beschwerdeführers (Bf.) gemäß § 32 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nach der Einkommensteuertabelle oder ob sie nach der Sondervorschrift des § 32b EStG 1951 zu berechnen ist, der eine Anwendung des Körperschaftsteuersatzes auf die Gewinne aus Gewerbebetrieb vorsieht. Das Finanzamt hat - wie schon für die Veranlagungszeiträume 1951 und 1952 - so auch für den Veranlagungszeitraum 1953 die Einkommensteuer nach § 32b EStG 1951 bemessen. Dabei hat sich für die drei genannten Veranlagungszeiträume insgesamt eine Einkommensteuer ergeben, die - in runden Zahlen - um 57.000 DM höher ist als diejenige Steuer, die sich für den gleichen Zeitraum bei Anwendung der Einkommensteuertabelle insgesamt ergeben haben würde, wobei - ebenfalls in runden Zahlen - ein Mehr von 45.000 DM auf das Jahr 1953 und der verbleibende Restbetrag von 12.000 DM etwa je zur Hälfte auf die Jahre 1951 und 1952 entfällt. Der Bf. ist der Ansicht, daß ein solches Ergebnis vom Gesetz nicht gewollt sein könne. Das Finanzamt beruft sich darauf, daß seine Sachbehandlung dem vom Bf. unwiderruflich gestellten Antrag entspreche, an den er - auch nach dem Hinweis im Einkommensteuer-Erklärungsvordruck unter Abschnitt F Ziff. 10 - gemäß Satz 3 des Absatzes 1 des § 32b EStG 1951 auch für die Veranlagungszeiträume 1952 und 1953 gebunden sei.
Einspruch und Berufung blieben erfolglos. Für die Beurteilung der Rechtslage ist die tatsächliche Entwicklung seit dem Ablauf des Veranlagungszeitraums 1951 von Bedeutung:
Die Einkommensteuer 1951 wurde auf Grund des vom Bf. rechtzeitig gemäß § 32b Abs. 1 EStG 1951 schriftlich und unwiderruflich gestellten Antrags nach dieser Sondertarifvorschrift festgesetzt. Die Festsetzung erfolgte vorläufig. In Abschnitt IV des Einkommensteuerbescheids ist hierzu bemerkt: "Der Bescheid ist vorläufig, weil die Sonderabschreibungen nach § 7 a EStG noch nachgeprüft werden müssen." Am 27. April 1953 - etwa zwei Wochen nach Ablauf der Rechtsmittelfrist - ging bei dem Finanzamt ein Schreiben des Bf. ein, aus dem sich ergab, daß er bei Antragstellung von einer rechtsirrigen Auslegung des § 32 b EStG 1951 ausgegangen war; und zwar insofern, als er der Meinung war, daß die - im vorläufigen Bescheid nach dem Körperschaftsteuersatz mit 49.090 DM errechnete und "zu entrichtende" - Einkommensteuer im Sinne des Abs. 2 der Vorschrift in jedem Falle in ihrer vollen Höhe bei der gemäß Abs. 3 der Bestimmung nach der Einkommensteuertabelle von der Unternehmervergütung und den darüber hinausgehenden Entnahmen zu berechnenden Steuer außer Betracht bleibe, während dies nach Abs. 4 der Vorschrift nur für die Steuerbeträge zutrifft, "die entnommen worden sind", also in 1951 tatsächlich entrichtet worden sind. Zu dieser Auslegung sei er veranlaßt worden, weil in Abs. 4 Ziff. 2 des § 32 b EStG 1951 die Rede sei von "der nach Abs. 2 zu entrichtenden Steuer". Daß er sich mit dieser seiner Auslegung im Widerspruch mit der von der Verwaltung vertretenen Auffassung befinde, habe sich für ihn erst nach Abgabe seiner Einkommensteuererklärung aus der zu § 32 b EStG ergangenen Verwaltungsanweisung vom 23. August 1952 (Bundessteuerblatt - BStBl - 1952 I Nr. 25 vom 17. September 1952 S. 771) ergeben. Für den Fall der Maßgeblichkeit dieser Verwaltungsanweisung widerrufe er seinen Antrag auf Inanspruchnahme des § 32 b EStG "mit der Bitte, den Widerruf aus Billigkeitsgründen zu genehmigen und die bisherige nach § 32 b vorgenommene vorläufige Veranlagung in eine endgültige normale Veranlagung umzuwandeln". Nachdem er zuvor davon verständigt worden war, daß das Finanzamt im Benehmen mit der Oberfinanzdirektion einen Widerruf für unzulässig erachte, ging ihm ein Schreiben vom 19. August 1953 folgenden Inhalts zu: "Der vorläufige Einkommensteuerbescheid 1951 vom 9. März 1953 wird hierdurch für endgültig erklärt." Der Bf. nahm diese Mitteilung ebenso wie den später für 1952 auf der gleichen Tarifgrundlage erlassenen Einkommensteuerbescheid hin, ohne etwas zu unternehmen. Erst nach Erlaß des in seinen tariflichen Folgen für ihn besonders schwerwiegenden Einkommensteuerbescheids für 1953 kam er - innerhalb der erst am 5. April 1955 ablaufenden Rechtsmittelfrist - mit Scheiben vom 16. März 1955 (eingegangen am 18. März 1955) auf die umstrittene Tariffrage zurück, indem er unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesfinanzhofs darauf hinweis, daß das unnachgiebige Festhalten der Verwaltung an der Tarifvorschrift des § 32 b EStG in Anbetracht der darin liegenden "unbilligen Härte", durch die auch der Grundsatz der steuerlichen Gleichmäßigkeit verletzt werde, keinesfalls dem Willen des Gesetzgebers entsprechen könne, weshalb er um Erlaß des sich gegenüber dem normalen Tarif ergebenden Mehrbetrags bitte. Nach ablehnendem Bescheid durch die Oberfinanzdirektion, um deren Entscheidung er nachträglich mündlich gebeten hatte, richtete er - die Rechtsmittelfrist war inzwischen abgelaufen - ein weiteres Schreiben vom 7. Juni 1955 an das Finanzamt mit dem Bemerken, daß er sich zur Wahrung seiner Rechte veranlaßt sehe, gegen den Einkommensteuerbescheid 1953 "das zulässige Rechtsmittel einzulegen". Zur Begründung wiederholte er im wesentlichen sein bisheriges Vorbringen.
Das Finanzamt bzw. der Steuerausschuß behandelten dieses Schreiben vom 7. Juni 1955 als Einspruch und verwarfen ihn, ohne auf die Sache selbst einzugehen, wegen verspäteter Einlegung als unzulässig.
Das Finanzgericht billigte dieses Verfahren in Anbetracht der besonderen Sachlage nicht, sah vielmehr bereits in dem Schreiben des Bf. vom 16. März 1955 den - rechtzeitigen - Einspruch und ging auf die Sache ein. Es führt aus, daß ihm zwar die Möglichkeit des rechtswirksamen Widerrufs eines Antrags auf Besteuerung nach § 32 b EStG keineswegs schlechthin ausgeschlossen erscheine, daß jedoch ein solcher Widerruf im Interesse der Rechtssicherheit unverzüglich erfolgen müsse. Das sei nicht geschehen. Nachdem die zu § 32 b EStG ergangene Verwaltungsanweisung vom 23. August 1952 bereits im September 1952 veröffentlicht worden sei, habe der Widerruf spätestens im Wege des Einspruchs innerhalb der gegen den vorläufigen Einkommensteuerbescheid 1951 laufenden Rechtsmittelfrist und nicht erst etwa zwei Wochen danach erfolgen müssen. Auf die Gründe der Vorentscheidung wird im übrigen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Rechtsbeschwerde (Rb.) ist der Erfolg nicht zu versagen.
Dem Finanzgericht ist darin beizupflichten, daß bereits in dem Schreiben des Bf. vom 16. März 1955 ein - rechtzeitig eingelegter - Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 1953 zu erblicken ist. Diese Beurteilung der Rechtslage entspricht dem § 249 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung (AO). Danach gilt ein Rechtsmittel als eingelegt, wenn aus ihm entnommen werden kann, daß der Steuerpflichtige sich beschwert fühlt und Nachprüfung begehrt. Nach Abs. 1 der Vorschrift ist eine unrichtige Bezeichnung unschädlich. Diese Regelung läßt das Bestreben erkennen, Entscheidungen zur Sache so wenig wie möglich an fehlenden formellen Voraussetzungen scheitern zu lassen. Der Bf. hatte mit Nachdruck schon vorher mehrfach betont, daß er sich durch die Anwendung der Tarifvorschrift des § 32 b EStG beschwert fühle, und sein ganzes Bestreben darauf gerichtet, von dem gestellten Antrag loszukommen. Sein Wille ging offensichtlich dahin, in dieser Hinsicht jeden sich ihm bietenden wirksamen, und zwar nächstliegenden Weg zu beschreiten, der ihm in verfahrensrechtlicher Hinsicht die größten Rechtsgarantien bot. In diesem Sinne ist bereits sein Schreiben vom 16. März 1955 zu verstehen (vgl. Urteil des Reichsfinanzhofs V A 740/32 vom 14. Oktober 1932, Reichssteuerblatt - RStBl - 1932 S. 941). Bei der hier gegebenen besonderen Sachlage durfte das Finanzamt das Schreiben des Bf. vom 16. März 1955 - worauf das Finanzgericht zutreffend hinweist - nicht ohne weiteres von sich aus ohne klärende Rückfrage als Antrag nach § 131 AO behandeln. Es erscheint dem Senat nicht angängig, den Bf., der kein Steuerfachmann ist, auf einzelne in seinem Schreiben gebrauchte Wendungen festzulegen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs IV 277/50 U vom 30. Mai 1951, Slg. Bd. 55 S. 353, BStBl 1951 III S. 138 ff.).
Die Entscheidung des Falles hängt somit davon ab, ob - entgegen dem Wortlaut des § 32 b Abs. 1 EStG - ein Widerruf des Antrags zulässig ist, und wenn dies bei den hier gegebenen Umständen zu bejahen sein sollte, ob der Bf. seinen Antrag rechtzeitig widerrufen hat. Die Ausführungen des Finanzgerichts sind insoweit nicht frei von Rechtsirrtum.
Daß die tarifliche Auswirkung nach dem Sondertarif des § 32 b EStG für den Bf. eine besondere Härte bedeutet, darüber besteht nach dem Akteninhalt zwischen allen Beteiligten - einschließlich Oberfinanzdirektion und Finanzamt - Einverständnis. Das Finanzamt insbesondere hat in einem seiner Berichte an die Oberfinanzdirektion darauf hingewiesen, daß es "unbillig erscheint", den Bf. an seinem Antrag festzuhalten, und deshalb vorgeschlagen, "den Antrag des Steuerpflichtigen auf Widerruf aus Billigkeitsgründen zu genehmigen". Wie der Bundesfinanzhof aber schon wiederholt ausgesprochen hat, ist dann, wenn sich ein Ergebnis nach Auffassung der Beteiligten als unbillig erweist, mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob es auch tatsächlich dem Sinn und dem Zweck der in Betracht kommenden Vorschrift entspricht, oder ob sich nicht bei wirtschaftlicher Betrachtung des Tatbestandes ein anderes Ergebnis als zutreffend im Sinne der vom Gesetz selbst gegebenen Auslegungsregel des § 1 Abs. 2 und 3 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG) erweist (Urteile des Bundesfinanzhofs IV 119/52 S vom 16. April 1953 - Slg. Bd. 57 S. 496, BStBl 1953 III S. 192 - und IV 241/52 U vom 3. Dezember 1953 - Slg. Bd. 58 S. 417, BStBl 1954 III S. 72 -). Daß hierbei ausnahmsweise und unter Beachtung der gebotenen Vorsicht eine Loslösung vom Wortlaut der Gesetzesvorschrift geboten sein kann, ist anerkannt. In seinem Urteil II ZR 71/50 vom 23. Mai 1951 (Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen - BGHZ - Bd. 2 S. 177 ff.) hat beispielsweise der Bundesgerichtshof ausgeführt: "Höher als der Wortlaut des Gesetzes steht sein Sinn und Zweck. Diesen im Einzelfall der Rechtsanwendung nutzbar zu machen und danach unter Berücksichtigung von Treu und Glauben ... den Streitfall einer billigen und vernünftigen Lösung zuzuführen, ist die Aufgabe des Richters." Auch der Bundesfinanzhof - insbesondere der erkennende Senat - hat wie schon der Reichsfinanzhof in ständiger Rechtsprechung ausgesprochen, daß es Aufgabe des Gerichtes ist, den wirklichen Sinn des Gesetzes zu ermitteln und diesem den Vorrang vor dem Wortlaut einzuräumen, wenn eine wortgetreue Auslegung zu einem der wirtschaftlichen Vernunft widersprechenden, sinnwidrigen Ergebnis führen würde (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs IV 39/51 U vom 13. März 1952 - Slg. Bd. 56 S. 305, BStBl 1952 III S. 120 -, IV 10/52 U vom 30. April 1952 - Slg. Bd. 56 S. 420, BStBl 1952 III S. 164 -, IV 376/51 S vom 16. Oktober 1952 - Slg. Bd. 56 S. 773, BStBl 1952 III S. 298 - und IV 206/52 U vom 16. April 1953 - Slg. Bd. 57 S. 427, BStBl 1953 III S. 166 -). Die Lösung vom Wortlaut des Gesetzestextes kann sich - wie in den erwähnten Entscheidungen des Senats IV 39/51 U und IV 10/52 U - auf Grund der Entwicklung der Verhältnisse als notwendig erweisen. Der Gesetzeswortlaut kann aber auch von vornherein weniger ausdrücken, als dem Zweck der Vorschrift entspricht (vgl. Urteil des Reichsfinanzhofs VI A 852/28 vom 4. Juni 1930, Slg. Bd. 27 S. 67 ff.). Es kann auch - und diesen Fall erachtet der Senat hier für gegeben - weiter gehen, als dem Sinn und Zweck der Vorschrift entspricht. Unzweifelhaft soll die Bestimmung des § 32 b EStG 1951 für den Steuerpflichtigen in tariflicher Hinsicht eine Vergünstigung schaffen, der allerdings das in der dreijährigen Bindung liegende Wagnis gegenübersteht. Der Senat ist indessen der überzeugung, daß das Schwergewicht dieser Bindung und damit der Nachdruck der Unwiderruflichkeit auf den beiden dem Erstjahr folgenden Jahren liegt. Eine unabdingbare Bindung schon für das Erstjahr möchte der Senat nur für diejenigen Fälle bejahen, in denen sich schon für dieses Erstjahr eine Tarifvergünstigung ergibt oder in denen der Steuerpflichtige den Antrag trotz Fehlens einer solchen günstigen Auswirkung stellt, weil er sich tarifliche Vorteile für die Folgezeit verspricht. Es erscheint dem Senat unter den gegebenen Umständen nicht Rechtens, einen Steuerpflichtigen - zumal bei einer so komplizierten Vorschrift wie der des § 32 b EStG - grundsätzlich an seinem Antrag und damit an seiner rechtsirrigen Gesetzesauslegung festzuhalten. Der Sinn der Vorschrift würde nach Auffassung des Senats in sein Gegenteil verkehrt, wenn die Möglichkeit eines Widerrufs auch in einem Falle verneint würde, in dem sich für den Steuerpflichtigen von vornherein statt der zu erwartenden tariflichen Vergünstigung derart erhebliche tarifliche Nachteile ergeben. Der Senat bejaht daher unter den dargelegten Voraussetzungen und mit den sich daraus ergebenden Einschränkungen die Möglichkeit des Widerrufs, wie er das bereits in einem anderen von ihm zu § 32 b EStG entschiedenen Falle getan hat (vgl. das amtlich nicht veröffentlichte Urteil IV 310/54 vom 3. November 1955, abgedruckt im Mitteilungsblatt der Steuerberater 1956 Nr. 1 S. 5 und Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK - zu § 32 b Rechtsspruch 3). Die Entscheidung, ob von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht werden soll, liegt bei dem Steuerpflichtigen. Die vom Finanzgericht Düsseldorf, Kammern in Köln, in seinem Urteil V 5/54 E vom 23. Februar 1954 (Entscheidungen der Finanzgerichte 1954 S. 129) vertretene Auffassung, daß die Entscheidung in dieser Hinsicht ausschließlich im Ermessen des Finanzamts liege, vermag sich der Senat nicht zu eigen zu machen.
Der Bf. hat den Widerruf auch rechtzeitig ausgesprochen. Mit seinen gegenteiligen Ausführungen verkennt das Finanzgericht die Rechtslage, indem es insbesondere außer acht läßt, daß die Einkommensteuerveranlagung 1951 im Zeitpunkt des Widerrufs in vollem Umfange nur vorläufig im Sinne des § 100 AO erfolgt war.
Die Frage, ob die Voraussetzungen einer Tarifvorschrift vorliegen oder ob sie noch vorliegen bzw. nicht mehr vorliegen, ist im Veranlagungsverfahren zu prüfen. In diesem Verfahren ist mithin auch das Vorbringen zur Frage der Anwendbarkeit des § 32 b EStG zu prüfen. Solange das Finanzamt noch nicht entschieden hat, hat es nach § 85 AO auch das zu prüfen bzw. zu berücksichtigen, was vom Steuerpflichtigen nach Ablauf der Steuererklärungsfrist in Ergänzung seines bisherigen Vorbringens geltend gemacht wird. "Entschieden" im Sinne der genannten Bestimmung hat das Finanzamt aber erst dann, wenn es seine Entscheidung endgültig getroffen hat. Die Bedeutung einer - in vollem Umfange - vorläufigen Veranlagung liegt darin, daß der Veranlagungsfall für alle Beteiligten in dem Sinne offen bleibt, daß bis zum Erlaß des endgültigen Bescheids auch das vom Steuerpflichtigen nach Erlaß des vorläufigen Bescheids Vorgebrachte zu seinen Gunsten zu berücksichtigen ist. Die vorläufige Veranlagung entscheidet den Steuerfall materiell nicht endgültig. Sie begründet lediglich vorläufig die Steuerzahlungsschuld in der durch sie festgesetzten Höhe. Ihre Unanfechtbarkeit schließt lediglich Einwendungen des Steuerpflichtigen gegen die Voraussetzungen der "Vorläufigkeit" im Sinne des § 100 AO aus (vgl. Urteile des Reichsfinanzhofs VI A 831/34 vom 4. September 1935 - RStBl 1935 S. 1299 - und I 322/40 vom 25. Februar 1941 - RStBl 1941 S. 308 -).
Nach der Sachlage hat das Finanzamt die Einkommensteuerveranlagung 1951 in vollem Umfange vorläufig vorgenommen. Es hat insbesondere die Vorläufigkeit - was rechtlich möglich gewesen wäre - nicht auf die Frage der Sonderabschreibung nach § 7 a EStG beschränkt. Wenn das beabsichtigt gewesen wäre, hätte der Hinweis im Einkommensteuerbescheid deutlicher etwa dahin gefaßt werden müssen: "Der Bescheid ergeht vorläufig, soweit die - noch nachzuprüfenden - Sonderabschreibungen nach § 7 a EStG in Betracht kommen; im übrigen ist der Bescheid endgültig." Nach Auffassung des Senats kann, falls eine nur teilweise Vorläufigkeit beabsichtigt ist, den Erfordernissen des Rechtsschutzes und der Rechtssicherheit nur durch eine besonders deutliche Fassung genügt werden. Unter den gegebenen Umständen kann der Hinweis des Finanzamts auf die noch nachzuprüfenden Sonderabschreibungen nur die Bedeutung einer Begründung für die Vorläufigkeit der Steuerfestsetzung haben (vgl. das genannte Urteil des Reichsfinanzhofs I 322/40 und Riewald, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, Teil I S. 475). Das Finanzamt hat offenbar auch selbst, wie die Formulierung seiner Endgültigkeitserklärung erkennen läßt, nichts anderes beabsichtigt.
Hiernach ist der Widerruf des Bf. rechtlich zulässig und auch rechtswirksam, d. h. rechtzeitig erfolgt. Das Finanzamt war bei rechtlich zutreffender Sachbehandlung verpflichtet, die vorläufige Einkommensteuerfestsetzung 1951 im Sinne des vom Bf. gestellten Antrags gemäß § 225 AO zu berichtigen. Die endgültige Veranlagung 1951 ist ebenso wie die Einkommensteuerveranlagung des Jahres 1952 fehlerhaft.
Die Rb. ist demnach sachlich begründet. Der Senat ist jedoch nicht in der Lage, abschließend zu entscheiden. Der Bf. ist für das Streitjahr nach § 26 EStG a. F. zusammen mit seiner Ehefrau zur Einkommensteuer veranlagt worden. Durch das Gesetz vom 26. Juli 1957 (BStBl 1957 I S. 352) sind die Vorschriften über die Ehegattenbesteuerung geändert worden. Es ist demnach geboten, die Vorentscheidungen aufzuheben und die Sache an das Finanzamt zurückzuverweisen, damit dieses unter Beachtung der Ausführungen dies Urteils verfährt und ferner prüft, inwieweit die Vorschriften des Gesetzes vom 26. Juli 1957 auf den vorliegenden Fall Anwendung zu finden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 408952 |
BStBl III 1958, 154 |
BFHE 1958, 401 |
BFHE 66, 401 |