Leitsatz (amtlich)
Eine dem Steuerpflichtigen bekanntgegebene Verfügung über die Nichtveranlagung zur Einkommensteuer stellt auch dann keinen Freistellungsbescheid dar, wenn sie nach sachlicher Prüfung der Einkommensteuererklärung ergangen ist, äußerlich einem Steuerbescheid gleicht und im Abrechnungsteil eine Steuerschuld von null DM ausweist.
Normenkette
AO § 93 Abs. 1; EStG § 46 Abs. 2 Nr. 4
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) machte im Antrag auf Lohnsteuerermäßigung 1974 Verluste aus Vermietung und Verpachtung geltend, die ihm seiner Ansicht nach gemäß § 7 b des Einkommensteuergesetzes (EStG) für sein 1964 errichtetes Einfamilienhaus zustanden. Die Lohnsteuerstelle des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt - FA -) berücksichtigte diese Verluste in einem Freibetrag, den sie in der Lohnsteuerkarte des Klägers eintrug. In seiner Einkommensteuererklärung für 1974 erklärte der Kläger weniger als 48 000 DM Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und Verluste aus Vermietung und Verpachtung für das eigengenutzte Einfamilienhaus. Im Erklärungsvordruck kreuzte er hinter der Frage "Ist auf der Lohnsteuerkarte ein Verlust aus Vermietung und Verpachtung eingetragen?" die Antwort "Ja" an.
Bei der Bearbeitung der Steuererklärung erkannte der Veranlagungsbeamte, daß der Anspruch des Klägers auf erhöhte Absetzung für Abnutzung (AfA) gemäß § 7 b EStG nur bis 1973 bestanden hatte. Dementsprechend machte er bei den Kennziffern 636-648, die im Eingabewertbogen für Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung vorgesehen waren, keine Eintragung. Auf einem Vordruck, der als Anlage zum Steuerbescheid gedacht war, gab er dazu u. a. folgende Erläuterungen: "Die AfA gem. § 7 b EStG ist mit dem Veranlagungszeitraum 1973 ausgelaufen."
Bei Steuerpflichtigen, die sich in der Lohnsteuerkarte einen Freibetrag wegen eines Verlustes aus Vermietung und Verpachtung eintragen lassen, muß bei der Einkommensteuerveranlagung in den Eingabewertbogen bei Kennziffer 125 eine "1" eingesetzt werden, wodurch sichergestellt wird, daß die elektronische Rechenanlage eine Veranlagung zur Einkommensteuer gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 4 EStG durchführt. In dem Eingabewertbogen für die Veranlagung des Klägers fehlt diese "1". Da der Kläger und seine Ehefrau die Zusammenveranlagung gewählt und weniger als 48 000 DM Einkommen zu versteuern hatten, druckte das Rechenzentrum eine "Verfügung für 1974 über die Nichtveranlagung zur Einkommensteuer, Kirchensteuer, Ergänzungsabgabe und Stabilitätszuschlag" aus. Diese Verfügung lautet:
"A. Für das Kalenderjahr 1974 wird eine Veranlagung zur Einkommensteuer, Kirchensteuer, Ergänzungsabgabe und zum Stabilitätszuschlag nicht durchgeführt, weil das Einkommen ganz oder teilweise aus Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit besteht, die Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 und Abs. 2 Ziff. 1 bis 6 EStG für eine Veranlagung von Amts wegen nicht gegeben sind und ein Antrag auf Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Ziff. 8 EStG, § 46 a Satz 2 EStG, § 14 Abs. 3 3. VermBG oder § 18 BerlinFG nicht gestellt wurde bzw. die Voraussetzungen für eine Veranlagung nach den bezeichneten Vorschriften nicht vorliegen.
B. Abrechnung
(Stichtag: Einkommensteuer Kirchensteuer Ergänzungsabgabe
15.9. 1975)
Steuerschuld 0,00 0,00
an die Finanzkasse
entrichtet 0,00 0,00
Unterschiedsbetrag 0,00 0,00
Abschlußzahlung 0,00 0,00
C. Vorauszahlungen
Vorauszahlungen sind in der bisher festgesetzten Höhe zu entrichten."
Die Veranlagungsstelle sandte die Verfügung über die Nichtveranlagung zur Einkommensteuer am 24. September 1975 an den Kläger ab und gab die Steuerakten zur Lohnsteuerstelle. Die Lohnsteuerstelle bemerkte, daß diese Verfügung fälschlicherweise ergangen war. Daraufhin hob das FA die Verfügung durch den berichtigenden Einkommensteuerbescheid vom 9. Januar 1976 gemäß § 93 der Reichsabgabenordnung (AO) ersatzlos auf und führte gleichzeitig auf der Grundlage der Einkommensteuererklärung 1974 gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 4 EStG eine Veranlagung durch. Dabei ergab sich eine verbleibende Einkommensteuerschuld von 1 306 DM.
Nach erfolglosem Einspruch gab das Finanzgericht (FG) mit seiner in Entscheidungen der Finanzgerichte 1977 S. 615 (EFG 1977, 615) veröffentlichten Entscheidung der Klage mit im wesentlichen folgender Begründung statt: Das FA sei nicht berechtigt gewesen, die Verfügung vom 24. September 1975 (Verfügung) aufzuheben und durch den angefochtenen Steuerbescheid zu ersetzen, weil weder die Voraussetzungen des § 93 AO noch die des § 92 Abs. 2 AO vorgelegen hätten. Eine Rücknahme gemäß § 93 Abs. 1 AO komme nicht in Betracht, weil es sich bei der Verfügung um einen Steuerbescheid in der Sonderform des Freistellungsbescheids (§ 210 Abs. 3 AO) handele. Die Verfügung, die auch äußerlich den eigentlichen Steuerbescheiden gleiche, sei wie diese aufgrund förmlichen Steuerermittlungsverfahrens nach § 204 Abs. 1 AO ergangen, in dessen Verlauf der Veranlagungsbeamte die Steuererklärung des Klägers geprüft (§ 205 AO) habe. Sie enthalte die verbindliche Aussage, daß keine Veranlagung zur Einkommensteuer durchzuführen sei und folglich (über die bereits abgezogene Lohnsteuer hinaus) keine Elnkommensteuer erhoben werde. Die Verfügung sei dem Kläger auch wie ein Steuerbescheid im verschlossenen Umschlag durch die Post zugesandt worden (§ 211 Abs. 3 AO). Sie unterscheide sich daher in ihrer Rechtsqualität von den allgemein als "NV"-Verfügungen bekannten verwaltungsinternen Vorgängen, die keine Steuerbescheide darstellten.
Die als Steuerbescheid zu wertende Verfügung könne auch nicht nach § 92 Abs. 2 AO berichtigt werden. Der fehlende Eintrag einer "1" bei der Kennziffer 125 des Eingabewertbogens sei keine Folge eines mechanischen Versehens des Veranlagungsbeamten; vielmehr würden die Umstände im Streitfall für eine fehlerhafte rechtliche Würdigung sprechen. Zudem sei der Fehler nicht offenbar gewesen, weil der Kläger ihn nicht haben erkennen können.
Mit seiner Revision rügt das FA die fehlerhafte Anwendung der §§ 92 Abs. 2, 93 und 210 Abs. 3 AO.
Zur Begründung führt es im wesentlichen aus: Da die Verfügung vom 24. September 1975 keine Steuerfestsetzung beinhalte, sei sie kein Freistellungsbescheid, sondern eine "NV"-Verfügung, die gemäß § 93 Abs. 1 AO jederzeit aufgehoben oder geändert werden könne. Selbst bei Annahme eines Freistellungsbescheids aber hätte die Verfügung gemäß § 92 Abs. 2 AO wegen offenbarer Unrichtigkeit berichtigt werden können. Die Ziffer "1" sei an der entsprechenden Stelle des Eingabewertbogens nur versehentlich nicht eingetragen worden. Eine rechtliche Erwägung des Veranlagungsbeamten scheide schon deshalb aus, weil er diese bereits vorher getroffen hätte. Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage.
1. Die finanzamtliche Verfügung vom 24. September 1975 ist kein Freistellungsbescheid, sondern eine sogenannte "NV"-Verfügung. Da das FA nach § 93 Abs. 1 AO berechtigt war, die Verfügung jederzeit aufzuheben, konnte es für das Streitjahr eine Einkommensteuerveranlagung noch durchführen.
a) Freistellungsbescheide sind begrifflich Steuerbescheide, die nach dem Willen des FA den Steuerpflichtigen davon unterrichten, daß eine Steuer von ihm aufgrund des geprüften Sachverhaltes dem Grunde nach überhaupt nicht oder für einen bestimmten Veranlagungs- oder Erhebungszeitraum nicht gefordert werde (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 26. März 1969 I R 38/67, BFHE 95, 482, BStBl II 1969, 473). Hingegen spricht man von einer "NV"-Verfügung, wenn das FA dem Steuerpflichtigen lediglich schriftlich mitteilt, daß eine Veranlagung nicht durchgeführt werde. Ob eine vom FA schriftlich abgesetzte Verfügung, die auch dem Steuerpflichtigen zugegangen ist, einen Freistellungsbescheid oder eine "NV"-Verfügung darstellt, ist nicht nach der äußeren Form, sondern nach dem materiellen Inhalt der Verfügung im Einzelfall zu entscheiden (vgl. BFH-Urteile vom 27. Oktober 1959 I 131/58 U, BFHE 73, 49, BStBl III 1961, 286, und I R 38/67).
b) Bei Anwendung dieser Grundsätze stellt sich die Verfügung vom 24. September 1975 als "NV"-Verfügung dar. Sie ist überschrieben mit "Verfügung für 1974 über die Nichtveranlagung zur Einkommensteuer, Kirchensteuer, Ergänzungsabgabe und Stabilitätszuschlag" und enthält in Teil A die Mitteilung, daß eine Veranlagung für das Kalenderjahr 1974 nicht durchgeführt werde, weil das Einkommen ganz oder teilweise aus Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit bestehe und die Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 und 2 EStG für eine Veranlagung nicht gegeben seien. Materiell beinhaltet die Verfügung danach lediglich die Aussage, daß eine Veranlagung nicht durchgeführt werde, nicht dagegen die bindende Feststellung, daß der Kläger aufgrund einer Prüfung seiner steuerlichen Verhältnisse keine Steuer schulde.
Einen anderen Inhalt als den einer "NV"-Verfügung konnte auch der Kläger dem Bescheid nicht beimessen. Denn wird vom FA die Durchführung einer Veranlagung ausdrücklich abgelehnt, so kann dies nicht so angesehen werden, als sei sie mit den ihr eigenen bindenden Wirkungen vorgenommen worden (vgl. BFH-Urteil vom 4. Juni 1964 IV 234/61, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1964 S. 431).
Die den Steuerbescheiden ähnliche äußere Form der Verfügung beeinflußt deren Rechtscharakter nicht (vgl. BFH-Urteile I 131/58 U; I R 38/67 und vom 13. Dezember 1963 VI 105/63 U, BFHE 78, 434, BStBl III 1964, 167). Noch weniger kann von der Zustellungsart auf die Rechtsnatur einer Verfügung geschlossen werden.
c) Die Verfügung kann auch nicht deshalb als Freistellungsbescheid angesehen werden, weil sie im Teil B unter "Abrechnung" u. a. die Mitteilung enthält, daß zum Stichtag 15. September 1975 die Einkommensteuer- und Kirchensteuerschuld null DM betrage, null DM an Vorauszahlungen an die Finanzkasse entrichtet worden seien und die Abschlußzahlung demnach null DM betrage. Diese Abrechnung geleisteter Vorauszahlungen stellt einen selbständigen Verwaltungsakt dar, der nur aus Zweckmäßigkeitsgründen mit der "NV"-Verfügung verbunden ist (vgl. BFH-Urteil vom 11. November 1966 VI R 68/66, BFHE 87, 514, BStBl III 1967, 214; Förg, Rechtsnatur und Anfechtbarkeit einkommensteuerlicher "NV"-Verfügungen, Steuerwarte 1974 S. 148 f.). Die Mitteilung, daß die Steuer null DM betrage, ist zudem im vorliegenden Fall gerade weden der äußerlichen Verbindung der Abrechnungsverfügung mit der "NV"-Verfügung als Folge der Nichtveranlagung - nicht dagegen als Ergebnis einer durchgeführten steuerlichen Prüfung - erkennbar.
d) Die Tatsache, daß der Veranlagungsbeamte vor dem Ausfüllen des Eingabewertbogens eine sachliche Prüfung der Einkommensteuererklärung vorgenommen hat, steht - entgegen der Auffassung des FG - der Annahme einer "NV"-Verfügung nicht entgegen. Wenn das FA einem Steuerpflichtigen mitteilt, daß wegen des Fehlens bestimmter gesetzlicher Voraussetzungen eine Veranlagung nicht durchgeführt werde, so wird der Inhalt der Mitteilung nicht davon beeinflußt, ob ihr eine rechtliche Prüfung der steuerlichen Verhältnisse vorausgegangen ist oder nicht. Daß eine vorausgegangene sachliche Prüfung den Erlaß einer "NV"-Verfügung nicht ausschließen kann, ergibt sich allein aus der Überlegung, daß wegen der Abhängigkeit der Durchführung einer Veranlagung von der Höhe des Einkommens oft erst nach sachlicher Prüfung entschieden werden kann, ob das Einkommen die in § 46 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 EStG genannten Beträge erreicht oder nicht.
2. Der Senat kann gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) selbst entscheiden, da die Sache spruchreif ist.
Nach der für das Jahr 1964 maßgebenden Fassung des § 7 b EStG konnten erhöhte Absetzungen vom Jahr der Fertigstellung des Gebäudes (1964) für insgesamt zehn Jahre in Anspruch genommen werden. Das FA hat somit zu Recht die Gewährung der erhöhten Absetzungen nach § 7 b EStG für das Streitjahr abgelehnt.
Fundstellen
Haufe-Index 73420 |
BStBl II 1980, 193 |
BFHE 1980, 240 |