Leitsatz (amtlich)
Wird im Prozeß vor den Finanzgerichten ein Beteiligter durch einen Rechtsanwalt vertreten, so hat auch hier das Gericht von Amts wegen zu prüfen, ob eine Prozeßvollmacht vorliegt. § 88 Abs. 2 ZPO ist im finanzgerichtlichen Verfahren nicht entsprechend anzuwenden. Auch bei Vertretung durch einen Rechtsanwalt kann daher nach Art. 3 § 1 VGFG-EntlG für das Einreichen der Vollmacht eine Frist mit ausschließender Wirkung gesetzt werden.
Normenkette
FGO § 155; ZPO § 88 Abs. 2; VGFG-EntlG Art. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erhob am 3. Februar 1978 beim Finanzgericht (FG) Klage mit dem Antrag, einen gegen ihn vom Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) erlassenen Lohnsteuerhaftungsbescheid ersatzlos aufzuheben. Die Klage wurde von dem den Kläger auch im vorliegenden Revisionsverfahren vertretenden Prozeßbevollmächtigten, einem Rechtsanwalt", Namens und im Auftrag" des Klägers eingereicht. Nachdem trotz mehrfacher Aufforderung und Fristsetzung durch das Gericht eine Prozeßvollmacht nicht vorgelegt worden war, setzte der Berichterstatter beim FG am 20. Juni 1978 dem Prozeßbevollmächtigten unter Hinweis auf Art. 3 § 1 des am 1. Mai 1978 in Kraft getretenen Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFG-EntlG) vom 31. März 1978 - BGBl I 1978, 446 BStBl I 1978, 174 - (vgl. Art. 7 des Gesetzes) für die Einreichung der Vollmacht eine Frist mit ausschließender Wirkung bis zum 15. Juli 1978. Der Prozeßbevollmächtigte legte eine - am 21. Juni 1978 datierte - Prozeßvollmacht erst in der mündlichen Verhandlung am 31. August 1978 vor.
Das FG wies die Klage im Anschluß an die mündliche Verhandlung zu der neben dem FA nur der Bevollmächtigte geladen worden war und auch erschienen ist, auf Kosten des Klägers als unzulässig ab. Es führte aus, die durch die Versäumung der nach Art. 3 § 1 VGFG EntlG gesetzten Frist eingetretene Unzulässigkeit der Klage könne im Gegensatz zur Rechtslage vor Inkrafttreten des VGFG-EntlG (Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 1. April 1971 IV R 208/69, BFHE 102, 442 BStBl II 1971, 689) nicht durch nachträgliche Vorlage einer Vollmacht geheilt werden. Hier komme nur nach Art. 3 § 1 VGFG EntlG i. V. m. § 56 der Finanzgerichtsordnung (FGO) eine
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht, die jedoch im Streitfall nicht zu gewähren sei, weil der Prozeßbevollmächtigte die Frist nicht ohne Verschulden versäumt habe.
Mit der Revision wird geltend gemacht, das FG habe zu Unrecht angenommen, daß nach Art. 3 § 1 VGFG-EntlG eine Heilung nur dann eintreten könne, wenn die Vollmacht innerhalb der gesetzten Frist eingereicht werde.
Der Kläger beantragt Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG.
Das FA beantragt Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
1. Laßt sich ein Beteiligter im Prozeß vor dem FG durch einen Bevollmächtigten vertreten (§ 62 FGO), so hat er eine schriftliche Vollmacht zu erteilen (§ 62 Abs. 3 Satz 1 FGO). Das Vorliegen dieser Prozeßvollmacht ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 9. Aufl., § 62 FGO Anm. 9). Das gilt, anders als im Verfahren nach der Zivilprozeßordnung (ZPO) auch für die Fälle, in denen, wie im Streitfall, als Prozeßbevollmächtigter ein Rechtsanwalt aufgetreten ist. § 88 Abs. 2 ZPO, der bis zu seiner Neufassung durch Art. 1 Nr. 5 der Vereinfachungsnovelle vom 3. Dezember 1976 (BGBl I 1976, 3281) die Berücksichtigung des Mangels der Vollmacht von Amts wegen auf den Parteiprozeß (§ 79 ZPO) beschränkte und der nach seiner Neufassung (ab 1. Juli 1977; vgl. Art. 12 Abs. 1 der Vereinfachungsnovelle) die Berücksichtigung von Amts wegen überhaupt nicht vorsieht, wenn ein Rechtsanwalt als Bevollmächtigter auftritt, ist nicht nach § 155 FGO entsprechend anzuwenden. Das folgt aus der gegenüber § 80 ZPO anders lautenden Regelung in § 62 Abs. 3 FGO (vgl. Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 62 Anm. 16; Ziemer/Haarmann/Lohse, Rechtsschutz in Steuersachen, 3. Aufl., Tz. 12, 100). Die Rechtslage im finanzgerichtlichen Verfahren ist insoweit eine andere als im Zivilprozeß. So wird z. B. im Verfahren vor den FG aufgrund des von § 80 ZPO abweichenden Wortlautes des § 62 Abs. 3 FGO der Vollmachtsvorlage - entgegen der Auffassung des Klägers - nicht nur Beweisfunktion, sondern konstitutive Wirkung beigemessen (vgl. Gräber, a. a. O., § 62 Anm. 15; für das verwaltungsgerichtliche Verfahren Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 67 Rdnr. 13). Im übrigen zeigen aber insbesondere folgende Gesichtspunkte deutliche Unterschiede auf:
a) Zivilprozesse werden von den Anwälten in der Regel nicht aufgrund von Dauermandaten geführt. Der Anwalt erhält die Vollmacht normalerweise speziell zur Durchführung eines bestimmten Prozesses. Tritt er in einer Sache auf, dann kann deshalb davon ausgegangen werden, daß er sich - schon aus Gründen des Nachweises seines Honoraranspruches - eine Vollmacht hat unterschreiben lassen. In Steuersachen dagegen sind die Bevollmächtigten vielfach schon im vorprozessualen Stadium mit der Sache befaßt. Das besagt aber noch nichts darüber, ob sie auch für den Steuerpflichtigen Prozesse führen dürfen. Der Praktiker kennt die nicht seltenen Fälle, in denen z. B. überlastete Bevollmächtigte von sich aus Prozesse wegen versäumter Fristen führen.
b) Ein weiterer, besonders einschneidender Unterschied zwischen dem finanzgerichtlichen Verfahren und dem Zivilprozeß (und auch dem verwaltungsgerichtlichen Prozeß) folgt aus dem Institut des Steuergeheimnisses. Aus ihm ergibt sich im Steuerprozeß eine bei anderen Prozessen in vergleichbarer Weise nicht vorhandene Notwendigkeit, die Legitimation eines jeden zu prüfen, der in einem solchen Prozeß auftritt und damit die Möglichkeit erhält, in die durch das Steuergeheimnis geschützten Bereiche einzudringen.
Zwar wird zum Teil von den Verwaltungsgerichten zu der vergleichbaren Vorschrift des § 67 Abs. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) über § 173 VwGO § 88 ZPO entsprechend angewendet (vgl. die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG vom 20. September 1974 III CB 54.71, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 310, § 67 VwGO Nr. 39, im Gegensatz zu dem allerdings noch zu § 24 Abs. 1 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht - BVerwGG - ergangenen Beschluß des BVerwG vom 24. November 1959 III B 33.59, C 36.59, Neue Juristische Wochenschrift 1960 S. 593 - NJW 1960, 593 -). So folgert das Oberverwaltungsgericht (OVG) in X aus der Neufassung des § 88 Abs. 2 ZPO auch für das verwaltungsgerichtliche Verfahren, daß der Mangel der Vollmacht eines Rechtsanwalts nur noch auf Rüge des Gegners zu prüfen sei (Beschluß vom 23. März 1978 2 B 153/78, NJW 1978, 1455 = Die öffentliche Verwaltung 1978 S. 815 - DÖV 1978, 815 -; vgl. hierzu Zehendner, Betriebs-Berater 1979 S. 161 [162 a. E.] - BB 1979 S. 161 [162a. E.] -). Dem ist jedoch nicht zu folgen. Die Bestimmung in § 62 Abs. 3 FGO geht wie die in § 67 Abs. 3 VwGO gerade auf § 24 Abs. 1 BVerwGG zurück, in dem das BVerwG in der genannten Entscheidung vom 24. November 1959 zutreffend eine vom Zivilprozeß abweichende Regelung sah (vgl. auch Urteil des FG Baden-Württemberg vom 7. Februar 1979 V 295/78, Entscheidungen der Finanzgerichte 1979 S. 349 - EFG 1979, 349 -). Die Entlastungsmaßnahme des Art. 3 § 1 VGFG-EntlG (vgl. hierzu unter 2.) ist gerade unter dem Gesichtspunkt verständlich, daß von Amts wegen die Vollmacht zu prüfen und ihre Vorlage zu fordern ist. Davon, daß der Gesetzgeber hier, insbesondere auch für die dem Vertretungszwang unterliegenden Verfahren vor dem BFH (Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs - BFH-EntlastG), die Rechtsanwälte anders als die übrigen für das steuergerichtliche Verfahren in Betracht kommenden Prozeßbevollmächtigten (z. B. die in Art. 1 Nr. 1 BFH EntlastG gerade neben den Rechtsanwälten genannten Steuerberater und Wirtschaftsprüfer) hätte behandeln wollen oder aber § 88 Abs. 2 ZPO auf alle diese Berufsgruppen entsprechend hätte anwenden wollen, kann nicht ausgegangen werden (vgl. Zehendner, a. a. O. ). Auch der Entwurf einer Verwaltungsprozeßordnung (Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, 1978) sieht nach der Begründung zu § 72 bewußt davon ab, von einer entsprechenden Anwendbarkeit des § 88 Abs. 2 ZPO auszugehen. An der bisher stets vom BFH vertretenen Auffassung, daß die Vollmacht unabhängig von der Berufsqualifikation des Prozeßbevollmächtigten in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen ist, ist daher festzuhalten. Dies auszusprechen ist der Senat nicht etwa im Hinblick auf die genannte Entscheidung des BVerwG III CB 54.71 gehindert. Einer Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes nach § 2 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (RsprEinhG) bedarf es nicht, weil das BVerwG selbst in der genanten Entscheidung eine Ausnahme von dem von ihm angenommenen Grundsatz der entsprechenden Anwendung des § 88 ZPO gemacht und den Mangel der Vollmacht auch bei einem Rechtsanwalt im Anwaltsprozeß (entgegen § 88 Abs. 2 ZPO a. F.) von Amts wegen beachtet hat. Ebenso war eine etwaige abweichende Auffassung des BVerwG im Beschluß vom 6. Mai 1966 IV B 115.65 (NJW 1966, 1378) nicht entscheidungserheblich. Im übrigen ist die Rechtslage aufgrund der nur für die Finanzgerichtsbarkeit in Art. 3 § 1 VGFG-EntlG für die Vollmachtsvorlage getroffenen Regelung nicht mehr mit der im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vergleichbar.
2. Der von einem Bevollmächtigten erhobene gerichtliche Rechtsbehelf ist unzulässig, wenn die schriftliche Vollmacht nicht vorgelegt wird. Nach Art. 3 § 1 VGFG-EntlG kann der Vorsitzende oder der von ihm nach § 79 FGO bestimmte Richter (in der Regel der Berichterstatter) für das Einreichen der Vollmacht eine Frist mit ausschließender Wirkung setzen, gegen deren Versäumung (nur) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand möglich ist. Die "ausschließende Wirkung" bedeutet, daß nach Ablauf der Frist die Einreichung einer Vollmacht den prozessualen Mangel nicht mehr heilen kann (Urteil des Senats vom 11. Januar 1980 VI R 11/79, BFHE 129, 305, BStBl II 1980, 229). Der Mangel der Prozeßvoraussetzung kann im Gegensatz zu der Rechtslage, wie sie nach der genannten Rechtsprechung zu § 62 Abs. 3 Satz 2 FGO bestanden hat, nicht mehr nachträglich beseitigt werden, wobei es in diesem Zusammenhang keine Rolle spielt, ob man der Vollmachtsvorlage Wirksamkeits- oder Nachweisfunktion beimißt. Nach Art. 3 § 1 Satz 2 VGFG-EntlG ist jetzt nur wie bei gesetzlichen (Ausschluß-) Fristen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 FGO) möglich. Daß hier § 56 FGO lediglich für "sinngemäß" anwendbar erklärt wird, bedeutet nicht, wie der Kläger meint, daß deshalb die Verschuldensfrage großzügiger zu handhaben sei. Sinngemäß ist § 56 FGO deshalb anzuwenden, weil es sich hier nicht - wie in § 56 FGO - um die Versäumung einer gesetzlichen, sondern um die einer richterlichen Frist handelt (vgl. auch Ziemer-Birkholz, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., Anhang A Nr. 5 Art. 3 § 1 VGFG-EntlG Tz. 5).
Die nachträgliche Einreichung der Vollmacht hätte somit nur dann eine Prozeßabweisung durch das FG verhindern können, wenn die Voraussetzungen des § 56 FGO vorgelegen hätten. Das FG hat jedoch zu Recht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt.
Auch die Kostenentscheidung mit der das FG die Kosten dem Kläger auferlegt hat, ist zutreffend. Der Senat verweist auch insoweit auf sein Urteil in BFHE 129, 305, BStBl II 1980, 229, von dem abzugehen er trotz kontroverser Auffassungen in Rechtsprechung und Literatur keine Veranlassung sieht (vgl. hierzu Beschluß des Schleswig-Holsteinischen FG vom 16. September 1980 III 130/80, EFG 1980, 609, einerseits; Berwanger, Deutsches Steuerrecht 1980 S. 314, andererseits).
Fundstellen
Haufe-Index 413651 |
BStBl II 1981, 678 |
BFHE 1981, 344 |