Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Eine Gewährung von Nachsicht nach den §§ 86, 87 AO kommt nicht in Betracht, wenn das Rechtsmittel bereits einmal eingelegt und dann rechtswirksam zurückgenommen worden ist (ß 253 AO).
Gegenüber Steuerbescheiden ist ein dem Wiederaufnahmeverfahren der ZPO ähnliches Verfahren nicht gegeben.
Normenkette
AO §§ 86-87, 222, 243 Abs. 3, § 248/1; FGO § 96 Abs. 1; AO §§ 253, 243
Tatbestand
Gegen den Bf. waren seit 1927 Ermittlungen durchgeführt worden, um festzustellen, ob er verschwiegenes Vermögen im Ausland besitze. Auf Grund des Ergebnisses dieser Ermittlungen wurde der Bf. durch das Sondergericht für den Oberlandesgerichtsbezirk ... im Jahre 1941 wegen Volksverrats und Devisenverbrechens verurteilt. Auf Grund der Annahme, daß der Bf. seit 1925 verschwiegenes Vermögen im Ausland besitze, wurde er unter Bezugnahme auf das Sondergerichtsurteil mit diesem Vermögen zur Vermögensteuer und mit den geschätzten Erträgnissen dieses Vermögens zur Einkommensteuer herangezogen, und zwar hinsichtlich der Einkommensteuer durch einen am 20. Oktober 1944 erlassenen Pauschalierungsbescheid, der für die Jahre 1925 bis 1939 Einkommensteuer in Höhe von 33.000 RM nachforderte. In den Einkommensteuerbescheiden für die Jahre 1940 bis einschließlich 1943, ebenfalls vom 20. Oktober 1944, wurden die Einkünfte aus dem Auslandsvermögen jeweils mit 8.000 RM geschätzt. Sämtliche Bescheide vom 20. Oktober 1944 blieben innerhalb der Rechtsmittelfrist unangefochten. Erst am 16. April 1946 legte der Bf. gegen die genannten Steuerbescheide Einspruch ein mit der Behauptung, daß die Bescheide ihm niemals zugegangen seien. Die Einsprüche wurden jedoch am 15. Mai 1946 zurückgenommen, nachdem dem Bf. vom Finanzamt nachgewiesen worden war, daß er die Steuerbescheide erhalten hatte.
Auf dem Wege der Wiederaufnahme des Verfahrens erreichte der Bf., daß das Sondergerichtsurteil durch Urteil des Landgerichts .... im Jahre 1949 aufgehoben und er freigesprochen wurde. Nachdem er dies am 5. September 1949 dem Finanzamt mitgeteilt und um Vorbereitung und Sichtung des Aktenmaterials zwecks Feststellung des Umfangs und der Höhe der eingezogenen Steuern gebeten hatte, beantragte er nach weiterem Schriftwechsel am 14. Juli 1950 bezüglich der Vermögensteuer und am 4. August 1950 hinsichtlich der Einkommensteuer Berichtigung der Steuerfestsetzungen und Erstattung der zuviel entrichteten Einkommensteuer und Vermögensteuer.
Das Finanzamt, das die Anträge als Einsprüche behandelte, gewährte trotz Ablaufs der Jahresfrist des § 87 Abs. 5 AO unter Hinweis auf das Urteil des Reichsfinanzhofs VI A 104/36 vom 28. Oktober 1936 (RStBl 1936 S. 1124) Nachsicht. Weil die angefochtenen Steuerbescheide ausdrücklich auf die Feststellungen im Sondergerichtsurteil Bezug genommen hätten, sei, solange das Sondergerichtsurteil bestanden habe, eine Art Zwangslage gegeben gewesen. Wenn auch das das Sondergerichtsurteil aufhebende Urteil in der Verheimlichung des Auslandsvermögens ebenfalls eine Steuerhinterziehung erblickt habe, sei doch durch die Aufhebung des Sondergerichtsurteils die Sach- und Rechtslage so grundlegend verändert, daß die Gleichmäßigkeit der Besteuerung eine sachliche Nachprüfung der streitigen Steuerbescheide als geboten erscheinen lasse. In der Sache selbst sei zwar davon auszugehen, daß der Bf. in den streitigen Jahren Vermögen im Ausland gehabt habe. Im Hinblick darauf, daß das Vermögen als deutsches Fluchtkapital im Ausland eine geringere Rendite abgeworfen haben könne, sei aber eine vorsichtigere Schätzung der Erträgnisse angebracht. Die durch den Pauschalierungsbescheid vom 20. Oktober 1944 festgesetzte Einkommensteuer von 33.000 RM sei dementsprechend auf 11.000 RM zu ermäßigen, und für die Jahre 1940 bis 1943 sei von einer Hinzurechnung geschätzter Kapitaleinkünfte aus dem Auslandsvermögen abzusehen.
Auf die Berufung hob das Finanzgericht die Einspruchsentscheidung auf und verwarf die Einsprüche als unzulässig. Da, so führt das Finanzgericht aus, das Urteil des Sondergerichts nicht Voraussetzung für die Besteuerung gewesen sei, sie der Bf. durch dieses Urteil nicht gehindert gewesen, Rechtsmittel einzulegen. Eine Nachsichtgewährung komme nur in Betracht, wenn die nach Rechtskraft eingetretenen Umstände erst die Einlegung des Rechtsmittels ermöglicht hätten. Durch den Wegfall des Sondergerichtsurteils sei aber kein die Rechtsmitteleinlegung hindernder Grund weggefallen, sondern nur ein Umstand eingetreten, der zu einer anderen Beurteilung führen könne. Nachsicht könne daher nicht gewährt werden. Auch eine Berichtigung der Steuerbescheide nach § 4 Abs. 3 Ziff. 2 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG) oder nach § 222 AO komme nicht in Betracht.
Mit der Rb. wird geltend gemacht, daß nicht eine Berichtigung der streitigen Steuerbescheide nach § 4 Abs. 3 Ziff. 2 StAnpG oder nach § 222 AO in Frage stehe, sondern daß dem Bf. unter Nachsichtgewährung die Verfolgung seiner Rechte im ordentlichen Rechtsmittelverfahren zugestanden werden müsse. Wenn auch die Grundsätze des Urteils des Reichsfinanzhofs VI A 104/36 vom 28. Oktober 1936 (a. a. O.) unter Umständen nicht mehr angewendet werden könnten, so zwinge doch der verfassungsrechtlich garantierte Gleichheitssatz dazu, dem Bf. unter Außerachtlassung der Frist des § 87 Abs. 5 AO Nachsicht zu gewähren. Es sei zwar richtig, daß nicht das Sondergerichtsurteil an sich, sondern der festgestellte Sachverhalt Besteuerungsgrundlage sei. Es müsse aber jedenfalls im Hinblick darauf, daß in dem Pauschalierungsbescheid auf das Sondergerichtsurteil Bezug genommen sei, zugunsten des Bf. unterstellt werden, daß das Finanzamt nicht selbst den Sachverhalt geprüft, sondern die Feststellungen des Sondergerichtsurteils einfach übernommen habe. Der Bf. sei an der Rechtsmitteleinlegung solange gehindert gewesen, als das Sondergerichtsurteil bestanden habe. Im übrigen müsse auch aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, wie sie in anderen Verfahrensordnungen in der Form des Instituts der Wiederaufnahme des Verfahrens ihren Niederschlag gefunden hätten, eine Wiederaufrollung des Steuerfalls im Hinblick auf den Wegfall des Sondergerichtsurteils zugelassen werden. Diese allgemeinen Rechtsgrundsätze, verstärkt durch den in Art. 19 des Grundgesetzes (GG) verankerten verfassungsmäßigen Rechtsschutz, müßten dazu führen, auch auf dem Gebiet der AO jedenfalls zugunsten des Steuerpflichtigen ein Wiederaufnahmeverfahren anzuerkennen. Irgendwelche Fristen seien hierfür mangels einer gesetzlichen Regelung nicht zu beachten. Auf jeden Fall habe das Finanzgericht zu Unrecht verbösert. Die Verböserung sei zwar im § 243 Abs. 3 AO vorgesehen. Dies verstoße aber gegen verfassungsrechtliche Grundsätze.
Entscheidungsgründe
Die Rb. ist nicht begründet.
Das Finanzamt erblickte in dem Schreiben vom 5. September 1949, das dem Antrag auf Berichtigung der Einkommensteuerfestsetzungen 1925 bis 1943 vorangegangen war, die Einlegung eines Einspruchs und gewährte Nachsicht unter Außerachtlassung der Frist des § 87 Abs. 5 AO. Diese prozessuale Behandlung war nicht zulässig. Auf die umstrittene Frage, ob von der Jahresfrist des § 87 Abs. 5 AO auch in Ausnahmefällen nicht abgewichen werden kann (so der Rechtssatz im Urteil des Bundesfinanzhofs IV 305/57 U vom 4. September 1958, BStBl 1958 III S. 414, Slg. Bd. 67 S. 368), braucht hier nicht eingegangen zu werden. Im Streitfall war der Bf. nicht gehindert, Rechtsmittel einzulegen. Er war dies auch in subjektiver Hinsicht jedenfalls nicht mehr, als mit dem Ende des sogenannten Dritten Reiches auch der unter Umständen auf Grund des Sondergerichtsurteils bestehende psychologische Zwang wegfiel. Das zeigt nichts deutlicher als der Umstand, daß der Bf. am 16. April 1946 auch tatsächlich Einspruch einlegte. Dieses Rechtsmittel nahm der Bf. zurück. Durch die Rechtsmittelzurücknahme war das Rechtsmittel verbraucht; eine erneute Rechtsmitteleinlegung war ausgeschlossen (ß 253 AO). Eine Gewährung von Nachsicht kommt in diesem Fall nicht in Betracht.
Die Frage, ob die Bescheide entsprechend den Wiederaufnahmevorschriften anderer Verfahrensordnungen angegriffen werden können, ist zu verneinen. Es ist zwar zutreffend, daß fast alle Prozeßordnungen das Institut der Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Verfahren kennen. Ein Beispiel aus jüngster Zeit bietet die Verwaltungsgerichtsordnung vom 21. Januar 1960 (BGBl 1969 I S. 17, BStBl 1960 I S. 162), die in § 153 Abs. 1 auf die Vorschriften des Vierten Buches der Zivilprozeßordnung verweist. Auch der Entwurf der Finanzgerichtsordnung enthält diese Verweisung in § 114. Das zur Zeit maßgebliche geltende Recht, die AO, kennt aber das Institut des Wiederaufnahmeverfahrens nicht. An eine entsprechende Anwendung der Grundgedanken des Wiederaufnahmeverfahrens wäre vielleicht zu denken, wenn die AO die Möglichkeit einer änderung von unanfechtbaren Entscheidungen überhaupt nicht kennen würde. Dies ist aber nicht der Fall. Die AO hat insbesondere in § 222 eine Regelung getroffen, mit der die Fälle festgelegt sind, in denen - teils zugunsten, teils zuungunsten der Steuerpflichtigen - eine Berichtigung möglich ist. Unter diesen Umständen kann auch nicht davon die Rede sein, daß die AO deshalb, weil sie ein Wiederaufnahmeverfahren im Sinne etwa des Vierten Buches der Zivilprozeßordnung nicht kennt, überpositives Recht außer acht lasse. Auf die Rechtsweg-Generalklausel des Art. 19 Abs. 4 GG kann der Bf. sein Begehren ebenfalls nicht stützen. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet den Rechtsweg für all die Fälle, in denen jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt zu sein glaubt. Dem Staatsbürger soll damit die Möglichkeit garantiert werden, die Entscheidung eines Gerichts herbeizuführen. Diese Möglichkeit hat der Bf. im Streitfall gehabt. Wenn er sie nicht benutzte und den Bescheid unanfechtbar werden ließ, dann kann auch Art. 19 Abs. 4 GG ihm nicht dazu verhelfen, das verlorene Rechtsmittel wiederzugewinnen.
Daß eine änderung der streitigen Steuerfestsetzungen nach § 4 Abs. 3 Ziff. 2 StAnpG nicht in Betracht kommt, hat die Vorentscheidung zutreffend festgestellt. Die Frage, ob eine Berichtigungsveranlagung nach § 222 AO zugunsten des Bf. durchgeführt werden könnte, ist, wie der Bf. richtig erkannt hat, in diesem Verfahren nicht zu prüfen, da die Voraussetzungen hierfür - Betriebsprüfung im Falle des § 222 Abs. 1 Ziff. 2, Fehleraufdeckung durch die Aufsichtsbehörde im Falle des § 222 Abs. 1 Ziff. 4 - nicht vorliegen.
Hinsichtlich der Rüge des BF., daß das Finanzgericht in unzulässiger Weise verbösert habe, kann dahingestellt bleiben, ob von einer Verböserung im eigentlichen Sinne gesprochen werden kann, wenn die Rechtsmittelbehörde wie im Streitfall lediglich die Zulässigkeit des Rechtsmittelverfahrens verneint und also nicht sachlich entscheidet. Jedenfalls läßt das geltende Recht (ß 243 Abs. 3 AO) eine Verböserung im Rechtsmittelverfahren zu. Es ist auch nicht etwa so, daß die Verböserung dem Prinzip des Rechtsstaates widerspreche. Hier widerstreiten einander zwei rechtsstaatliche Grundsätze, nämlich der der Rechtssicherheit und der der sachlichen Richtigkeit. Welchem von beiden der Gesetzgeber den Vorzug gibt, ist Sache seines Ermessens. Der Forderung, daß der Steuerpflichtige bei einer beabsichtigten Verböserung auf diese Möglichkeit hinzuweisen sei (vgl. auch Urteil des Bundesfinanzhofs III 286/57 U vom 4. September 1959, BStBl 1959 III S. 472, Slg. Bd. 69 S. 569), ist das Finanzgericht mit seinem Schreiben an den Bf. vom 25. Januar 1957 nachgekommen.
Nach alledem konnte die Rb. keinen Erfolg haben. Die Frage, ob etwa aus Billigkeitsgründen eine Steuererstattung in Betracht komme (ß 131 AO), war von den Steuergerichten in diesem Verfahren nicht zu prüfen.
Fundstellen
Haufe-Index 409754 |
BStBl III 1960, 392 |
BFHE 1961, 381 |
BFHE 71, 381 |