Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an Fristenkontrolle für Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Leitsatz (NV)
Zur ordnungsgemäßen Organisation einer Beratungspraxis gehört es sicherzustellen, daß fristwahrende Schriftsätze tatsächlich gefertigt und abgesandt werden. Zur Endkontrolle fristwahrender Maßnahmen gehört die Anordnung, Fristen erst dann zu löschen, wenn das fristwahrende Schriftstück gefertigt und abgesandt ist.
Normenkette
AO § 110; FGO § 56
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) wurde für das Jahr 1979 vom Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) durch den am 18. September 1980 zur Post gegebenen Einkommensteuerbescheid vom gleichen Tag zur Einkommensteuer veranlagt.
Mit dem am 28. Oktober 1980 beim FA eingegangenen Einspruchsschreiben beantragte der Bevollmächtigte der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das FA wies den Einspruch als unzulässig ab, weil er verspätet eingelegt worden sei und Wiedereinsetzungsgründe nicht vorlägen.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und hob die Einspruchsentscheidung auf.
Der Prozeßbevollmächtigte sei ohne Verschulden gehindert gewesen, die Einspruchsfrist einzuhalten, weil Art und Zeitpunkt einer Erkrankung den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin an der fristgerechten Einlegung des Einspruchs gehindert hätten.
Nach den Feststellungen des FG hat der Prozeßbevollmächtigte am Samstag, dem 18. Oktober 1980, den Einspruch der Klägerin bearbeitet. Dabei habe er allein im Büro gesessen, sei vom Stuhl gesunken und auf die Erde gefallen. Seine Frau habe ihn gefunden. Er sei dann im Krankenhaus vom Chefarzt untersucht worden, wobei deutliche Zeichen einer Hirnleistungsschwäche festgestellt worden seien, deren Ursache eine Mangeldurchblutung des Hirns gewesen sei.
Das FG führte aus, die aus den Durchblutungsstörungen des Gehirns resultierenden Gedächtnisstörungen in Verbindung mit der psychologischen Belastung durch diese Erkrankung hätten die Erinnerungen an die Vorgänge des 18. Oktobers eine Zeitlang zurückgedrängt. So habe es geschehen können, daß der Bevollmächtigte sich erst Tage später an den noch nicht fertig bearbeiteten Einspruch erinnert habe und bis heute noch keine Erklärung dafür finde, weshalb er die Unterlagen der Klägerin in seinem Schreibtisch eingeschlossen habe, ohne seinen Mitarbeitern hiervon Mitteilung zu machen.
Symptome der Erkrankung seien bereits Anfang 1980 aufgetreten. Ab Mai 1980 habe er sich drei Operationen an der Halsschlagader unterziehen müssen. Seit dieser Zeit seien in seiner Praxis unter anderem ein Steuerberater und ein Steuerbevollmächtigter als freie Mitarbeiter tätig gewesen.
Es könne dahinstehen, ob ein Verschulden der Mitarbeiter des Bevollmächtigten in Betracht käme. Denn Fehler, die den Mitarbeitern bei der Fristenüberwachung unterliefen, sog. Büroversehen, könnten dem Prozeßbevollmächtigten oder Steuerberater nicht zugerechnet werden (Hinweis auf Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10. Januar 1958 III 342/57, BFHE 66, 310, BStBl III 1958, 119). Da der Prozeßbevollmächtigte im vorliegenden Falle den Einspruch selbst bearbeitet habe, könne bei den Mitarbeitern nur ein Verschulden bei der Fristüberwachung in Betracht kommen. Anhaltspunkte dafür, daß der Bevollmächtigte seine Mitarbeiter nicht mit der notwendigen Sorgfalt ausgewählt oder daß ein Organisationsmangel vorgelegen habe, lägen nicht vor.
Hiergegen richtet sich die Revision des FA. Es ist der Auffassung, es liege kein Büroversehen vor. Ein solches könne nur dann angenommen werden, wenn Hilfskräfte eine Fristversäumnis verursachten. Hier hätten jedoch die Vertreter des Beraters der Klägerin einem noch offenen Termin im Fristenkontrollbuch keine Bedeutung beigemessen. Ein derartiges Verhalten der Vertreter sei schuldhaft. Gerade weil kein Einspruchsvorgang aufgefunden worden sei, hätte nicht davon ausgegangen werden dürfen, daß bereits Einspruch eingelegt worden sei. Dieses Verschulden der Vertreter stehe dem eigenen Verschulden des Beraters und damit der Klägerin gleich (Hinweis auf BFH-Urteil vom 7. Oktober 1964 I 117/63 U, BFHE 80, 498, BStBl III 1964, 653).
Selbst wenn man aber davon ausgehe, daß die vom Berater der Klägerin eingesetzten Personen nicht als Vertreter in diesem Sinne anzusehen, sondern vielmehr Hilfskräften gleichzusetzen seien, könne gleichwohl keine Wiedereinsetzung gewährt werden. Der Berater habe im Jahre 1980 einen labilen Gesundheitszustand gehabt und hätte vorsorglich einen Vertreter bestellen müssen (Hinweis auf BFH-Beschluß vom 25. April 1968 VI R 76/67, BFHE 92, 320, BStBl II 1968, 585).
Aber selbst wenn man eine vorsorgliche Vertreterbestellung nicht für erforderlich halte, lägen die Voraussetzungen des § 110 der Abgabenordnung (AO 1977) nicht vor. Ein Verschulden der Hilfskräfte wäre dem Berater allenfalls dann nicht zuzurechnen, wenn er seine Mitarbeiter sorgfältig ausgewählt hätte und ein Organisationsmangel nicht gegeben wäre. Dazu habe das FG lediglich festgestellt, daß keine Anhaltspunkte gegen eine sorgfältige Auswahl und mangelfreie Organisation sprächen. Das FG hätte von weiteren Feststellungen nicht absehen dürfen. Dem Berater sei jede Fristversäumung zuzurechnen, wenn nicht nachweislich ein Büroversehen vorliege (Hinweis auf Hübschmann / Hepp / Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 110 AO Anm. 89). Dieser Nachweis dürfte nicht durch die Feststellung des FG, daß keine Anhaltspunkte dagegen sprächen, geführt sein.
Das FA beantragt die Aufhebung der Vorentscheidung und Abweisung der Klage.
Die Klägerin beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
Die Klägerin wird aufgrund Vollmachtserteilung durch den Prozeßbevollmächtigten Steuerberater A und bei weiter geltender Hauptvollmacht kraft Untervollmacht durch Rechtsanwalt Dr. B und Partner - die letztgenannte Sozietät zugleich als Zustellungsbevollmächtigte - vertreten. Unter diesen Umständen war eine Terminsabsetzung aufgrund des Telegramms des Unterbevollmächtigten, welches ausschließlich die Mitteilung enthielt, er - Dr. B - könne wegen einer plötzlichen Erkrankung den Termin am 17. November 1987, 10.00 Uhr nicht wahrnehmen, nicht veranlaßt. Es konnte mangels eines erheblichen Grundes - ein solcher ist weder erkennbar noch dargelegt - auch ohne Anwesenheit des Unterbevollmächtigten verhandelt werden (§ 227 der Zivilprozeßordnung - ZPO -).
Das FG hat zu Unrecht die Einspruchsentscheidung aufgehoben und der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt (§ 110 AO 1977). Denn es fehlt im Einspruchsverfahren an einem schlüssigen und glaubhaft gemachten Vortrag, aus dem hervorgeht, daß die Frist ohne Verschulden des Prozeßbevollmächtigten - also ohne Verletzung der einem gewissenhaften Beteiligten nach den Umständen zuzumutenden Sorgfalt (vgl. Gräber, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 56 Anm. 2 unter B Abs. 1 Satz 2) - versäumt worden ist (§ 110 Abs. 2 Satz 2 AO 1977). Das Gesuch um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erfordert grundsätzlich eine genaue Darlegung und Glaubhaftmachung aller innerhalb der versäumten Frist liegenden Umstände, die für die Frage von Bedeutung sind, auf welche Weise und durch wessen Verschulden es zur Versäumung der Frist gekommen ist (vgl. Beschluß des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 14. Juni 1978 VIII ZB 6/78, Versicherungsrecht - VersR - 1978, 942). Der eigene Vortrag des Prozeßbevollmächtigten belegt, daß die Frist nicht unverschuldet versäumt wurde.
Der Senat kann es dahinstehen lassen, ob der Prozeßbevollmächtigte rechtzeitig und ausreichend seine Erkrankung dargetan hat. Denn jedenfalls beruht die Fristversäumung auf einem Organisationsmangel.
Zu der dem Prozeßbevollmächtigten obliegenden Organisationspflicht gehört es, für eine Endkontrolle Sorge zu tragen, die sicherstellt, daß fristwahrende Schriftsätze tatsächlich gefertigt und abgesandt werden (vgl. BGH-Beschluß vom 18. Dezember 1980 VII ZB 23/80 VersR 1981, 282). Zu der bei richtiger Organisation des Geschäftsbetriebs einzurichtenden Endkontrolle fristwahrender Maßnahmen gehört die Anordnung, Fristen erst dann zu löschen, wenn das fristwahrende Schriftstück gefertigt und abgesandt ist (vgl. BGH-Beschlüsse vom 29. Januar 1981 VII ZB 26/80, VersR 1981, 463; vom 16. März 1983 IV a ZB 5/83, VersR 1983, 541, und vom 21. April 1983 I ZB 2/83, VersR 1983, 752). Zur Organisationspflicht gehört es, eine Ausgangskontrolle zu schaffen, durch die zuverlässig verhindert wird, daß fristwahrende Schriftsätze nicht über den Fristablauf hinaus im Büro liegenbleiben (vgl. BGH-Beschlüsse vom 6. Februar 1985 IV b ZB 141/84, VersR 1985, 369, und vom 19. Juni 1986 X ZB 5/86, VersR 1986, 1205; BFH-Beschluß vom 18. Januar 1984 I R 196/83, BFHE 140, 146, BStBl II 1984, 441). Die Fristenkontrolle ist dann nicht richtig organisiert, wenn Angestellte trotz fehlenden Vermerks im Fristenkontrollbuch ohne weitere Überprüfung davon ausgehen, daß eine Fristsache bearbeitet und abgesandt worden ist.
Der Prozeßbevollmächtigte hat zu keinem Zeitpunkt vorgetragen, wie die Fristenkontrolle organisiert war und welche Weisungen er für den Fall gegeben hatte, daß eine Frist in der Fristenkontrolle nicht gelöscht war. Wird einem offenen Termin im Fristenkontrollbuch keine Bedeutung oder die Bedeutung beigemessen, daß eine Sache gleichwohl abgesandt sein könnte, zeigt dieser Umstand, daß der Berater sein Personal nicht hinreichend belehrt hat, wie es sich in einem solchen Fall zu verhalten hat. Die Weisungen des Beraters hätten so gefaßt sein müssen, daß sich das Personal auf keinen Fall auf eigene Vermutungen verlassen durfte. Für den Fall der nicht im Fristenkontrollbuch gelöschten Frist mußten Weisungen vorliegen, die geeignet waren, eine Fristversäumnis zu verhindern. Die Berufung des Prozeßbevollmächtigten auf die Vermutungen des Personals erweist gerade den Mangel der Belehrung des für die Fristwahrung eingesetzten Personals. Das Verschulden ihres Vertreters ist der Klägerin zuzurechnen (§ 110 Abs. 1 Satz 2 AO 1977).
Fundstellen