Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtswidrigkeit der Ablehnung der Aufnahme eines Vorläufigkeitsvermerks bei Ermessensunterschreitung; keine Ermessensreduzierung auf „Null“ zugunsten eines Vorläufigkeitsvermerks bei Möglichkeit des Ruhens des Verfahrens
Leitsatz (NV)
- Die Entscheidung der Finanzbehörde, einen Steuerbescheid entgegen dem Begehren des Steuerpflichtigen nicht für vorläufig zu erklären, ist rechtswidrig, wenn die Finanzbehörde zu Unrecht davon ausgegangen ist, dass der gesetzliche Tatbestand des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO 1977 nicht vorliegt, und wenn sie deshalb das ihr in § 165 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 eingeräumte Rechtsfolgeermessen nicht ausgeübt hat.
- Das Finanzgericht kann eine durch Gesetz der Finanzbehörde eingeräumte Ermessensentscheidung nur dann selbst treffen, wenn von den verschiedenen, theoretisch in Betracht kommenden Entscheidungen im konkreten Fall nur eine einzige Entscheidung ermessensgerecht ist (sog. Ermessensreduzierung auf "Null").
- Der Fall einer sog. Ermessensreduzierung auf "Null" zugunsten eines Vorläufigkeitsvermerks liegt dann nicht vor, wenn der Steuerpflichtige im Einspruchsverfahren wahlweise das Ruhen des Verfahrens oder die Aufnahme eines Vorläufigkeitsvermerks beantragt hatte und wenn nach Aufhebung der wegen Ermessensunterschreitung rechtswidrigen Einspruchentscheidung weiterhin die Voraussetzungen für entweder die Aufnahme eines Vorläufigkeitsvermerks oder das Ruhen des Verfahrens vorliegen.
Normenkette
AO 1977 §§ 5, 165 Abs. 1, § 363 Abs. 2; FGO § 102; EStG § 20
Verfahrensgang
FG Düsseldorf (EFG 1996, 517) |
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) erklärte im Streitjahr 1993 Einkünfte aus Kapitalvermögen (Zinsen i.S. von § 20 Abs. 1 Nr. 7 des Einkommensteuergesetzes ―EStG―), die den Sparerfreibetrag überstiegen. In dem angefochtenen Einkommensteuerbescheid 1993 legte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ―FA―) die erzielten Kapitalerträge in der erklärten Höhe der Besteuerung zugrunde. Mit dem dagegen erhobenen Einspruch machte der Kläger geltend, dass die Besteuerung der Kapitaleinkünfte im Veranlagungszeitraum 1993 nicht den Vorgaben im "Zinsurteil" des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 27. Juni 1991 2 BvR 1493/89 (BVerfGE 84, 239, BStBl II 1991, 654) entspreche. Zu dieser Frage sei beim Finanzgericht (FG) ein Klageverfahren anhängig. Er beantragte deshalb, die Bearbeitung des Einspruchs ruhen zu lassen oder den angefochtenen Einkommensteuerbescheid hinsichtlich der Zinsbesteuerung für vorläufig zu erklären.
Das FA wies den Einspruch sowie die Anträge auf Ruhen des Verfahrens oder Anbringung eines Vorläufigkeitsvermerks als unbegründet zurück.
Mit der Klage verfolgte der Kläger ausschließlich sein Begehren weiter, den angegriffenen Einkommensteuerbescheid in Bezug auf die Kapitaleinkünfte für vorläufig zu erklären. Das FG gab der Klage statt. Es entschied, der Kläger habe mit Rücksicht auf die in dem Verfahren VIII R 33/95 beim Bundesfinanzhof (BFH) in Frage gestellte Vereinbarkeit der Neuregelungen zur Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen mit höherrangigem Recht einen Anspruch darauf, dass die Steuer insoweit für vorläufig erklärt wird. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG 1996, 517) veröffentlicht.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung von § 165 der Abgabenordnung (AO 1977) und § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
Es beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Verpflichtungsklage des Klägers abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) ist dem Verfahren beigetreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist begründet und führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, soweit das FG das FA zur Aufnahme eines Vorläufigkeitsvermerks verpflichtet hat. Im Übrigen ist sie mit der Maßgabe unbegründet, dass die Einspruchsentscheidung aufgehoben wird, soweit das FA die Aufnahme eines Vorläufigkeitsvermerks abgelehnt hat, und dass das FA verpflichtet wird, den Antrag des Klägers auf Aufnahme eines Vorläufigkeitsvermerks in den Einkommensteuerbescheid für 1993 wegen der Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 20 EStG) unter Ausübung seines Ermessens zu bescheiden.
1. Das FA hat in der Einspruchsentscheidung vom 11. August 1995 das vom Kläger beantragte Ruhen des Einspruchsverfahrens und die alternativ begehrte Aufnahme eines Vorläufigkeitsvermerks abgelehnt und den Einspruch wegen der Einkünfte aus Kapitalvermögen als unbegründet zurückgewiesen. Der Kläger hat mit seiner Klage nur die Aufnahme eines Vorläufigkeitsvermerks beantragt, so dass allein diese Frage Streitgegenstand des finanzgerichtlichen Verfahrens war. Das FG hat rechtsfehlerfrei entschieden, dass die Einspruchsentscheidung rechtswidrig ist, soweit das FA den Antrag auf Aufnahme eines Vorläufigkeitsvermerks abgelehnt hat.
a) Das FA hat in seiner Einspruchsentscheidung angenommen, die Tatbestandsmerkmale des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO 1977 in der hier maßgeblichen Fassung des Missbrauchbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetzes (StMBG) vom 21. Dezember 1993 (BGBl I 1993, 2310, BStBl I 1994, 50) seien nicht erfüllt. Es ist davon ausgegangen, dass ein dieselbe Rechtsfrage betreffendes Klageverfahren nur bei einem FG und nicht bereits beim BFH anhängig war. Dies war unzutreffend. Denn tatsächlich war gegen das Urteil des FG München vom 30. März 1995 6 K 2765/94 (EFG 1995, 723) am 25. Mai 1995 rechtzeitig Revision eingelegt worden. Die Revision war auch noch bei Erlass der angefochtenen Einspruchsentscheidung am 11. August 1995 beim BFH, einem obersten Bundesgericht, unter dem Aktenzeichen VIII R 33/95 anhängig. In diesem Verfahren bestand Streit über dieselbe Rechtsfrage wie im Falle des Klägers, nämlich über die Übereinstimmung der seit 1993 gültigen Vorschriften betreffend die Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen mit höherrangigem Recht. Dass dem FA die Anhängigkeit dieses Verfahrens beim BFH nicht bekannt war und möglicherweise mit einem zumutbaren Aufklärungsaufwand auch gar nicht hätte bekannt sein können (das FG-Urteil war in der Ausgabe der EFG vom 10. August 1995, S. 723 als rechtskräftig bezeichnet worden), steht der Rechtswidrigkeit der Einspruchsentscheidung nicht entgegen. Denn der Tatbestand des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO 1977 stellt auf die objektive Anhängigkeit bei einem obersten Bundesgericht und nicht darauf ab, ob die jeweils zur Entscheidung berufene Finanzbehörde davon hätte Kenntnis haben können oder müssen.
b) Da das FA die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen dafür, ob eine Ermessensentscheidung zu treffen ist, als nicht erfüllt angesehen hat, hat es auch das ihm in § 165 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 eingeräumte Rechtsfolgeermessen, ob es den Bescheid für vorläufig erklärt, nicht ausgeübt (Ermessensunterschreitung). Die unterlassene Ausübung einer von Gesetzes wegen gebotenen Ermessenserwägung führt zur Rechtswidrigkeit der getroffenen Entscheidung. Denn gemäß § 5 AO 1977 hat die Finanzbehörde ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben. Das bedeutet aber auch, dass sie überhaupt von der Ermächtigung Gebrauch machen muss (vgl. BFH-Urteil vom 2. November 1994 VII R 94/93, BFH/NV 1995, 754).
2. Wegen dieser Ermessensunterschreitung war die Einspruchsentscheidung rechtswidrig und insoweit aufzuheben, als dies mit der Klage begehrt worden ist (vgl. § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO). Das FA wird nunmehr unter erstmaliger Ausübung seines Ermessens (vgl. § 5 AO 1977) zu entscheiden haben, ob es den Vorläufigkeitsvermerk aufnimmt.
a) Grundsätzlich ist dann, wenn die Finanzbehörde ein ihr eingeräumtes Rechtsfolgeermessen zu Unrecht nicht ausgeübt hat und der Steuerpflichtige im Wege der Verpflichtungsklage eine bestimmte, bisher vom FA abgelehnte Entscheidung erstrebt, die ablehnende Entscheidung des FA mit der Maßgabe aufzuheben, dass das FA den Kläger unter Ausübung des ihm eingeräumten Ermessens zu bescheiden hat. Denn in der Regel darf das FG das im Gesetz der Finanzbehörde eingeräumte Ermessen nicht selbst ausüben, sondern gemäß § 102 FGO nur überprüfen, ob das FA die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Etwas anderes gilt nur dann, wenn von den verschiedenen, theoretisch in Betracht kommenden Ermessensentscheidungen im konkreten Fall nur eine einzige Entscheidung ermessensgerecht ist. In diesem Fall, der auch mit dem Begriff der Ermessensreduzierung auf "Null" umschrieben wird, ist das FG berechtigt, die Behörde zu verpflichten, die allein ermessensgerechte Rechtsfolgeentscheidung zu treffen.
b) Der Senat ist abweichend von der Auffassung des FG nicht der Ansicht, dass im Streitfall allein die Aufnahme des Vorläufigkeitsvermerks ermessensgerecht wäre. Im Hinblick darauf, dass der Kläger selbst während des Einspruchsverfahrens das Ruhen dieses Verfahrens oder die Aufnahme eines Vorläufigkeitsvermerks als gleichwertige Alternativen angesehen hat, kommt nach Aufhebung der Einspruchsentscheidung auch weiterhin die Anordnung des Ruhens des Verfahrens gemäß § 363 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 in Betracht. Zwar ist das Senats-Urteil vom 18. Februar 1997 VIII R 33/95 (BFHE 183, 45, BStBl II 1997, 499) inzwischen rechtskräftig geworden, da das BVerfG die dagegen eingelegte Beschwerde nicht zur Entscheidung angenommen hat (Beschluss vom 10. Oktober 1997 2 BvR 1440/97, Steuer-Eildienst ―StEd― 1997, 799). Doch ist noch die Verfassungsbeschwerde gegen das Senatsurteil vom 15. Dezember 1998 VIII R 6/98 (BFHE 187, 302, BStBl II 1999, 138) beim BVerfG unter dem Aktenzeichen 2 BvR 284/99 anhängig. Dieses Urteil betrifft dieselbe Rechtsfrage wie das Urteil VIII R 33/95. Dass es erst nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung und nach Erlass des Urteils der Vorinstanz ergangen ist, ändert nichts daran, dass das Interesse des Klägers daran, seinen Einkommensteuerbescheid 1993 wegen der Einkünfte aus Kapitalvermögen offen zu halten, sich nicht erledigt hat, sondern fortbesteht. Das Anliegen des Klägers, die Veranlagung wegen der Einkünfte aus Kapitalvermögen offen zu halten, ist auch berechtigt. Dies zeigt § 363 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 i.d.F. des Grenzpendlergesetzes vom 24. Juni 1994 (BGBl I 1994, 1395, BStBl I 1994, 440), der gemäß Art. 11 Abs. 3 dieses Gesetzes am 1. Januar 1996 in Kraft getreten ist und der bestimmt, dass das Einspruchsverfahren ruht, wenn wegen der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm ein Verfahren beim BVerfG oder einem obersten Bundesgericht anhängig ist und der Einspruch hierauf gestützt wird. Deshalb ist, solange das BVerfG in dem Verfahren 2 BvR 284/99 noch keine Entscheidung getroffen hat, der Ermessensspielraum des FA bei seiner Entscheidung, ob es einen Vorläufigkeitsvermerk anbringt, darauf begrenzt, entweder diesem Begehren stattzugeben oder das Verfahren ruhen zu lassen.
Fundstellen
Haufe-Index 726113 |
BFH/NV 2002, 747 |
HFR 2002, 674 |