Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung rechtlichen Gehörs - Nichtberücksichtigung von nachträglich eingereichten Schriftsätzen
Leitsatz (NV)
1. Werden Schriftsätze erst nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung beim FG eingereicht, so muß das FG von Amts wegen beschließen, ob es aufgrund der eingereichten Schriftsätze die mündliche Verhandlung wiedereröffnet oder die Wiedereröffnung nicht für geboten hält. Die Prozeßbeteiligten haben einen Anspruch darauf, daß entsprechende Erwägungen angestellt und ihnen bekanntgegeben werden.
2. Wird im Revisionsverfahren die Verletzung rechtlichen Gehörs gerügt, weil das FG bei seiner Entscheidung von den Verfahrensbeteiligten vorgebrachte Tatsachen nicht berücksichtigt hat, so führt dies zur Aufhebung des FG-Urteils, wenn es auf die nicht berücksichtigten Tatsachen für die Enscheidung ankommen kann.
Normenkette
FGO § 119 Nr. 3, § 126 Abs. 4
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist selbständiger Handelsvertreter für ...Artikel; er betreibt außerdem einen Großhandel mit ...
In den Jahren 1978 und 1979 gewährte er mehreren Pesonen Darlehen in Höhe von insgesamt ... DM. Einen Teil dieses Betrags schrieb er in seiner Gewinn- und Verlustrechnung für 1979 als uneinbringlich ab.
Im Jahre 1979 beteiligte er sich als Kommanditist an der X-GmbH & Co.KG. Im Zusammenhang mit dieser Beteiligung übernahm er im Jahre 1980 zwei Bürgschaften in Höhe von ... DM. Aus diesen Bürgschaften wurde er im Jahre 1980 in Anspruch genommen; einen Teil des Bürgschaftsverlustes setzte er in seiner Gewinn- und Verlustrechnung für 1980 als Aufwand an.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) behandelte die Forderungsabschreibung und den Bürgschaftsverlust bei Erlaß der Gewerbesteuermeßbescheide für 1979 und 1980 nicht als Betriebsausgaben. Das hatte zur Folge, daß sich für diese Jahre positive Gewerbeerträge ergaben und für 1981 kein Gewerbeverlust (§ 10a des Gewerbesteuergesetzes - GewStG -) berücksichtigt wurde.
Mit seiner nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage gegen die Gewerbesteuermeßbescheide 1980 und 1981 machte der Kläger u.a. geltend, die Darlehen seien aus gewerblichen Gründen gewährt worden; die durch die Darlehensgewährung entstandenen Verluste müßten deshalb die Gewerbeerträge mindern.
Am 20. Juli 1988 fand vor dem Finanzgericht (FG) eine mündliche Verhandlung statt, zu der der Kläger persönlich mit seinem Prozeßbevollmächtigten erschienen war. Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete das FG den Beschluß, daß die Entscheidung den Beteiligten schriftlich zugestellt werde.
Noch vor der Zustellung des Urteils - nämlich am 27. Juli 1988 - ging beim FG ein Schreiben des Prozeßbevollmächtigten des Klägers ein, mit dem der Kläger vorbringen ließ, er habe der Verhandlung wegen seiner kriegsverletzungsbedingten Konzentrationsschwäche schon nach kurzer Zeit nicht mehr folgen können; deshalb seien in der mündlichen Verhandlung weitere Ausführungen von seiner Seite unterblieben. Zur Sache führte er erstmals aus, er habe sich durch die Gewährung von Darlehen und durch seine Beteiligung an der KG neue Tätigkeitsfelder eröffnen wollen. Dieses Schreiben ist in dem Urteil des FG nicht berücksichtigt worden.
Das klageabweisende Urteil wurde dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers am 19. August 1988 zugestellt. Nach der Zustellung - nämlich am 25. August 1988 - richtete der Berichterstatter des FG-Senats an den Prozeßbevollmächtigten des Klägers ein Schreiben folgenden Inhalts:
In dem Rechtsstreit ... ist mir Ihr Schriftsatz vom 27.7. 1988 erst nach Abfassung des Urteils vorgelegt wroden. Er ist deshalb naturgemäß nicht berücksichtigt. Inzwischen ist das Urteil zugestellt. Ich stelle anheim, weitere Schritte zu unternehmen.
Mit seiner - vom Senat gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zugelassenen - Revision rügt der Kläger die Verletzung des rechtlichen Gehörs.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.
1. Der Kläger rügt zu Recht, daß ihm das rechtliche Gehör versagt worden sei. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -) wird verletzt, wenn sich aus den Umständen des Einzelfalles ergibt, daß das Gericht das Vorbringen eines Beteiligten nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 2. Dezember 1969 2 BvR 320/69, BVerfGE 27, 248, 252).
Zwar werden Schriftsätze, die erst nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung eingereicht werden, grundsätzlich nicht mehr berücksichtigt (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 29. November 1973 IV R 221/69, BFHE 111, 21, BStBl II 1974, 115). Das FG kann allerdings zur Berücksichtigung nachträglich eingereichter Schriftsätze die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beschließen (§ 93 Abs. 3 Satz 2 FGO). In jedem Fall muß das FG von Amts wegen beschließen, ob es aufgrund des eingereichten Schriftsatzes die mündliche Verhandlung wieder eröffnet oder die Wiedereröffnung nicht für geboten hält. Es muß auch zum Ausdruck bringen, daß entsprechende Erwägungen angestellt worden sind; denn sonst läßt sich nicht prüfen, ob das Gericht sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat. Auf diese Ausführungen haben die Prozeßbeteiligten einen Anspruch; nur so ist sichergestellt, daß das Recht auf Gehör gewahrt ist (Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 31. Januar 1974 4 RJ 183/73, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1974, 464; BFH-Urteil vom 29. November 1985 VI R 13/82, BFHE 145, 125, BStBl II 1986, 187).
Im Streitfall hat das FG nach Eingang des Schriftsatzes vom 27. Juli 1988 keine Entscheidung über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung getroffen. Aus dem Urteil des FG läßt sich nicht entnehmen, ob das FG diesen Schriftsatz zur Kenntnis genommen hat. Das erst nach Zustellung des Urteils an den Prozeßbevollmächtigten des Klägers gerichtete Schreiben des Berichterstatters vom 25. August 1988 bestätigt vielmehr, daß der Schriftsatz vom 27. Juli 1988 nicht berücksichtigt wurde.
2. Dem Einwand des FA, daß es auf die im Schriftsatz vom 27. August 1988 vorgebrachten Tatsachen unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ankommen und das FG-Urteil trotz einer etwaigen Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht aufgehoben werden könne, weil es sich im Ergebnis als richtig darstelle (§ 126 Abs. 4 FGO), kann nicht gefolgt werden.
Nach § 126 Abs. 4 FGO ist die Revision zurückzuweisen, wenn die Entscheidungsgründe zwar eine Verletzung des bestehenden Rechts ergeben, sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig darstellt.
Bei Verfahrensmängeln, die absolute Revisionsgründe i.S.des § 119 FGO beinhalten, ist § 126 Abs. 4 FGO grundsätzlich nicht anwendbar (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 126 Rz. 7 m.w.N.). Eine Ausnahme gilt nur für den Revisionsgrund der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 119 Nr. 3 FGO), wenn sich die Verletzung auf einzelne tatsächliche Feststellungen bezieht, auf die es für die Entscheidung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ankommt (BFH-Urteil vom 5. Dezember 1979 II R 56/76, BFHE 129, 297, BStBl II 1980, 208; Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rz. 14 m.w.N.).
Eine solche Ausnahme ist im Streitfall nicht gegeben. Für die materiell-rechtliche Entscheidung kommt es darauf an, ob die Verluste aus der Darlehensgewährung und der Bürgschaftsübernahme betrieblich veranlaßt sind (§ 4 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes) und ggf., ob sie dem Gewerbeertrag des vom Kläger betriebenen Unternehmens (Handelsvertretung für ... Artikel, Großhandel mit...) zuzurechnen waren. Für diese Entscheidung könnten die Ausführungen des Klägers in seinem Schriftsatz vom 27. Juli 1988 von Bedeutung sein. Dort hat er nämlich - über sein bisheriges Vorbringen hinaus - im einzelnen dargetan, daß sich für ihn durch die Darlehensgewährung und die Beteiligung an der KG weitere gewerbliche Tätigkeitsfelder eröffnen sollten, deren Betreuung ihm von zu Hause aus möglich gewesen wäre. Unter den gegebenen Umständen kann nicht als ausgeschlossen angesehen werden, daß der Kläger im Rahmen seines bisherigen Unternehmens eine gewerbliche Darlehensgewährung (vgl. hierzu Schmidt, Einkommensteuergesetz, 11. Aufl., § 15 Anm. 18 m.w.N.) betrieb; in diesem Fall hätten die vom Kläger geltend gemachten Verluste unter gewissen Voraussetzungen seinen Gewerbeertrag mindern können.
Fundstellen
Haufe-Index 419046 |
BFH/NV 1994, 555 |