Leitsatz (amtlich)
Der Steuerpflichtige, der im finanzgerichtlichen Verfahren obgesiegt hat, ist als Revisionsbeklagter befugt, tatsächliche Feststellungen des FG, die zu einer ihm ungünstigen Entscheidung des BFH führen können, bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung vor dem BFH mit Verfahrensrügen anzugreifen (Gegenrüge).
Normenkette
FGO § 118 Abs. 2, § 120 Abs. 2, § 155
Tatbestand
Streitig ist bei den Einkommensteuer-Veranlagungen 1959 bis 1962, ob gewerblicher Grundstückshandel von Landwirten vorliegt (§ 13 Abs. 1 Nr. 1, § 15 Nr. 1 EStG, § 2 GewStG, § 1 GewStDV).
Auf Grund des Ergebnisses einer im Jahre 1965 durchgeführten Betriebsprüfung nahm das FA gewerbliche Grundstücksverkäufe an. Der Einspruch, den die Steuerpflichtigen nicht begründeten, blieb ohne Erfolg.
In der Klage trugen die Steuerpflichtigen vor, sie hätten das verkaufte Gelände nicht aufgeschlossen und auch sonst nichts zur Baureifmachung getan. Die Grundstücke seien lediglich in fünf Etappen parzelliert worden.
Das FG gab der Klage statt.
Mit der Revision beantragt das FA die Aufhebung der Vorentscheidung. Es rügt unrichtige Rechtsanwendung.
Die Steuerpflichtigen rügten in der mündlichen Verhandlung vor dem BFH mangelnde Sachaufklärung durch das FG. Zu Unrecht habe das FG in der Vorentscheidung festgestellt, daß sie, die Steuerpflichtigen, im Jahre 1957 selbst die Initiative für die Aufstellung des behördlichen Bebauungsplanes ergriffen hätten. Es treffe nicht zu, daß der Bebauungsvorschlag in ihrem Auftrag erstellt und eingereicht worden sei. Weder sie selbst noch das FA hätten in dem Verfahren hierzu etwas vorgetragen. Auch habe das FG eine solche Feststellung nicht aus dem sonstigen Akteninhalt treffen können.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden, da gegen die für die Entscheidung erheblichen tatsächlichen Feststellungen des FG zulässige und begründete Rügen erhoben sind und der BFH deshalb nicht an diese Feststellungen gebunden ist.
Die von den Steuerpflichtigen in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat vorgetragene Rüge der mangelnden Sachaufklärung ist zulässig. Zwar sieht die FGO eine Rüge von Verfahrensmängeln nur für den Revisionskläger vor (§ 118 Abs. 2 und 3, § 120 Abs. 2 FGO). Die Frage, ob auch der Revisionsbeklagte formelle Rügen (sogenannte Gegenrügen) erheben kann, ist weder in der FGO noch in der ZPO ausdrücklich geregelt. Dem Sinn des § 155 FGO entspricht es, zur Ausfüllung von Lücken der FGO das Zivilprozeßrecht auch insoweit ergänzend anzuwenden, als es sich um Rechtssätze handelt, die nicht im Text der ZPO enthalten, sondern von der Rechtsprechung entwickelt worden sind. Ein solcher Rechtsgrundsatz besteht hinsichtlich der Zulässigkeit von Gegenrügen des Revisionsbeklagten. Sie wird in Rechtsprechung und Schrifttum bejaht (vgl. Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, Nr. 12 zu § 561 ZPO; Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bd. 17 S. 236; Urteil des Bayerischen Oberlandesgerichts vom 8. Juni 1966, NJW 1967 S. 57; Wieczorek, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, Anm. F II b 2 zu § 554). Die Befugnis des Revisionsbeklagten zur Gegenrüge folgt aus der Erwägung, daß der Revisionsbeklagte, der in der Vorinstanz obgesiegt hat, mangels Beschwer auch dann kein Rechtsmittel einlegen kann, wenn die ihm günstige Vorentscheidung tatsächliche Feststellungen enthält, die er für fehlerhaft oder für lückenhaft hält und die zu einer ihm ungünstigen Entscheidung des Revisionsgerichts führen können. Gegen solche ihm nachteilige Feststellungen oder die Unterlassung zutreffender Feststellungen der Vorinstanz muß sich der Revisionsbeklagte wenden können. Diese Erwägungen gelten auch für das steuergerichtliche Verfahren.
Ein solcher Fall liegt hier vor. Denn wenn es zutrifft, daß, was das FG darlegt, die Steuerpflichtigen selbst die Initiative zur Aufstellung des Bebauungsplans ergriffen hätten, müßten die Grundstücksverkäufe entgegen der Auffassung des FG, das diesem Umstand keine Bedeutung beimaß, als gewerbliche Vorgänge angesehen werden.
Die Steuerpflichtigen haben die Verfahrensrüge rechtzeitig angebracht. Für sie gilt nicht die in § 120 Abs. 2 FGO für den Revisionskläger vorgeschriebene zeitliche Beschränkung des Rügerechts (Bindung an die Revisionsbegründungsfrist). Jene Beschränkung rechtfertigt sich daraus, daß der Revisionskläger, der durch die Vorentscheidung beschwert ist, während der Revisionsbegründungsfrist rechtserhebliche Verfahrensfehler erkennen kann. Für den Revisionsbeklagten, der in der Vorinstanz obgesiegt hatte, ist meist erst aus den Ausführungen des Revisionsklägers in der Revisionsbegründung, aus einem ihm ungünstigen Vorbescheid des BFH oder aus dem Vortrag in der mündlichen Verhandlung vor dem BFH erkennbar, inwiefern die Vorentscheidung ihm nachteilige Feststellungen enthält, die möglicherweise auf Grund von Verfahrensfehlern der Vorinstanz zustande gekommen sind. Dem Revisionsbeklagten muß deshalb das Recht zur Rüge von Verfahrensfehlern übereinstimmend mit der im Zivilprozeßrecht vertretenen Meinung bis zum Ende der mündlichen Verhandlung vor dem BFH eingeräumt werden. Mit der Möglichkeit einer Tatbestandsberichtigung nach § 108 FGO, die innerhalb einer Frist von zwei Wochen beantragt werden müßte, wäre dem Revisionsbeklagten nicht geholfen.
Die Verfahrensrüge der Steuerpflichtigen ist auch begründet. Die Akten lassen nicht erkennen, inwiefern sich die Steuerpflichtigen um die Aufstellung des behördlichen Bebauungs plans bemüht hätten. Es ist nicht ohne weiteres ersichtlich, wie das FG zu der angegriffenen Feststellung gelangte. Da dieser Umstand jedoch für die Entscheidung wesentlich ist, wird das FG den Sachverhalt in diesem Punkt noch aufzuklären haben.
Fundstellen
Haufe-Index 69011 |
BStBl II 1970, 497 |
BFHE 1970, 21 |