Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensfehler, wenn das FG den Prozeßbevollmächtigten des Klägers übergeht
Leitsatz (NV)
Ein Beteiligter im Verfahren ist nicht nach den Vorschriften des Gesetzes vertreten, wenn das FG einen in der mündlichen Verhandlung anwesenden Bevollmächtigten übergeht und deshalb niemand für den Beteiligten aufgetreten ist.
Normenkette
FGO § 119 Nr. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) auf Aufhebung des Umsatzsteuervorauszahlungsbescheides für April 1983 vom 7. Dezember 1983 durch das im Anschluß an die mündliche Verhandlung vom 29. August 1984 verkündete Urteil ab. Dem von Steuerberater A für die Klägerin gestellten Antrag, die Verhandlung zu vertagen, hatte das FG im Hinblick darauf nicht entsprochen, daß der Antrag nicht begründet worden sei.
Zur mündlichen Verhandlung war der Steuerberater A für die Steuerberatungsgesellschaft (im folgenden S-GmbH) erschienen und hatte eine Vollmacht vorgelegt, die lediglich von einem der beiden nur zusammen vertretungsberechtigten Geschäftsführer der Klägerin unterschrieben worden war. Das FG wies die Vollmacht deshalb als nicht ordnungsgemäß zurück. Nach einer Unterbrechnung der auf 10.15 Uhr anberaumten mündlichen Verhandlung bis 12.00 Uhr zur Beibringung einer ausreichenden Vollmacht setzte das FG die Verhandlung um 11.55 Uhr fort. Zu dieser Zeit konnte der Steuerberater A keine andere als die ursprüngliche Vollmacht vorlegen. Das FG nahm daraufhin zwar einen Schriftsatz der S-GmbH für die Klägerin entgegen, erkannte aber die S-GmbH nicht als Prozeßbevollmächtigte der Klägerin an und ließ einen Vortrag des Steuerberaters A der S-GmbH nicht zu.
Das FG hatte die B Steuerberatungsgesellschaft mbH (im folgenden B-GmbH), der durch die Klägerin schriftlich Prozeßvollmacht erteilt worden war, zur mündlichen Verhandlung am 29. August 1984 um 10.15 Uhr geladen, führte sie aber weder im Protokoll über die mündliche Verhandlung noch im Rubrum des klageabweisenden Urteils an.
Mit der Revision rügt die Klägerin u. a. Verletzung von Verfahrensrecht.
Sie macht geltend, das FG habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, daß es den für sie, die Klägerin, aufgetretenen Steuerberater A von der mündlichen Verhandlung ausgeschlossen habe, obwohl er Untervollmacht habe nachweisen können (Verstoß gegen § 62 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Es habe diesen Anspruch ferner dadurch verletzt, daß es dem Steuerberater A keine angemessene Frist zur Beibringung der Hauptvollmacht gesetzt habe (Verstoß gegen § 62 Abs. 3 FGO) und daß es ihn unter Verstoß gegen § 155 FGO i. V. m. § 89 der Zivilprozeßordnung (ZPO) nicht einstweilen zur mündlichen Verhandlung zugelassen habe. Das FG habe gegen Verfahrensrecht auch dadurch verstoßen, daß es einen im Termin zur mündlichen Verhandlung übergebenen Schriftsatz nicht zur Kenntnis genommen und präsente Beweismittel nicht erhoben habe (Verstoß gegen § 76 Abs. 1 und § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) sowie daß es eine gebotene Vertagung nicht beschlossen habe (Verstoß gegen § 155 FGO i. V. m. § 227 ZPO).
Zur Begründung der Verfahrensrügen führt die Klägerin u. a. aus, die ursprünglich mit der Vertretung beauftragte B-GmbH sei wenige Tage vor der mündlichen Verhandlung aus dem Vertretungsverhältnis entlassen und die S-GmbH sei mit der Vertretung beauftragt worden. Vor Beginn der mündlichen Verhandlung habe der im Gericht anwesende Steuerberater W der B-GmbH dem Steuerberater A der S-GmbH die vom FG beanstandete schriftliche Vollmacht der Klägerin übergeben. Es sei unmöglich gewesen, die fehlende Unterschrift auf der Vollmacht innerhalb der vom FG gesetzten Frist bis 12.00 Uhr am Tag der mündlichen Verhandlung nachzuholen. Bei Fortsetzung der unterbrochenen mündlichen Verhandlung habe Steuerberater A versichert, daß die S-GmbH vertretungsbefugt sei. Er habe dies durch Vorlage von Fernschreiben belegt. Unter diesen Umständen hätte das FG die S-GmbH, vertreten durch den Steuerberater A, einstweilen zulassen müssen.
Die Klägerin rügt außerdem Verletzung materiellen Rechts.
Sie beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung und den Umsatzsteuervorauszahlungsbescheid für April 1983 vom 7. Dezember 1983 in der Form der Einspruchsentscheidung vom 29. März 1984 aufzuheben.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) ist der Revision entgegengetreten.
Auf Anfrage hat das FA mitgeteilt, daß ein Umsatzsteuerbescheid für 1983 noch nicht ergangen sei, weil die Klägerin bisher keine Steuererklärung für 1983 abgegeben habe.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
Das Verfahren vor dem FG war, wie die Klägerin zu Recht - sinngemäß - gerügt hat, fehlerhaft, weil die Klägerin nicht nach den Vorschriften des Gesetzes vertreten war (§ 119 Nr. 4 FGO). Das FG hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 29. August 1984 entschieden, ohne einem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin Gelegenheit gegeben zu haben, für die Klägerin aufzutreten.
1. Ein Urteil eines FG beruht stets auf Verletzung von Bundesrecht, wenn ein Beteiligter im Verfahren nicht nach den Vorschriften des Gesetzes vertreten war, außer wenn er der Prozeßführung ausdrücklich oder stillschweigend zugestimmt hat (§ 119 Nr. 4 FGO). Diese Bestimmung gewährleistet, daß der Beteiligte, um dessen Rechte es im Verfahren geht, entweder selbst oder durch seinen nach sachlichem Recht oder nach Prozeßrecht befugten Vertreter Gelegenheit hat, seinen Standpunkt darzustellen (Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 24. Mai 1988 4 CB 12.88, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 310, § 133 VwGO Nr. 79; Stein / Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 20. Aufl., § 551 Rdnr. 20; Albers in Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann, Zivilprozeßordnung, 48. Aufl., § 551 Anm. 6). Das entsprechende Recht eines Beteiligten wird z. B. verletzt, wenn weder er selbst noch sein Prozeßbevollmächtigter zur mündlichen Verhandlung vor dem FG geladen war (ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH -, z. B. Urteil vom 15. November 1974 VI R 107/74, BFHE 114, 457, BStBl II 1975, 335; Beschluß vom 11. April 1978 VIII R 215/77, BFHE 125, 28, BStBl II 1978, 401; Gräber / Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 119 Rdnr. 19, m. w. N.; Offerhaus, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1975, 2313, 2314) oder wenn die mündliche Verhandlung zu einem anderen als dem in der Ladung bestimmten Zeitpunkt durchgeführt wird (vgl. BVerwG-Urteil vom 1. Dezember 1982 9 C 486.82, BVerwGE 66, 311, 312) und deshalb niemand für den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung auftreten kann. Eine solche Rechtsverletzung liegt ferner vor, wenn das FG - wie im Streitfall geschehen - einen anwesenden Bevollmächtigten übergeht, so daß in der mündlichen Verhandlung niemand für den Beteiligten auftritt.
2. Das FG hat das Recht der Klägerin auf Vertretung (§ 62 Abs. 1 FGO, § 85 Abs. 1 Satz 1 ZPO i. V. m. § 155 FGO, § 164 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) in der mündlichen Verhandlung dadurch verletzt, daß es die B-GmbH, der von der Klägerin schriftlich Prozeßvollmacht (§ 62 Abs. 3 FGO) erteilt war, im Termin zur mündlichen Verhandlung am 29. August 1984 als Prozeßbevollmächtigte übergangen hat. Sowohl in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung als auch im Rubrum des hierauf ergangenen Urteils ist für die Klägerin die B-GmbH nicht als Prozeßbevollmächtigte bezeichnet worden (§ 94 FGO, § 160 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 ZPO), obwohl sie vom FG weiter als Prozeßbevollmächtigte der Klägerin hätte berücksichtigt werden müssen. Die der B-GmbH von der Klägerin erteilte Prozeßvollmacht bestand nämlich gegenüber dem FG fort. Selbst wenn der der Vollmacht zugrunde liegende sachlich-rechtliche Geschäftsbesorgungsvertrag gekündigt worden sein sollte, wirkte die Prozeßvollmacht gegenüber dem FG solange fort, bis diesem das Erlöschen der Vollmacht von der Klägerin oder von einem durch sie Bevollmächtigten angezeigt worden wäre (vgl. dazu BFH-Beschluß vom 27. April 1971 II 59/65, BFHE 101, 469, BStBl II 1971, 403; BVerwG-Urteil vom 13. Dezember 1982 9 C 894.80, NJW 1983, 2155; Gräber / Koch, a.a.O., § 62 Rdnr. 69; Hartmann in Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann, a.a.O., § 87 Anm. 2, § 80 Anm. 1 B). Eine solche Anzeige lag dem FG nicht vor. Sie war weder in den - nicht an das FG gerichteten - Fernschreiben der B-GmbH an die S-GmbH vom 27. und 28. August 1984 enthalten noch der - vom FG nicht anerkannten - Vollmacht für die S-GmbH zu entnehmen.
Dementsprechend hätte das FG die Feststellung der Anwesenheit und die entsprechende Beurkundung in der Niederschrift von vornherein auf die B-GmbH als Prozeßbevollmächtigte der Klägerin abstellen müssen. Die Berücksichtigung der B-GmbH als Prozeßbevollmächtigte der Klägerin war aber jedenfalls dann unumgänglich, als das FG bei der Fortsetzung der unterbrochenen mündlichen Verhandlung um 11.55 Uhr sich entschlossen hatte, die S-GmbH nicht - auch nicht einstweilen - als Prozeßbevollmächtigte der Klägerin zuzulassen. Die Sitzungsniederschrift enthält keinen Hinweis darauf, daß dies vom FG unternommen worden wäre (§ 94 FGO, § 165 ZPO). Auf die Rüge der Klägerin, daß das FG den Steuerberater A hätte einstweilen zulassen müssen, kommt es nicht mehr an.
Die Verletzung des Rechts der Klägerin auf Vertretung im Verfahren (§ 119 Nr. 4 FGO) führt ohne weitere Kausalitätsprüfung zur Aufhebung der Vorentscheidung (vgl. BFH-Urteil vom 14. Dezember 1971 VIII R 13/67, BFHE 104, 491, BStBl II 1972, 424; Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 28. Juni 1983 KVR 7/82, NJW 1984, 494).
Fundstellen