Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Unkenntnis der Antragsfrist nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG
Leitsatz (NV)
Hat ein Steuerpflichtiger die Frist für den Antrag auf Veranlagung gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG ohne Verschulden nicht gekannt, kann ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sein.
Normenkette
AO 1977 § 110; EStG § 46 Abs. 2 Nr. 8
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) gaben ihre Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1998 am 7. März 2001 beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) ab. Nach der Steuererklärung erzielte der Kläger Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und aus Kapitalvermögen. Am 9. März 2001 beantragten die Kläger wegen Versäumung der Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung trugen sie vor, sie seien irrtümlich davon ausgegangen, dass für die Einkommensteuererklärung die "übliche Frist gemäß der Abgabenordnung" gelte. Aufgrund eines Auslandsaufenthalts in der Zeit vom 17. Oktober bis zum 30. Dezember 2000 sei der Auftrag zur Erstellung der Einkommensteuererklärung ihren jetzigen Prozessbevollmächtigten erst am 19. Februar 2001 erteilt worden. Bei diesem Termin sei der Kläger über den Fristablauf informiert worden. Vor diesem Zeitpunkt hätten die Kläger über die Frist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG keine Kenntnis gehabt. Das FA lehnte den Antrag auf Veranlagung zur Einkommensteuer ab. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährte es nicht.
Das Finanzgericht (FG) gab der nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2004, 506 veröffentlichten Gründen statt. Das FA habe den Klägern zu Unrecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verwehrt. Nach Befragung der Kläger in der mündlichen Verhandlung sei das Gericht überzeugt, dass den Klägern die Ausschlussfrist für die Antragsveranlagung bis zum 19. Februar 2001 nicht bekannt gewesen sei. Die Kläger seien aufgrund der ihnen von ihrem Steuerberater erteilten Information, dass ihnen längstens eine vierjährige Frist für die Abgabe der Steuererklärung zur Verfügung stehe, irrtümlich von einer entsprechend langen Abgabefrist ausgegangen. Deshalb hätten sie auch keinen Anlass gehabt, sich über die Abgabefrist zu erkundigen. Selbst wenn zu Gunsten des FA unterstellt werde, dass die Kläger die "Anleitung zur Einkommensteuererklärung 1998" und den üblicher Weise mit der Lohnsteuerkarte versandten "Kleinen Ratgeber für Lohnsteuerzahler" erhalten hätten, was streitig geblieben sei, führe dies nicht zu einem Verschulden der Kläger. Die Hinweise in beiden Anleitungen erschlössen ihre Bedeutung nur demjenigen Steuerbürger, der genügend Fachkenntnisse besitze, um zwischen einer Pflichtveranlagung mit verlängerbarer Abgabefrist und einer Antragsveranlagung mit nicht verlängerbarer Ausschlussfrist zu unterscheiden. Für denjenigen, der --wie die Kläger-- nicht wisse, ob er zum Kreis der Pflichtveranlagten oder der Antragsveranlagten gehöre, seien die Hinweise ohne Aussagewert. Wegen ihrer für steuerliche Laien mangelnden Eindeutigkeit fehle den Hinweisen die Eignung, dem Steuerpflichtigen die notwendigen Kenntnisse über die von ihm zu beachtenden steuerlichen Pflichten zu verschaffen.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung materiellen Rechts. Das FG habe § 110 der Abgabenordnung (AO 1977) fehlerhaft angewendet. Die bloße Unkenntnis von der Ausschlussfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG bzw. vom Unterschied zwischen Amts- und Antragsveranlagung sei nicht geeignet, einen Wiedereinsetzungsantrag zu begründen.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision des FA ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Das FG hat das FA zu Recht verpflichtet, die Kläger für das Streitjahr zur Einkommensteuer zu veranlagen.
1. Besteht das Einkommen ganz oder teilweise aus Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, von denen ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, wird eine Veranlagung nur unter den in § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 8 EStG genannten Voraussetzungen durchgeführt. Nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG wird die Veranlagung durchgeführt, wenn sie beantragt wird. Der Antrag ist gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG bis zum Ablauf des auf den Veranlagungszeitraum folgenden zweiten Kalenderjahrs durch Abgabe einer Einkommensteuererklärung zu stellen.
Im Streitfall haben die Kläger innerhalb der Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG, die mit Ablauf des Jahres 2000 endete, keinen Antrag auf Veranlagung gestellt. Die Einkommensteuererklärung für das Streitjahr ging dem FA erst am 7. März 2001 zu.
2. Den Klägern ist wegen Versäumung der Antragsfrist jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wie das FG zutreffend erkannt hat. Nach den Grundsätzen des Urteils des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 22. Mai 2006 VI R 51/04 ist die Entscheidung der Vorinstanz, die Kläger seien ohne Verschulden an der Einhaltung der Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG gehindert gewesen, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Das FG ist nach Befragung der Kläger zu der Überzeugung gelangt, die Antragsfrist sei ihnen bis zum 19. Februar 2001 nicht bekannt gewesen. Damit befanden sich die Kläger in einem Irrtum über die Frist selbst. Die Würdigung des FG, die Kläger treffe hinsichtlich dieses Irrtums kein Verschulden, ist möglich. Sie verstößt weder gegen Denkgesetze noch gegen Erfahrungssätze, so dass der Senat hieran mangels zulässiger und begründeter Revisionsrügen gemäß § 118 Abs. 2 FGO gebunden ist. Ob der Steuerpflichtige unter den gegebenen Umständen ohne Verschulden gehandelt hat, ist im Wesentlichen Tatfrage. Zwar kann nach der Rechtsprechung des BFH sogar grobes Verschulden z.B. dann anzunehmen sein, wenn es ein Steuerpflichtiger unterlässt, das Einkommensteuerformular und den dazu gehörenden Erläuterungstext im Einzelnen durchzulesen und Erläuterungen, die den Erklärungsformularen beigefügt sind, zu beachten. Das gilt jedenfalls dann, wenn die Anforderungen an die Mitwirkung klar erkennbar und die Erläuterungen hierzu leicht verständlich abgefasst sind und auf die besondere Situation eingehen, an die die Mitwirkungspflicht anknüpft (vgl. BFH-Urteil vom 21. Januar 2004 VIII R 15/02, BFH/NV 2004, 910). Diese rechtlichen Maßstäbe hat das FG entgegen der Ansicht des FA nicht verkannt. Die für den Streitfall vom FG als entscheidungserheblich angesehene und bejahte Frage, ob tatsächlich von einer fehlenden Verständlichkeit der Anleitung zur Einkommensteuererklärung auszugehen und damit ein Verschulden zu verneinen sei, betrifft allein die tatsächliche Würdigung des FG (vgl. BFH-Beschluss vom 2. März 2005 IX B 176/03, BFH/NV 2005, 1577). Diese kann revisionsrechtlich nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass das FA seine eigene, abweichende Würdigung zu Klarheit und Verständlichkeit der Anleitung an die Stelle der Würdigung des FG setzt. Soweit das FA geltend macht, die Kläger hätten sich über die Existenz der Abgabefrist informieren müssen, überspannt das FA die an die Kläger zu stellenden Sorgfaltsanforderungen. Denn nach der Rechtsprechung des BFH begründet die mangelnde Kenntnis über verfahrensrechtliche Fristen grundsätzlich nur bei berufsmäßigen Vertretern einen Verschuldensvorwurf (BFH-Urteile vom 23. August 1995 II R 97/92, BFH/NV 1996, 358, und vom 27. August 1998 III R 47/95, BFHE 187, 134, BStBl II 1999, 65).
Bei dieser Sachlage kommt es auf die Frage, ob die Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG mit dem Grundgesetz überhaupt vereinbar ist, nicht mehr an.
Fundstellen
Haufe-Index 1621616 |
BFH/NV 2007, 1 |
HFR 2007, 67 |