Leitsatz (amtlich)
1. Die Bestimmung des § 230 Abs. 3 Nr. 2 AO a. F., wonach Entscheidungen der Zulassungsausschüsse der OFD nicht mit der Beschwerde angreifbar sind, ist auf Entscheidungen der Prüfungsausschüsse der OFD entsprechend anwendbar.
2. In der mündlichen Steuerbevollmächtigtenprüfung sind an den Bewerber Fragen aus sämtlichen Prüfungsgebieten zu stellen.
2. Der Streitwert in Streitigkeiten, in denen es um das Bestehen der Steuerbevollmächtigtenprüfung geht, beträgt 10 000 DM. Geht es um die Wiederholung der mündlichen Prüfung, so beträgt der Streitwert 5 000 DM.
Normenkette
AO § 230 Abs. 3 Nr. 2 a. F; DVStBerG § 10 Abs. 3, § 11; FGO § 44 Abs. 1; GKG § 13
Tatbestand
I.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) unterzog sich nach ihrer Zulassung zur Steuerbevollmächtigtenprüfung 1974 vom 7. bis 9. Oktober 1974 dem schriftlichen Teil der Prüfung. Die von ihr geschriebenen drei Arbeiten wurden mit 3, 4 und 4 bewertet (Durchschnittsnote 3,66). Am 3. Februar 1975 fand die mündliche Prüfung statt. Die mündlichen Prüfungsleistungen der Klägerin wurden wie folgt bewertet:
Vortrag5
Regierungsdirektor A5
Regierungsdirektor B4
Regierungsrat C4
Steuerberater D5
Steuerberater E5
Durchschnitt4,66
Da sich als Mittelwert der Durchschnittsnoten für die schriftlichen und mündlichen Prüfungsleistungen der Klägerin die Endnote 4,16 ergab, wertete der Prüfungsausschuß die Prüfung als nicht bestanden. Dies wurde ihr im Anschluß an die mündliche Prüfung am 3. Februar 1975 mitgeteilt.
Gegen diese Entscheidung des Prüfungsausschusses erhob die Klägerin Klage.
Das FG Hamburg hob die Prüfungsentscheidung durch Urteil vom 20. August 1975 III 41/75 (EFG 1976, 158) auf und verpflichtete die Beklagte und Revisionsklägerin (OFD), den mündlichen Teil der Steuerbevollmächtigtenprüfung 1974 für die Klägerin erneut durchzuführen.
Mit der Revision rügt die OFD Verstoß gegen das materielle Recht.
Die OFD führt aus, aus der Wortfassung des § 10 Abs. 3 Satz 2 DVStBerG könne nicht abgeleitet werden, daß alle in § 11 Abs. 2 DVStBerG angeführten Prüfungsgebiete Gegenstand der mündlichen Prüfung sein müßten. Die gegenteilige Auslegung des FG verstoße gegen die Gesamtkonzeption der Steuerbevollmächtigtenprüfung.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist nicht begründet.
1. Im Ergebnis zu Recht hat das FG die Klage ohne Durchführung eines Vorverfahrens für zulässig gehalten; denn ein außergerichtlicher Rechtsbehelf war im vorliegenden Fall nicht gegeben (vgl. § 44 Abs. 1 FGO). Der Einspruch schied aus, weil die Entscheidung des Prüfungsausschusses keine Verfügung i. S. des § 229 AO ist. Die Beschwerde war nach § 230 Abs. 3 Nr. 2 AO a. F. nicht gegeben. Zwar schloß diese Bestimmung die Beschwerde nur hinsichtlich von "Entscheidungen des Zulassungsausschusses der Oberfinanzdirektionen in Angelegenheiten des Steuerberatungsgesetzes" aus, während es sich hier um eine Entscheidung des Prüfungsausschusses der OFD handelte. § 230 Abs. 3 Nr. 2 AO a. F. ist im vorliegenden Fall jedoch entsprechend anzuwenden (vgl. Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 1. Februar 1972 II 120/71, EFG 1972, 205; anderer Ansicht Urteil des Schleswig-Holsteinischen FG vom 28. Juli 1971 II 3/69, EFG 1972, 44).
Sinn der Regelung des § 230 Abs. 3 Nr. 2 AO a. F. war, die Unabhängigkeit der Zulassungsausschüsse zu wahren. Mit dieser wäre es nicht zu vereinbaren gewesen, wenn die Ausschußentscheidungen von einer übergeordneten Behörde hätten kontrolliert und korrigiert werden können. Außerdem sollte durch diese Regelung eine Gleichstellung der Steuerbevollmächtigten-Zulassungsausschüsse, die bei den OFD bestehen, mit den Steuerberater-Zulassungsausschüssen erreicht werden, die bei den obersten Landesbehörden eingerichtet worden sind und deren Entscheidungen schon nach der Regelung des § 230 Abs. 3 Nr. 1 AO nicht mit der Beschwerde angreifbar sind. Die gleichen Gründe treffen auch für die Steuerbevollmächtigten-Prüfungsausschüsse bei den OFD zu. Diese Ausschüsse bedürfen sogar noch in höherem Maße der Unabhängigkeit, da sie im Gegensatz zum Zulassungsausschuß im Regelfall keine Rechtsfragen zu entscheiden haben, sondern pädagogische Werturteile über geistige Leistungen fällen, die schon ihrer Natur nach schwerlich der Überprüfung durch die OFD als Beschwerdeinstanz unterworfen werden können. Für die Zulässigkeit der analogen Anwendung des § 230 Abs. 3 Nr. 2 AO a. F. auf die Prüfungsausschüsse bei den OFD spricht im übrigen, daß diese Vorschrift inzwischen durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes (BGBl I 1975, 1509) entsprechend ergänzt worden ist (vgl. auch die Begründung der Bundesregierung zum entsprechenden Vorschlag, Bundestagsdrucksache 7/2852 S. 58).
2. Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats können Prüfungsentscheidungen u. a. nur darauf nachgeprüft werden, ob die für die Prüfung geltenden Verfahrensbestimmungen eingehalten worden sind. Das ist im vorliegenden Fall nicht geschehen, wie das FG zu Recht erkannt hat. Die Verfahrensbestimmungen sind dadurch verletzt worden, daß der Prüfungsausschuß unter Verletzung des § 10 Abs. 3 Satz 2 i. V. m. § 11 Abs. 2 DVStBerG die mündliche Prüfung nicht auf alle Prüfungsgebiete erstreckt hat. Nach den Feststellungen des FG sind in der mündlichen Prüfung an die Klägerin keine Fragen aus dem Prüfungsgebiet "Grundzüge des bürgerlichen Rechts, insbesondere des Rechts der Schuldverhältnisse und des Sachenrechts, sowie Grundzüge des Handels- und Gesellschaftsrechts" (vgl. § 11 Abs. 2 Nr. 3 DVStBerG) gestellt worden.
Nach § 10 Abs. 3 Satz 2 DVStBerG sind nach dem Vortrag "an den Bewerber Fragen aus den Prüfungsgebieten zu richten". Nach § 11 Abs. 2 DVStBerG "erstreckt sich" die Steuerbevollmächtigtenprüfung auf vier näher bezeichnete Prüfungsgebiete. Diese Vorschriften sind dahin auszulegen, daß alle vier Prüfungsgebiete zum Gegenstand der mündlichen Prüfung jedes einzelnen Bewerbers gemacht werden müssen, und zwar unabhängig davon, daß zwei von ihnen bereits Thema der schriftlichen Prüfung waren (vgl. § 11 Abs. 3 DVStBerG) und daß auch das Thema des Vortrags des Bewerbers ein Fachgegenstand war (§ 10 Abs. 3 Satz 1 DVStBerG).
Diese Auslegung liegt im Rahmen des möglichen Wortsinns der genannten Bestimmungen. Die Tatsache, daß der Verordnungsgeber zum Teil von "Prüfungsgebieten" (§ 10 Abs. 3 Satz 2), zum Teil nur von "Gebieten" (§ 11 Abs. 2) spricht, ist kein Argument gegen diese Wortauslegung. Entgegen der Auffassung der OFD kann aus dieser Wortwahl nicht geschlossen werden, daß der Verordnungsgeber unter "Prüfungsgebieten" die in den einzelnen Nummern des § 11 Abs. 2 DVStBerG genannten zusammenfassenden Rechtsgebiete verstand und unter "Gebieten" jeweils die einzelnen unter die Zusammenfassung fallenden Rechtsgebiete. Das ergibt sich schon daraus, daß sich der Verordnungsgeber selbst in § 12 Satz 1 DVStBerG nicht an diese ihm unterstellte Begriffswahl gehalten hat; dort hat er zweifellos den Begriff "Gebiet" für ein zusammenfassendes Rechtsgebiet gebraucht. Entgegen der Auffassung der OFD ist es auch nicht zulässig, aus § 11 Abs. 3 DVStBerG, in dem die in den Klausuren zu behandelnden Prüfungsgebiete vorgeschrieben sind, den Schluß zu ziehen, daß der Prüfungsausschuß im übrigen frei sein soll, die Prüfungsgebiete für die mündliche Prüfung nach Ermessen auszuwählen. § 11 Abs. 3 DVStBerG ist eine Sonderregelung für die schriftliche Prüfung, aus der sich weder Analogie- noch Umkehrschlüsse ziehen lassen.
Sinn und Zweck der genannten Bestimmungen bestätigen die oben dargelegte Wortauslegung. Gegenstand der Steuerbevollmächtigtenprüfung sind nach der Durchführungsverordnung die vier großen Gebiete Abgabenrecht, Betriebswirtschaft, Privatrecht und Berufsrecht. Nur wer Kenntnisse auf allen diesen Gebieten besitzt, kann als befähigt angesehen werden, die beruflichen Aufgaben eines Steuerbevollmächtigten zu erfüllen. Es muß daher davon ausgegangen werden, daß der Verordnungsgeber den Prüfungsausschuß verpflichten wollte, in der mündlichen Prüfung Fragen aus jedem einzelnen dieser Rechtsgebiete zu stellen. Die Prüfung soll jedem Bewerber auch Gelegenheit geben darzutun, daß er die Befähigung zum Beruf des Steuerbevollmächtigten hat. Diese Gelegenheit wird ihm aber genommen oder erschwert, wenn der Prüfungsausschuß in der mündlichen Prüfung eines oder gar mehrere der Prüfungsgebiete ausspart. Der Bewerber hat dann keine Möglichkeit mehr, Schwächen auf einem Prüfungsgebiet durch Stärken auf einem anderen auszugleichen.
Diese Forderung beeinträchtigt die Praktikabilität der Prüfung nicht. Es ist praktisch durchaus möglich, in der zur Verfügung stehenden Zeit (vgl. § 21 Abs. 3 DVStBerG) alle vier Prüfungsgebiete zu behandeln, zumal nichts dagegen einzuwenden ist, wenn der Ausschuß den einzelnen Gebieten unterschiedliche Zeit widmet. Daran ändert auch die Erwägung nichts, daß es dem Prüfungsausschuß unmöglich ist, jeweils den gesamten Prüfungsstoff eines Prüfungsgebietes im Verlauf einer mündlichen Prüfung abzufragen. Bei dem sehr umfangreichen Prüfungsgebiet des Abgabenrechts scheidet das beispielsweise von vornherein aus. Es ist daher auch nicht zu beanstanden, wenn der Prüfungsausschuß insoweit jeweils eine Auswahl trifft. Dagegen wäre es mit der Regelung der Verordnung nicht vereinbar, wenn der Ausschuß in der mündlichen Prüfung an einen Bewerber überhaupt keine Frage beispielsweise aus dem Abgabenrecht stellte. Dann hätte sich die mündliche Prüfung auf dieses Gebiet nicht i. S. des § 11 Abs. 2 DVStBerG erstreckt.
Diese Auslegung ist unabhängig von der Frage, ob die vier Prüfungsgebiete gleichrangig sind. Auch wenn man die Bedeutung der Prüfungsgebiete im Hinblick auf die beruflichen Aufgaben des Steuerbevollmächtigten unterschiedlich einschätzt, bedeutet das noch kein Hindernis, auch die weniger wichtigen Gebiete in die mündliche Prüfung einzubeziehen.
Etwas anderes ergibt sich schließlich auch nicht aus dem Sinn einer mündlichen Prüfung. Gewiß soll sie vorwiegend eine Verständnisprüfung sein und den Ausschuß in die Lage versetzen, sich unmittelbar ein zuverlässiges Bild von der Persönlichkeit des Bewerbers und seiner Fähigkeit zu verschaffen, sein Fachwissen methodisch richtig anzuwenden. Wäre dies die einzige Aufgabe der mündlichen Prüfung, so reichte in der Tat die Behandlung weniger, gut ausgewählter exemplarischer Fälle aus, um die entsprechende Befähigung des Bewerbers festzustellen. Die mündliche Prüfung soll aber auch dem Prüfungsausschuß die Möglichkeit verschaffen, sich ein Bild vom Wissen der Bewerber auf allen vier Prüfungsgebieten zu verschaffen. Dazu gehört, daß der Ausschuß die mündliche Prüfung auch auf alle diese Gebiete erstreckt.
Der Prüfungsausschuß hat durch die Nichteinbeziehung des Prüfungsgebietes des § 11 Abs. 2 Nr. 3 DVStBerG in die mündliche Prüfung der Klägerin die für die Prüfung geltenden Verfahrensbestimmungen verletzt. Die angefochtene Entscheidung des Ausschusses, durch die die Prüfung für nicht bestanden erklärt wurde, kann auch auf diesem Fehler beruhen. Denn es ist nicht auszuschließen, daß die Klägerin, wäre sie auch noch auf dem ausgesparten Prüfungsgebiet befragt worden, ihre Note so verbessert hätte, daß sie eine Gesamtnote erreicht hätte, die nach § 22 DVStBerG für das Bestehen der Prüfung ausgereicht hätte. Das FG hat daher zu Recht die angefochtene Entscheidung aufgehoben und die OFD für verpflichtet erklärt, den mündlichen Teil der Steuerbevollmächtigtenprüfung 1974 für die Klägerin erneut durchzuführen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
3. Bei Entscheidung über den Streitwert ist von den Grundsätzen des BFH-Beschlusses vom 3. Februar 1976 VII B 54/75 (BFHE 118, 145, BStBl II 1976, 383) auszugehen, in dem der Senat erkannt hat, daß der Streitwert in Streitigkeiten, in denen es um die Zulassung zur Steuerbevollmächtigtenprüfung geht, 8 000 DM beträgt. Zwar beruht diese Entscheidung noch auf altem Recht. Bei Zugrundelegung des im vorliegenden Verfahren anzuwendenden § 13 des Gerichtskostengesetzes, der auf die sich für die Klägerin nach ihrem Antrag ergebende Bedeutung der Sache abstellt, kann jedoch nichts anderes gelten. Im finanzgerichtlichen Verfahren hat die Klägerin den Antrag gestellt, den Prüfungsausschuß zu verpflichten, die Prüfung für bestanden zu erklären. Es ging also ― anders als in dem zitierten Beschluß ― nicht um die Zulassung zur Prüfung, sondern um die Prüfung selbst, die, wenn sie für bestanden erklärt wird, unmittelbar den Zugang zum Beruf eines Steuerbevollmächtigten eröffnet. Es ist daher angemessen, den Streitwert hier höher zu bemessen, nämlich mit 10 000 DM. Das gilt jedoch nur für das finanzgerichtliche Verfahren. Im Verfahren vor dem BFH ging es nur noch um die Frage, ob die OFD verpflichtet war, die Klägerin erneut mündlich zu prüfen. Es erscheint angemessen, hier den Streitwert auf die Hälfte des im finanzgerichtlichen Verfahren gültigen Streitwerts zu bemessen.
Fundstellen
Haufe-Index 71983 |
BStBl II 1976, 735 |
BFHE 1977, 364 |