Überdenkungsverfahren in schriftlicher Steuerberaterprüfung

Der BFH hat klargestellt, dass schriftliche Prüfungsarbeiten auch ohne Verwendung eines anonymisierten Kennzahlensystems durchgeführt werden können. Des Weiteren hebt der BFH hervor, dass das Überdenkungsverfahren eine eigenständige und unabhängige Überprüfung durch die hierfür zuständigen Prüfer erfordert und dass eine gemeinsam abgestimmte Überdenkung von Klausuren durch eine Prüfermehrheit unzulässig ist.

Hintergrund: Gesetzliche Regelungen

Die zuständige Steuerberaterkammer bestimmt in der Ladung zur schriftlichen Prüfung, ob die Arbeiten mit der Anschrift und der Unterschrift des Bewerbers oder mit der zugeteilten Kennzahl zu versehen sind (§ 18 Abs. 1 Satz 4 DVStB).

Bei der Prüfung ist jede der drei zu fertigenden Aufsichtsarbeiten von mindestens zwei Prüfern (Erst- und Zweitprüfer) persönlich zu bewerten. Dem Zweitprüfer kann die Bewertung des Erstprüfers mitgeteilt werden; dies gilt entsprechend, wenn weitere Prüfer bestimmt sind. Weichen die Bewertungen einer Arbeit nicht voneinander ab, gilt der von den Prüfern übereinstimmend ermittelte Notenvorschlag als Note des Prüfungsausschusses (§ 24 Abs. 2 und 3 DVStB).

Der Bewerber ist von der mündlichen Prüfung ausgeschlossen, wenn die Gesamtnote für die schriftliche Prüfung die Zahl 4,5 übersteigt; er hat die Prüfung nicht bestanden (§ 25 Abs. 2 DVStB).

Die Prüfer sind verpflichtet, ihre Bewertung der Prüfungsleistungen zu überdenken, wenn dies von einem Bewerber, der die Prüfung nicht bestanden hat, mit begründeten Einwendungen bei der zuständigen Steuerberaterkammer schriftlich beantragt wird und die Entscheidung über das Ergebnis der Prüfung noch nicht bestandskräftig ist (§ 29 Abs. 1 Satz 1 DVStB).

Sachverhalt: Teilnehmerin hat Steuerberaterprüfung nicht bestanden

Die Klägerin nahm an der Steuerberaterprüfung teil. Auf den schriftlichen Klausuren musste sie ihren Namen angeben, der somit den Korrektoren bei der Bewertung bekannt war. Weil ihre schriftlichen Prüfungsleistungen nicht ausreichend waren, ließ die prüfende Steuerberaterkammer die Klägerin nicht zur mündlichen Prüfung zu. Sie beantragte daraufhin – parallel zum angestrengten Klageverfahren, die Bewertung aller Klausuren im Rahmen eines Überdenkungsverfahrens zu überprüfen.

Das Überdenkungsverfahren führte nicht zum Erfolg, weil die Prüfer an ihrer Benotung festhielten. Die Prüfer gaben dabei u. a. folgende Stellungnahme zu den Einwendungen der Klägerin ab:

Der Erstkorrektor der Klausur „Steuern vom Einkommen und Ertrag“ stellte in seiner Stellungnahme eingangs fest: „Ich nehme in Abstimmung mit dem Zweitkorrektor … wie folgt Stellung …“. Das Ergebnis der Überdenkung lautete zusammengefasst, dass angesichts grundlegender Defizite in der Summe nicht mehr als die Note 4,50 vergeben werden könne. Der Zweitkorrektor erklärte hierzu am Ende der Stellungnahme schriftlich: „Ich habe die Stellungnahme des Erstkorrektor mit diesem abgestimmt und stimme der darin enthaltenen Bewertung vollinhaltlich zu.“

Im finanzgerichtlichen Verfahren begehrte die Klägerin ohne Erfolg eine Neubewertung ihrer Aufsichtsarbeiten durch andere Prüfer unter Beachtung der Rechtsauffassung des FG sowie unter Wahrung ihrer Anonymität.

Entscheidung: Revision führt zur Aufhebung des FG-Urteils

Der BFH hat die durch die Steuerberaterkammer vertretene, für die Finanzverwaltung zuständige oberste Landesbehörde (Beklagte) verpflichtet, die von der Klägerin angefertigte Aufsichtsarbeit „Steuern vom Einkommen und Ertrag“ unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts durch andere Prüfer neu bewerten zu lassen und unter Berücksichtigung der Neubewertung einen neuen Bescheid über das Ergebnis der schriftlichen Steuerberaterprüfung zu erlassen. Im Übrigen hat er die Revision als unbegründet zurückgewiesen.

Gemeinsam abgestimmte Überdenkung von Klausuren unzulässig

Prüfungsentscheidungen können gerichtlich nur beschränkt überprüft werden. Prüferische Bewertungen sind von den Erfahrungen und Wertvorstellungen des einzelnen Prüfers abhängig und damit unvertretbare höchstpersönliche Urteile. Das Gericht kann daher nur prüfen, ob die Prüfungsentscheidung an fachlichen Beurteilungsmängeln leidet, ob die Prüfer den prüferischen Bewertungsspielraum überschritten haben und ob die für die Prüfung maßgebenden Verfahrensbestimmungen eingehalten worden sind.

Das in § 29 DVStB vorgesehene Überdenkungsverfahren im Steuerberaterexamen gibt dem Prüfling die Möglichkeit, eine erneute Überprüfung seiner Examensergebnisse durch die jeweiligen Prüfer zu beantragen, falls er Zweifel an der Richtigkeit der Bewertung hat und sich dagegen wehren möchte.

Zwar enthält § 29 DVStB keine weiteren Regelungen zur Ausgestaltung des Überdenkungsverfahrens. Das BVerwG hat insofern – indes in Zusammenhang mit der Juristenausbildung – zutreffend entschieden, dass das in Art. 12 Abs. 1 GG verankerte Erfordernis der eigenständigen und unabhängigen Urteilsbildung der Prüfer durch eine Verfahrensgestaltung verletzt wird, die es den Prüfern im Rahmen des Überdenkungsverfahrens ermöglicht, eine gemeinsame Stellungnahme zu den Einwänden des Prüflings auf Grundlage eines entsprechenden, vom Erstprüfer gefertigten Entwurfs und einer nachfolgenden Beratung zwischen ihnen abzugeben, die stattfindet, ohne dass die Prüfer zuvor das Ergebnis ihres Überdenkens schriftlich niedergelegt haben.

Abstimmung und Beratung allenfalls im Nachgang zulässig

Eine Abstimmung und Beratung über die zu vergebende Note ist allenfalls im Nachgang hierzu zulässig. Den Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 GG wird nur dann genügt, wenn Prüfungsleistungen, deren Bewertung intensiv in die Freiheit der Berufswahl eingreift, einer Bewertung durch zwei oder mehr Prüfer zugeführt werden. Der objektivitätssteigernde Effekt der Einschaltung einer Prüfermehrheit würde aber durch Zulassung gemeinsamer Beurteilungen zu einem erheblichen Teil wieder zunichte gemacht. Jeder Prüfer muss seine Bewertungen vielmehr eigenständig überdenken. Diese Erwägungen gelten ebenso für die Überdenkung im Rahmen des Steuerberaterexamens, da es sich desgleichen um eine berufsbezogene Abschlussprüfung handelt.

Zu der Klausur „Steuern vom Einkommen und Ertrag“ haben die Prüfer eine untereinander abgestimmte Stellungnahme abgegeben. Ein Zweitprüfer muss sein Bewertungsergebnis zwar nicht eigenständig begründen, wenn er mit der Erstbewertung voll inhaltlich übereinstimmt. Dem Anspruch auf eigenständiges Überdenken wird allerdings dann nicht mehr genügt, wenn sich der Zweitkorrektor – wie er im Streitfall erklärt hat – darauf beschränkt, die Stellungnahme des Erstkorrektors mit diesem abzustimmen anstatt die von ihm vorgenommenen Bewertungen autonom einer Überprüfung zu unterziehen.

Aus diesem Verfahrensfehler im Überdenkungsverfahren folgt im Streitfall die Rechtswidrigkeit der Bewertung der betreffenden Aufsichtsarbeit, was einen Anspruch der Klägerin auf Neubewertung durch noch nicht damit befasste Prüfer begründet.

Anonymitätsgrundsatz nicht verletzt

Die auf eine Verletzung des Anonymitätsgrundsatzes gestützte Argumentation der Klägerin konnte der Revision nicht zum Erfolg verhelfen. Das von der Beklagten gewählte Verfahren, die Aufsichtsarbeiten namentlich zu kennzeichnen anstatt vor den Prüfern anonymisierte Kennzahlen zu verwenden, ist zulässig und begegnet – auch mit Blick auf das Verbot geschlechtsspezifischer Diskriminierung – keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. § 18 Abs. 1 Satz 4 DVStB sieht die Möglichkeit einer nicht anonymisierten Klausurkorrektur ausdrücklich vor. Danach bestimmt die zuständige Steuerberaterkammer, ob die Aufsichtsarbeiten mit der Anschrift und der Unterschrift des Bewerbers oder mit einer zugeteilten Kennzahl zu versehen sind. Diese zulässigerweise auf Grundlage der § 158 Nr. 1 Buchst. b und § 37b StBerG in einer Rechtsverordnung getroffene Regelung ist mit höherrangigem Recht vereinbar.

Hinweis: Unterschiedliche Ausgestaltung ist Ländersache

Verfassungsrechtlich unbedenklich ist insofern auch, dass das Prüfungsverfahren in den einzelnen Bundesländern – trotz bundeseinheitlicher Prüfung – unterschiedlich ausgestaltet ist, weil zahlreiche Steuerberaterkammern sich auf Grundlage des § 18 Abs. 1 Satz 4 DVStB für eine Anonymisierung entschieden haben. Denn nach den verfassungsrechtlichen Grundlagen sind unterschiedlich behandelte Personengruppen nicht vergleichbar, wenn sie nicht derselben Rechtssetzungsgewalt unterfallen, also bei unterschiedlichen Regelungen durch Landesrecht. Im Bereich der Länderzuständigkeit müssen länderübergreifend keine identischen Regelungen bestehen.

BFH, Urteil v. 17.11.2023, VII R 10/20; veröffentlicht am 30.11.2023

Alle am 30.11.2023 veröffentlichten Entscheidungen des BFH mit Kurzkommentierungen



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