Leitsatz (amtlich)
Hat ein mit schweren Mißbildungen zur Welt gekommenes Kind nur wenige Tage gelebt, kommt die Gewährung des erhöhten Pauschbetrages i. S. von § 65 Abs. 1 letzter Satz EStDV 1971 nur dann in Betracht, wenn bei dem Kind infolge der Körperbehinderung eine besondere Wartungs- und Pflegebedürftigkeit vorliegt, die die bei allen Kindern derselben Altersstufe regelmäßig bestehende Hilflosigkeit dauernd wesentlich übersteigt. Diese Voraussetzung muß in dem gemäß § 65 Abs. 3 EStDV vorgesehenen Nachweis ausdrücklich bescheinigt sein.
Normenkette
EStG 1971 § 33a Abs. 6; EStDV 1971 § 65 Abs. 1, 5
Tatbestand
Die Tochter des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) wurde am 25. Mai 1971 mit multiplen Mißbildungen und Gelbsucht geboren. Sie verstarb am 31. Mai 1971 in einer Kinderklinik, in die sie von der Kinderabteilung der Entbindungsstation eingeliefert worden war.
Der Kläger beantragte in seiner Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1971, ihm für das Kind den Pauschbetrag von 4 800 DM gemäß § 65 Abs. 1 letzter Satz, Abs. 5 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung 1971 (EStDV) i. V. m. § 33 a Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes 1971 (EStG) zu gewähren. Zum Nachweis der Minderung der Erwerbsfähigkeit und der dauernden Hilflosigkeit und Pflegebedürftigkeit legte er eine amtsärztliche Bescheinigung des Hauptgesundheitsamtes vom 13. Dezember 1974 vor. Diese stützt sich auf einen Bericht der Kinderklinik vom 25. Juni 1971. Danach litt das Kind an Mongolismus, Mikrocephalie, Meningomyelocele und einem angeborenen Herzfehler. Aufgrund dieses Befundes bescheinigte der Amtsarzt, daß die dauernde Minderung der Erwerbsfähigkeit seit der Geburt des Kindes 100 v. H. betragen habe und das Kind ständig so hilflos gewesen sei, daß es nicht ohne fremde Wartung und Pflege habe bestehen können.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) gewährte dem Kläger statt des in Höhe von 4 800 DM beantragten Pauschbetrages für Körperbehinderte einen Pauschbetrag von 1 920 DM, wie er nach § 65 Abs. 1 Satz 3 EStDV bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 91 bis 100 v. H. zu gewähren ist. Nach Auffassung des FA könne im Streitfall von einer "dauernden" Minderung der Erwerbsfähigkeit und einer ständigen Hilflosigkeit nicht gesprochen werden, weil das Kind bereits wenige Tage nach seiner Geburt gestorben sei. Diese Einschränkung entspreche dem Grundsatz, daß nur in einem längeren Zeitraum ständig anfallende Aufwendungen durch Pauschbeträge abzugelten seien.
Der Einspruch blieb ohne Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Zur Begründung seiner Entscheidung, die in den Entscheidungen der Finanzgerichte 1976 S. 449 veröffentlicht ist, führte es aus: Der Kläger habe für seine Tochter sowohl eine dauernde Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 v. H. als auch die für die Gewährung des erhöhten Pauschbetrages von 4 800 DM vorausgesetzte ständige Hilflosigkeit und Pflegebedürftigkeit des Kindes durch eine amtsärztliche Bescheinigung nachgewiesen. Eine dauernde Minderung der Erwerbsfähigkeit liege vor, wenn aus medizinischer Sicht in absehbarer Zeit nicht mit einer Besserung gerechnet werden könne. Habe die Minderung der Erwerbsfähigkeit bis zum Tode des Körperbehinderten angedauert, sei sie keine nur vorübergehende, auch wenn der Tod sehr früh eingetreten sei. Der Gewährung des erhöhten Pauschbetrages stehe nicht entgegen, daß das Kind nur wenige Tage gelebt habe und die tatsächlichen Aufwendungen, die durch den Pauschbetrag abgegolten werden sollen, die Höhe des Pauschbetrages vermutlich nicht erreicht hätten. Bei den Pauschbeträgen des § 65 EStDV handele es sich um Jahresbeträge, die unabhängig von der tatsächlichen Dauer der Erwerbsbeschränkung zu gewähren seien (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 30. November 1966 VI 313/64, BFHE 88, 407, BStBl III 1967, 457). Der begehrte Pauschbetrag dürfe auch nicht deshalb versagt werden, weil die Hilflosigkeit eines kranken Kleinstkindes in den ersten Lebenstagen nicht die eines gesunden gleichaltrigen Kindes überschreite. Es erscheine zweifelhaft, ob diese Annahme zutreffe, weil ein mit erheblichen körperlichen und geistigen Mängeln zur Welt gekommenes Kind an seine Wartung und Pflege sehr viel höhere Anforderungen stelle als ein gesunder Säugling. Es sei zwar richtig, daß auch ein gesunder Säugling nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen könne. Seine Hilflosigkeit sei aber nicht nur graduell, sondern auch der Art nach eine andere. Hierauf deute auch die Verlegung des Kindes aus der Entbindungsstation des Krankenhauses in eine Kinderklinik hin. Im übrigen sei ein gesundes Kleinkind nicht ständig, sondern nur vorübergehend hilflos. Die besondere Hilflosigkeit der Tochter des Klägers sei nicht altersspezifisch, sondern durch die angeborene Körperbehinderung bedingt gewesen. Damit sei die ursächliche Verknüpfung zwischen Körperbehinderung und Hilflosigkeit gegeben.
Das FA rügt mit der vom FG zugelassenen Revision Verletzung des § 65 EStDV. Der Begriff der "dauernden" Minderung der Erwerbsfähigkeit bedeute nicht nur soviel wie "nicht nur vorübergehend", sondern auch "lang anhaltend", "länger während". Daß die Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht nur kurze Zeit vorgelegen haben dürfe, folge aus dem BFH-Urteil vom 6. Dezember 1974 VI R 181/72 (BFHE 114, 491, BStBl II 1975, 394). Dort sei eine Minderung der Erwerbsfähigkeit, die in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit einem Unfall für einen Zeitraum von 15 Monaten vorgelegen habe, nicht als dauernd angesehen worden. Die Dauer der Minderung der Erwerbsfähigkeit dürfe nicht allein auf das Leben des Körperbehinderten bezogen werden. Andernfalls müßte der Pauschbetrag des § 65 Abs. 1 letzter Satz EStDV jedem Unfallverletzten, der schwere körperliche Schäden erlitten habe, die Hilflosigkeit zur Folge hatten, auch dann gewährt werden, wenn der Verletzte bereits wenige Tage nach dem Unfall gestorben sei. Es könne auch nicht der Auffassung des FG zugestimmt werden, daß die Hilflosigkeit eines kranken Kleinstkindes die Hilflosigkeit eines gesunden Kleinstkindes in einem Maße übersteige, das die Gewährung des Freibetrages gemäß § 65 Abs. 1 letzter Satz EStDV rechtfertige.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
Gemäß § 33 a Abs. 6 EStG i. V. m. § 65 Abs. 1 EStDV erhalten Körperbehinderte auf Antrag wegen der außergewöhnlichen Belastungen, die ihnen unmittelbar infolge ihrer Körperbehinderung erwachsen, einen Pauschbetrag. Dessen Höhe richtet sich nach der dauernden Minderung der Erwerbsfähigkeit, soweit diese nicht überwiegend auf Alterserscheinungen beruht. Bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 91 v. H. bis 100 v. H. liegt der Pauschbetrag bei 1 920 DM. Für Blinde und Körperbehinderte, die infolge der Körperbehinderung ständig so hilflos sind, daß sie nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen können, erhöht sich der Pauschbetrag auf 4 800 DM (§ 65 Abs. 1 Satz 4 EStDV). Steht der Pauschbetrag einem Kind zu, für das ein Steuerpflichtiger den Kinderfreibetrag des § 32 Abs. 2 Nr. 1 EStG erhält, so wird der Pauschbetrag auf Antrag insoweit auf den Steuerpflichtigen übertragen, als das Kind den Pauschbetrag nicht in Anspruch genommen hat (§ 65 Abs. 5 Satz 1 EStDV). Der Nachweis der Körperbehinderung und der durch diese verursachten ständigen Hilflosigkeit ist durch die in § 65 Abs. 3 EStDV vorgesehenen Nachweise zu erbringen. An deren Inhalt sind FA und Steuergerichte nach der ständigen Rechtsprechung des Senats gebunden (Urteile VI 313/64; vom 30. November 1966 VI R 108/66, BFHE 88, 491, BStBl III 1967, 459, und VI R 181/72).
Der Inhalt der im Streitfall vorliegenden amtsärztlichen Bescheinigung rechtfertigt nicht die Gewährung des erhöhten Körperbehindertenpauschbetrages von 4 800 DM. Die Zubilligung dieses Pauschbetrages setzt gemäß § 65 Abs. 1 Satz 4 EStDV voraus, daß entscheidende Ursache für die ständige Hilflosigkeit und Pflegebedürftigkeit die Körperbehinderung ist. Kleinstkinder sind aufgrund ihres Lebensalters stets hilflos und pflegebedürftig. Wie ein krankes bedarf auch ein gesundes Kleinstkind für alle gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen stets fremde Hilfe. Ohne fremde Wartung und Pflege können beide nicht bestehen. Auch bei Kleinstkindern ist eine ständige Hilflosigkeit i. S. von § 65 Abs. 1 Satz 4 EStDV nur dann anzunehmen, wenn infolge der Körperbehinderung eine besondere Wartungs- und Pflegebedürftigkeit vorliegt, die die bei allen Kindern derselben Altersstufe regelmäßig bestehende Hilflosigkeit dauernd wesentlich übersteigt. Diese Voraussetzung muß, um die Inanspruchnahme nichtgerechtfertigter Steuerermäßigungen möglichst weitgehend auszuschließen, in dem gemäß § 65 Abs. 3 EStDV vorgesehenen Nachweis ausdrücklich bescheinigt werden. In der im Streitfall vorgelegten amtsärztlichen Bescheinigung ist indes nicht ausdrücklich bestätigt, daß für das mit schweren Mißbildungen zur Welt gekommene Kind des Klägers infolge der Körperbehinderung eine besondere Wartungs- und Pflegebedürftigkeit bestand, die das in dieser Altersstufe erfahrungsgemäß vorliegenden Ausmaß an Hilflosigkeit wesentlich überstieg.
Die Vorentscheidung war aufzuheben, weil das FG den erhöhten Pauschbetrag des § 65 Abs. 1 Satz 4 EStDV gewährt hat, ohne daß der erforderliche Nachweis i. S. des § 65 Abs. 3 EStDV vorlag. Die nicht spruchreife Sache ist gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) an die Vorinstanz zurückzuverweisen. Das FG wird nunmehr den Kläger zur Beibringung einer ergänzten amtsärztlichen Bescheinigung aufzufordern haben (vgl. hierzu die Entscheidung des Senats VI 313/64).
Sollte das FG bei seiner erneuten Entscheidung zu dem Ergebnis gelangen, daß bei dem Kind des Klägers infolge der Körperbehinderung eine besondere Wartungs- und Pflegebedürftigkeit vorlag, die die bei allen Kindern derselben Altersstufe bestehende Hilflosigkeit dauernd wesentlich überstieg, stände der Gewährung des erhöhten Körperbehindertenpauschbetrages nicht entgegen, daß das Kind nur wenige Tage gelebt hat. Wie das FG zutreffend ausführt, ist dem Wortlaut des § 65 Abs. 1 Satz 4 EStDV nicht zu entnehmen, daß die Hilflosigkeit tatsächlich über einen längeren Zeitraum bestanden haben müßte. Der mit der Pauschbetragsregelung des § 65 Abs. 1 EStDV angestrebte Vereinfachungszweck würde nicht erreicht, wollte man stets dann, wenn der Tod eines Körperbehinderten unerwartet rasch eintritt, die Gewährung des Pauschbetrages von dem Nachweis der durch die Körperbehinderung tatsächlich erwachsenen Aufwendungen abhängig machen. Gegen die Annahme, die Voraussetzungen des § 65 Abs. 1 EStDV müßten tatsächlich längerfristig bestanden haben, spricht auch der Umstand, daß der Körperbehindertenpauschbetrag i. S. des § 33 a Abs. 6 EStG i. V. m. § 65 EStDV als Jahresbetrag ausgestaltet ist und der Gesetzgeber auf eine entsprechende Anwendung der Monatsregelung des § 33 a Abs. 4 EStG oder eine vergleichbare Einschränkung verzichtet hat. Zudem entständen kaum lösbare Abgrenzungsschwierigkeiten bei der Entscheidung der Frage, unter welchen Voraussetzungen und insbesondere von welcher Dauer an eine "länger anhaltende" oder "länger währende" Hilflosigkeit i. S. von § 65 Abs. 1 Satz 4 EStDV angenommen werden kann. Im übrigen liegt es im Wesen von gesetzlich geregelten pauschalen Steuerermäßigungen, daß diese ohne Rücksicht auf die Höhe der tatsächlich angefallenen und pauschal abgegoltenen Aufwendungen gewährt werden.
Fundstellen
Haufe-Index 73048 |
BStBl II 1979, 260 |
BFHE 1979, 556 |