BFH zur Fähigkeit eines behinderten Kindes zum Selbstunterhalt
Sachverhalt: Klägerin ist Mutter eines behinderten Kindes
Die Klägerin ist die Mutter einer 1959 geborenen Tochter (T). T lebte im Jahr 2018 in einer eigenen Wohnung. Für sie war im Jahr 2018 ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 festgestellt. Seit mindestens 2008 wurde der Klägerin für T fortlaufend Kindergeld bewilligt. T bezog seit dem 1.7.2018 eine Erwerbsminderungsrente.
Mit Bescheid vom 20.3.2019 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum Juli 2018 bis einschließlich November 2018 auf und forderte das überzahlte Kindergeld von der Klägerin zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass T in der Lage sei, sich selbst zu unterhalten.
Geltendmachung behinderungsbedingter Fahrtkosten im weiteren Verfahrensgang
- In dem dagegen geführten Einspruchsverfahren reichte die Klägerin eine Aufstellung der von T durchgeführten Fahrten ein, aus der sich monatliche Fahrten von rd. 35 km ergaben.
- Die Familienkasse wies den Einspruch als unbegründet zurück und ging weiter davon aus, dass die T zur Verfügung stehenden Mittel ausreichten, damit T sich selbst unterhalten konnte.
- Hinsichtlich der geltend gemachten behinderungsbedingten Fahrtkosten lehnte die Familienkasse einen pauschalen Ansatz ab und verlangte einen Nachweis oder eine Glaubhaftmachung der Durchführung der Fahrten.
- Insoweit erkannte sie die Fahrten zur Apotheke und zum Psychotherapeuten mangels Angaben zur Häufigkeit nicht an. Die Fahrten zur Mutter, zu Beerdigungen und zu Rechtsberatungen sah die Familienkasse als nicht behinderungsbedingt an. Ebenso wenig erkannte sie die geltend gemachten Kosten für eine Nahverkehrskarte an.
- Mit der hiergegen gerichteten Klage machte die Klägerin geltend, dass anstelle der tatsächlich glaubhaft gemachten Fahrtkosten ein Pauschbetrag i. H. v. 75 EUR pro Monat (entspricht 3.000 km pro Jahr zu je 0,30 EUR) zu berücksichtigen sei.
- Das FG gab der Klage statt und hob den angefochtenen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid auf, weil es – abweichend von der Familienkasse – von einer monatlichen Unterdeckung der T zur Bestreitung des Lebensunterhalts zur Verfügung stehenden Mittel ausging.
- Zur Begründung des Ansatzes für die Fahrtkosten verwies das FG darauf, dass sich aus A 19.4 Abs. 5 Satz 7 DA KG 2021 unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Selbstbindung der Verwaltung die Pflicht ergebe, pauschale monatliche Fahrtkosten i. H. v. 75 EUR anzuerkennen.
Entscheidung: Keine Selbstbindung der Finanzverwaltung
Der BFH entscheidet, dass die Revision der Familienkasse begründet ist. Er hat die Vorentscheidung aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. Das FG ist auf der Grundlage der von ihm getroffenen Feststellungen zu Unrecht davon ausgegangen, dass T im Streitzeitraum als behindertes Kind kindergeldrechtlich zu berücksichtigen ist.
Das FG hat festgestellt, dass für T im Jahr 2018 ein GdB von 80 festgestellt war. Feststellungen dazu, welcher Art diese Behinderung ist und dass die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres – bzw. im Falle des Eingreifens der Übergangsregelung vor Vollendung des 27. Lebensjahres – eingetreten ist, hat das FG nicht getroffen. Solche Feststellungen sind insbesondere auch nicht deshalb entbehrlich, weil das FG festgestellt hat, dass die Klägerin für T seit mindestens 2008 Kindergeld bezogen hat.
Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt
Das Tatbestandsmerkmal „außerstande ist, sich selbst zu unterhalten“ ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann.
- Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des aus dem Grundbedarf und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf bestehenden gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits.
- Der behinderungsbedingte Mehrbedarf umfasst Aufwendungen, die gesunde Kinder nicht haben. Werden die behinderungsbedingten Mehraufwendungen nicht im Einzelnen nachgewiesen, sondern der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag angesetzt, können daneben nicht zusätzlich Aufwendungen angesetzt werden, die entweder bereits durch den Pauschbetrag für den Grundbedarf oder den Behinderten-Pauschbetrag abgegolten werden.
- Angesetzt werden kann dagegen ein nicht vom Behinderten-Pauschbetrag nach § 33b EStG erfasster behinderungsbedingter Sonderbedarf. Für diesen gilt allerdings – vorbehaltlich des Bestehens weiterer gesetzlicher Pauschalen – das allgemeine Erfordernis, dass die Aufwendungen dem Grunde und der Höhe nach substantiiert darzulegen und glaubhaft zu machen.
- Steht ein behinderungsbedingter Mehrbedarf dem Grunde nach fest, ist er bei fehlendem Nachweis der Höhe nach gemäß § 162 AO zu schätzen.
Durch Behinderungs-Pauschbetrag (nicht) erfasste Aufwendungen
Der Behinderten-Pauschbetrag wird wegen der Aufwendungen für die Hilfe bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, für die Pflege sowie für einen erhöhten Wäschebedarf gewährt.
Für die genannten Kategorien von Aufwendungen kann das Wahlrecht zwischen Einzelnachweis und Pauschbetrag im jeweiligen Veranlagungszeitraum nur einheitlich ausgeübt werden. Dies gilt entsprechend für die im Rahmen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG anzustellende Berechnung.
Nicht unter die in § 33b Abs. 1 EStG (Behinderten-Pauschbetrag) genannten 3 Kategorien von Aufwendungen fallen daher Operationskosten sowie Heilbehandlungen, Kuren, Arznei- und Arztkosten. Sie können daher neben dem Behinderten-Pauschbetrag berücksichtigt werden.
Behinderungsbedingte Fahrtkosten
Auch der Ansatz von Fahrtkosten kommt neben dem Behinderten-Pauschbetrag in Betracht.
- So hat die Rechtsprechung bei Personen mit schwerer Körperbehinderung, die in ihrer Geh- und Stehfähigkeit so erheblich beschränkt sind, dass sie sich außerhalb des Hauses nur mit Hilfe eines Fahrzeugs fortbewegen können, grundsätzlich alle Kraftfahrzeug-Aufwendungen für Privatfahrten neben dem Behinderten-Pauschbetrag anerkannt, soweit sie einen angemessenen Umfang, d. h. 15.000 km pro Jahr, nicht überschreiten.
- Auf Basis dieser Rechtsprechung hat die Verwaltung auch für Personen, die zwar nicht außergewöhnlich gehbehindert (Merkzeichen aG), blind (Merkzeichen Bl) oder hilflos (Merkzeichen H), aber geh- und stehbehindert (GdB von mindestens 80 oder GdB von mindestens 70 und Merkzeichen G) sind, eine Angemessenheitsgrenze für durch die Behinderung veranlasste unvermeidbare Fahrten vorgesehen und diese auf 3 000 km im Jahr festgelegt, soweit sie nachgewiesen oder glaubhaft gemacht sind.
Höhe der anzuerkennenden Aufwendungen
Hinsichtlich der Höhe der anzuerkennenden Aufwendungen hat der Senat bereits entschieden, dass einzeln nachgewiesene Kraftfahrzeug-Kosten nur insoweit angemessen sind, als sie die in den EStR und LStR für die Berücksichtigung von Kraftfahrzeug-Kosten als Werbungskosten und Betriebsausgaben festgesetzten Pauschbeträge nicht übersteigen. Wer auf ein eigenes Fahrzeug verzichtet, z. B. weil die tatsächlichen Kosten eines Kraftfahrzeugs wegen der geringen Fahrleistung bei Ansatz der Pauschbeträge nicht zu finanzieren sind, kann stattdessen die tatsächlich angefallenen Kosten eines – behinderungsgerechten – öffentlichen Verkehrsmittels, ggf. auch eines Taxis, als außergewöhnliche Belastung geltend machen.
FG hat zu Unrecht Fahrtkostenpauschale angesetzt
Da nach den bisherigen Feststellungen des FG nicht davon ausgegangen werden kann, dass bei T eines der Merkzeichen aG, Bl oder H vorlag, kann sie nicht dem Kreis der behinderten Menschen zugerechnet werden, bei dem alle Fahrtkosten in angemessenem Umfang anerkannt werden können.
Soweit das FG eine Schätzung von Besteuerungsgrundlagen nach § 162 Abs. 1 AO – im Streitfall: das Vorliegen von durch die Behinderung veranlassten unvermeidbaren Fahrten – für möglich hält, da es den steuererheblichen Sachverhalt nicht mit letzter Sicherheit ermitteln könnte, ist ihm nicht beizupflichten. Denn nach der Rechtsprechung des BFH erlaubt § 162 Abs. 1 AO nur die Schätzung quantitativer Größen, nicht aber die Schätzung rein qualitativer Besteuerungsmerkmale i. S. d. tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für die Besteuerung. Zudem fehlt es auch an der vom FG angenommenen Unaufklärbarkeit.
T hat im Einspruchsverfahren die von ihr durchgeführten Fahrten detailliert dargelegt. Insoweit konnte das FG im Einzelnen prüfen, ob es sich um durch die Behinderung veranlasste unvermeidbare Fahrten handelte oder ob diese bereits – wie von der Familienkasse bezüglich der Fahrten zur Mutter, zu Beerdigungen und zu Rechtsberatungen angenommen – durch den angesetzten Grundbedarf abgegolten waren. Soweit T die Anzahl der Fahrten zur Apotheke und zum Psychotherapeuten nicht bezifferte, hätte das FG versuchen müssen, den Sachverhalt weiter aufzuklären, oder im Falle der Nichtaufklärbarkeit nach Beweislastgrundsätzen entscheiden müssen.
Hinweis: § 33a Abs. 2a EStG im Streitjahr noch nicht anwendbar
Durch das Gesetz zur Erhöhung der Behinderten-Pauschbeträge und zur Anpassung weiterer steuerlicher Regelungen v. 9.12.2020, BGBl 2020 I S. 2770, wurde § 33 Abs. 2a EStG eingefügt, der eine behinderungsbedingte Fahrtkostenpauschale regelt. Diese erhalten u. a. Menschen mit einem GdB von mindestens 80. Die Pauschale beträgt in diesem Fall 900 EUR. Die Regelung ist erstmals für den Veranlagungszeitraum 2021 anzuwenden.
Soweit das FG in diesem Zusammenhang der Klage unter Hinweis auf A 19.4 Abs. 5 Satz 7 DA KG 2021 stattgegeben hat, hat es verkannt, dass dort die ab 2021 geltende Rechtslage wiedergegeben wird und keine Selbstbindung der Verwaltung in Bezug auf die Anwendung des § 33 Abs. 2a EStG für vor dem Jahr 2021 liegende Zeiträume vorliegt.
BFH, Urteil v. 10.7.2024, III R 2/23; veröffentlicht am 7.11.2024
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