Entscheidungsstichwort (Thema)
Entsprechende Anwendung des § 174 Abs. 1 und 3 AO
Leitsatz (NV)
Dem Nichtberücksichtigen eines Sachverhalts -- also einem Unterlassen -- kann bei der Auslegung des § 174 Abs. 1 AO nicht dieselbe rechtliche Bedeutung beigemessen werden wie einem Tun, d. h. dem Berücksichtigen eines Sachverhalts.
Eine widersprüchliche Steuerfestsetzung i. S. des § 174 Abs. 3 AO ist nur gegeben, wenn die Widersprüchlichkeit in dem Bescheid selbst erkennbar ist.
Normenkette
AO 1977 § 174 Abs. 1, 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Zur Finanzierung des Kaufs von zwei Eigentumswohnungen nahm die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) bei einer Bank ein Darlehen auf und vereinbarte hinsichtlich eines Teilbetrages (100 000 DM) eine Wechselfinanzierung: Sie akzeptierte 120 von der Bank am 27. Dezember 1977 ausgestellte Wechsel über 1 127,43 DM (insgesamt 135 292 DM). Die Wechsel waren, beginnend mit dem 30. Januar 1978, jeweils zum Ende eines Monats fällig (Laufzeit insgesamt zehn Jahre). Am 30. Dezember 1977 überwies die Bank gegen die Hereinnahme der Wechsel einen Betrag von 99 640 DM (100 000 DM abzüglich Bearbeitungsgebühr von 360 DM).
In ihrer Einkommensteuererklärung 1977 machte die Klägerin bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung einen Betrag von 35 652 DM (35 292 DM + 360 DM) als Werbungskosten geltend. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) war der Auffassung, diese Aufwendungen seien erst in den Jahren 1978 bis 1987 zeitanteilig zu berücksichtigen. Der Einspruch blieb erfolglos. Die Klage wurde abgewiesen und die Nichtzulassungsbeschwerde mit Beschluß vom 22. September 1989 als unbegründet zurückgewiesen (der Klägerin zugestellt am 31. Oktober 1989).
In ihren Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre 1978 (abgegeben am 3. März 1980) und 1979 (abgegeben am 30. Oktober 1981) machte die Klägerin die anteiligen Wechselzinsen nicht als Werbungskosten geltend, sondern vermerkte lediglich "Diskont in 1977 bezahlt". Mit den Bescheiden vom 23. Januar 1981 (1978) und vom 1. März 1982 (1979) wurde die Einkommensteuer erklärungsgemäß festgesetzt. Die Einkommensteuerbescheide 1978 und 1979 ergingen gemäß § 164 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Die Steuerbescheide ab 1980 wurden gemäß § 165 Abs. 1 AO 1977 für vorläufig erklärt.
Nach Erhalt des Beschlusses des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 22. September 1989 beantragte die Klägerin mit Schreiben vom 7. November 1989 (Eingang beim FA) unter Hinweis auf diesen Beschluß die Änderung der Einkommensteuerbescheide 1978 und 1979 gemäß § 174 Abs. 3 AO 1977 und Berücksichtigung der anteiligen Zinsen von 6 391 DM (1978) und 5 892 DM (1979). Die Berechnung der Zinsen ist zwischen den Beteiligten nicht streitig.
Das FA lehnte dies mit Schreiben vom 7. April 1992 ab. Auch der Einspruch blieb erfolglos. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt:
Die Bescheide seien gemäß § 174 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 zu ändern. Ein Sachverhalt sei nicht nur dann mehrfach berücksichtigt, wenn steuererhöhende Tatsachen mehrfach der Besteuerung zugrunde gelegt worden seien, sondern auch dann, wenn steuermindernde Tatsachen mehrfach nicht bei der Besteuerung erfaßt worden seien.
Die Bescheide seien aber auch gemäß § 174 Abs. 3 AO 1977 zu ändern. Die Lücke in dessen Satz 2 sei durch analoge Anwendung des Abs. 1 Sätze 2 und 3 zu schließen.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung des § 174 Abs. 1 und 3 AO 1977.
Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Abweisung der Klage als unbegründet (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Das FG geht zu Unrecht davon aus, daß die streitigen Bescheide gemäß § 174 Abs. 1 und Abs. 3 AO 1977 analog geändert werden können.
1. Die Einkommensteuerbescheide 1978 und 1979 sind bestandskräftig. Eine Rechtsgrundlage für ihre Änderung ist nicht gegeben. Im Gegensatz zu den Einkommensteuerbescheiden ab 1980 waren sie nicht vorläufig gemäß § 165 Abs. 1 AO 1977. Das FG geht zu Recht davon aus, daß eine Änderung der Bescheide gemäß § 164 Abs. 2 AO 1977 nach Ablauf der Festsetzungsfrist nicht mehr möglich war. Die Klägerin hat ihren Änderungsantrag am 7. November 1989 (Eingang beim FA) gestellt. Die Festsetzungsfrist war für die Einkommensteuer 1978 bereits Ende 1984 und für die Einkommensteuer 1979 bereits Ende 1985 abgelaufen; die Einkommensteuererklärung 1978 hatte die Klägerin im Jahre 1980 und die Einkommensteuererklärung 1979 im Jahre 1981 abgegeben (vgl. § 169 Abs. 2 Nr. 2, § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977).
2. Eine Änderung der Einkommensteuerbescheide gemäß § 174 AO 1977 ist nicht möglich. Dabei geht der Senat zunächst davon aus, daß die streitigen Bescheide fehlerhaft sind, weil in ihnen zu Unrecht die anteiligen Diskontzinsen nicht berücksichtigt wurden.
a) Eine unmittelbare Anwendung des § 174 Abs. 1 AO 1977 kommt schon deshalb nicht in Frage, weil hier ein bestimmter Sach verhalt zuungunsten des Klägers nicht berücksichtigt worden ist, während das Gesetz davon ausgeht, daß ein Sachverhalt zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt worden ist. Entgegen der Auffassung des FG kann der Vorschrift des § 174 Abs. 1 AO 1977 nicht entnommen werden, daß die mehrfache Berücksichtigung steuererhöhender Tatsachen der mehrfachen Nichtberücksichtigung steuermindernder Tatsachen gleichzustellen sei. Dem Nichtberücksichtigen eines Sachverhalts -- also einem Unterlassen -- kann bei der Auslegung dieser Vorschrift nicht dieselbe rechtliche Bedeutung beigemessen werden wie einem Tun, d. h. dem Berücksichtigen eines Sachverhalts, zumal der Fall der Nichtberücksichtigung eines Sachverhalts ausdrücklich in § 174 Abs. 3 AO 1977 geregelt ist.
Aus diesem Grund verbietet sich im Streitfall von vornherein auch eine entsprechende Anwendung des § 174 Abs. 1 Satz 1 AO 1977.
Der Senat kann mithin offenlassen, ob Rechtsfortbildung im Regelungsbereich der §§ 172 ff. AO 1977 grundsätzlich ausgeschlossen ist (so BFH-Urteile vom 26. Januar 1994 X R 57/89, BFHE 174, 1, BStBl II 1994, 597, zu 2., und vom 20. September 1995 X R 9/93, BFH/NV 1996, 288, zu 1. c; vgl. aber BFH-Urteil vom 2. August 1994 VIII R 65/93, BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264).
b) Auch § 174 Abs. 3 AO 1977 bietet keine Grundlage für eine Änderung der streitigen Einkommensteuerbescheide. Die anteiligen Wechselzinsen sind in den Streitjahren vom FA jedenfalls nicht unberücksichtigt geblieben, weil sie in einem anderen Steuer bescheid (hier 1977) zu berücksichtigen waren; gerade letzteres widersprach der Auffassung des FA.
Im übrigen hat das FA nicht zu erkennen gegeben, warum es die Wechselzinsen in den streitigen Steuerbescheiden nicht berücksichtigt hat; das ist aber Voraussetzung für eine Änderung gemäß § 174 Abs. 3 AO 1977. Die Nichtberücksichtigung der anteiligen Wechselzinsen in den Streitjahren mag vom Standpunkt des FA aus inkonsequent gewesen sein, wenn es der Ansicht war, daß sie zeitanteilig zu berücksichtigen waren und es auch im übrigen alle Voraussetzungen des Abzugs als Werbungskosten (§§ 9 Abs. 1, 21 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes) in den Streitjahren für gegeben hielt. Das ist aber den streitigen Bescheiden nicht zu entnehmen. Aus der Nichtberücksichtigung der Wechselzinsen allein ist nicht eindeutig erkennbar, weshalb das FA sie nicht berücksichtigt hat. In diesem Fall ist aber keine widersprüchliche Steuerfestsetzung i. S. des § 174 AO 1977 gegeben. Diese, d. h. die Widersprüchlichkeit, muß in den Bescheiden selbst erkennbar sein.
Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung von Treu und Glauben (vgl. dazu von Wedelstädt, Der Betrieb 1981, 2574). Aus der Nichtberücksichtigung der Wechselzinsen in den Streitjahren konnte die Klägerin weder schließen, das FA teile ihre Ansicht, die Zinsen seien ingesamt im Jahre 1977 zu berücksichtigen, und erst recht nicht konnte sie schließen, das FA sei der Ansicht, die Wechselzinsen seien anteilig in den Streitjahren zu berücksichtigen.
Da der Senat die Möglichkeit einer Änderung der streitigen Steuerbescheide gemäß § 174 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 verneint, kann offenbleiben, ob im Rahmen des § 174 Abs. 3 AO 1977 die Regelung des § 174 Abs. 1 Sätze 2 und 3 AO 1977 entsprechend gilt.
Fundstellen