Entscheidungsstichwort (Thema)
Bindungswirkung eines Grundlagenbescheids
Leitsatz (NV)
1. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 begründet eine "absolute Anpassungsverpflichtung". Die Verpflichtung zur Anpassung des Folgebescheids wird deshalb nicht dadurch beseitigt, dass das für den Erlass des Folgebescheids zuständige FA einen Grundlagenbescheid nicht in der richtigen Weise in den Folgebescheid übernommen hat (vgl. BFH-Rechtsprechung). Dies gilt auch dann, wenn ein zunächst fehlerhaft ausgewerteter Grundlagenbescheid später geändert wird und das FA aus dem Änderungsbescheid die entsprechenden Folgerungen ziehen möchte.
2. Die Pflicht des FA zur Änderung des Folgebescheids richtet sich nach dem geänderten Grundlagenbescheid.
Normenkette
AO 1977 §§ 129, 171 Abs. 10, § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 351 Abs. 2; FGO § 42
Verfahrensgang
Nachgehend
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Ehegatten und wurden im Streitjahr 1991 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Klägerin bezog u.a. Einkünfte aus Gewerbebetrieb aus der Beteiligung an sieben Personengesellschaften, deren Gewinne vom Finanzamt (FA) B einheitlich und gesondert festgestellt werden.
Für die Gesellschaft L erging am 26. Februar 1993 eine Mitteilung an das damals zuständige FA E über die Feststellung eines Veräußerungsgewinns der Klägerin im Jahr 1991 in Höhe von 6 788 913 DM. In dem geänderten Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1991 setzte das FA E insoweit irrtümlich nur einen Betrag in Höhe von 678 893 DM an. Die geänderte Steuerfestsetzung führte zu einer Einkommensteuererstattung in Höhe von ca. 1,5 Mio. DM. Dieser Fehler blieb in einem weiteren geänderten Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1991 vom 3. Januar 1994 unbemerkt.
Aufgrund einer Außenprüfung bei den Gesellschaften, an denen die Klägerin beteiligt war, ergingen zwischen dem 18. April 2002 und dem 10. Dezember 2002 geänderte Grundlagenbescheide. U.a. wurde der Veräußerungsgewinn der Klägerin an der Gesellschaft L auf 5 155 567 DM und der laufende Verlust in Höhe von 377 875 DM festgestellt.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) erließ am 8. Juli 2002 einen nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderten Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1991, gegen den die Kläger Einspruch einlegten. Während des Einspruchverfahrens ergingen weitere, ebenfalls gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 geänderte Einkommensteuerbescheide für 1991 vom 13. November 2002 und 7. Januar 2003. Hierin berücksichtigte das FA u.a. den festgestellten Veräußerungsgewinn aus der Beteiligung an der Gesellschaft L in Höhe von 5 155 567 DM.
Die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) mit in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2004, 1740 veröffentlichtem Urteil ab.
Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung von Bestimmungen der AO 1977. Der Umfang der Änderung eines Folgebescheids richte sich nach dem Umfang der Änderung des Grundlagenbescheids. Dieser ergebe sich aus der Differenz zwischen dem ursprünglichen und dem geänderten Grundlagenbescheid. Darüber hinaus beruhe das FG-Urteil auf mangelnder Sachaufklärung. Das FG sei dem Hinweis der Kläger, es sei Feststellungsverjährung hinsichtlich der Grundlagenbescheide eingetreten, nicht nachgegangen.
Die Kläger beantragen, das angefochtene FG-Urteil und den Einkommensteueränderungsbescheid für 1991 vom 8. Juli 2002, geändert durch Bescheide vom 13. November 2002 und 7. Januar 2003, in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 18. März 2003 aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Zu Recht hat das FG entschieden, dass der Erlass des geänderten Gewinnfeststellungsbescheids für 1991 vom 15. Oktober 2002 nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 zu einer Änderung des Einkommensteuerbescheids der Kläger für das Jahr 1991 führen musste. Wortlaut und Zweck dieser Regelung gebieten, dass auch Fehler, die der Finanzbehörde bei der Auswertung eines Grundlagenbescheids im Folgebescheid unterlaufen, nachträglich richtig zu stellen sind (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 14. April 1988 IV R 219/85, BFHE 153, 285, BStBl II 1988, 711).
Diese Rechtmäßigkeitsprüfung hat die Vorinstanz zu Recht auf die Konkretisierung der Bindungswirkung des in Frage stehenden Grundlagenbescheids beschränkt, weil dessen Rechtmäßigkeit nicht Gegenstand des den Folgebescheid betreffenden Verfahrens sein kann (§ 42 der Finanzgerichtsordnung --FGO-- i.V.m. § 351 Abs. 2 AO 1977).
1. Gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid i.S. von § 171 Abs. 10 AO 1977, dem Bindungswirkung für diesen Bescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird.
a) Diese Bindungswirkung beinhaltet, dass das für den Erlass eines Folgebescheids zuständige FA verpflichtet ist, die Folgerungen aus dem Grundlagenbescheid zu ziehen (vgl. z.B. Senatsurteil vom 28. November 2001 X R 23/97, BFH/NV 2002, 614). § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 begründet eine "absolute Anpassungsverpflichtung" (Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, § 175 Rz. 22). Die Vorschrift stellt die Anpassung des Folgebescheids mithin nicht in das Ermessen der Finanzbehörden. Sie bezweckt die Ermittlung und Festsetzung der zutreffenden Steuer, wobei sie der materiellen Richtigkeit des Folgebescheids den Vorrang vor der Bestandskraft eines bereits ergangenen Folgebescheids einräumt (Senatsurteil vom 16. Juli 2003 X R 37/99, BFHE 203, 14, BStBl II 2003, 867).
Insofern unterscheidet sich § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 von anderen Änderungsvorschriften wie z.B. § 173 AO 1977, aufgrund deren die Bestandskraft von Bescheiden nur in genau bezeichneten Ausnahmefällen durchbrochen werden kann (vgl. BFH-Urteil in BFHE 153, 285, BStBl II 1988, 711). Jene Vorschriften bewerten die Bestandskraft eines Bescheids im Hinblick auf den Vertrauensschutz höher als die Richtigkeit des Bescheids.
Dass demgegenüber § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 dem Vertrauensschutz eine geringere Bedeutung beimisst, ergibt sich aus dem Verhältnis zwischen Grundlagen- und Folgebescheid. Eines Vertrauensschutzes bedarf es nicht, wenn bereits ein Grundlagenbescheid ergangen ist und der Steuerpflichtige mit einer Auswertung dieses Grundlagenbescheids in einem Folgebescheid rechnen muss. Nach der Aufgabe, die das Gesetz dem Grundlagenbescheid zugedacht hat, soll dieser dem Folgebescheid in verbindlicher Weise bestimmte Besteuerungsgrundlagen zuführen. Solange diese Besteuerungsgrundlagen im Folgebescheid nicht (oder nicht vollständig) berücksichtigt sind, ist die dem Grundlagenbescheid zugedachte Aufgabe nicht erfüllt (vgl. BFH-Urteile in BFHE 153, 285, BStBl II 1988, 711; vom 17. Februar 1993 II R 15/91, BFH/NV 1994, 1; Pahlke/Koenig, a.a.O., § 175 Rz. 22; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 175 AO 1977 Rz. 181 f.; Frotscher in Schwarz, Abgabenordnung, § 175 Rz. 21, 23; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, Steuerliches Verfahrensrecht, § 175 AO 1977 Rz. 17 ff.).
Aus diesen Erwägungen wird nach der Rechtsprechung des BFH die Verpflichtung zur Anpassung des Folgebescheids nicht beseitigt, wenn das für den Erlass des Folgebescheids zuständige FA einen ihm bereits bekannt gegebenen Grundlagenbescheid übersehen hat (BFH-Urteile in BFHE 153, 285, BStBl II 1988, 711; in BFH/NV 1994, 1).
b) Diese Grundsätze gelten nach der Rechtsprechung des BFH nicht nur, wenn aus dem zunächst nicht oder fehlerhaft ausgewerteten Grundlagenbescheid später noch die zutreffenden Folgerungen im Folgebescheid gezogen werden, sondern auch dann, wenn ein zunächst nicht ausgewerteter Grundlagenbescheid später geändert wird und das FA aus dem Änderungsbescheid die gebotenen Konsequenzen ziehen möchte (vgl. BFH-Urteile in BFHE 153, 285, BStBl II 1988, 711; in BFH/NV 1994, 1). Es ist kein Grund ersichtlich, in Fällen, in denen der Finanzbehörde bei der Auswertung eines Grundlagenbescheids eine offenbare Unrichtigkeit (§ 129 AO 1977) unterlaufen ist, von einem "Verbrauch" der Änderungsmöglichkeit auszugehen (von Groll in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, a.a.O., § 175 AO 1977 Rz. 182). Aus dem Wortlaut des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 kann eine solche Einschränkung der Änderungsmöglichkeit nicht hergeleitet werden. Die in der Formulierung "soweit" in § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 zum Ausdruck kommende Einschränkung zeigt lediglich, dass die Anpassung des Folgebescheids an den Grundlagenbescheid nicht die Wiederaufrollung der gesamten Steuerveranlagung rechtfertigt, sondern die Anpassungspflicht nur so weit reicht, wie es die Bindungswirkung des Grundlagenbescheids verlangt (vgl. BFH-Urteil vom 15. Februar 2001 IV R 9/00, BFH/NV 2001, 1007; Frotscher in Schwarz, a.a.O., § 175 Rz. 23). Aus dem oben dargelegten Sinn und Zweck der Vorschrift ergibt sich vielmehr, dass eine Änderung des Folgebescheids zur Herbeiführung eines materiell richtigen Ergebnisses selbst dann geboten ist, wenn sie dazu dient, eine zuvor versäumte Anpassung des Folgebescheids nachzuholen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 153, 285, BStBl II 1988, 711, 712; in BFH/NV 1994, 1). Dies gilt auch, soweit Grundlage für die Anpassung des Folgebescheids der geänderte Grundlagenbescheid ist, denn dieser hat den ursprünglichen Bescheid in sich aufgenommen und insoweit dessen Suspendierung bewirkt (vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH vom 25. Oktober 1972 GrS 1/72, BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231, 233).
Die Pflicht des FA zur Änderung des Folgebescheids richtet sich deshalb in diesen Fällen nach dem geänderten Grundlagenbescheid. In diesem Rahmen bleibt es --unabhängig von früheren Auswertungsversäumnissen oder Anpassungsfehlern-- bei der Verpflichtung des FA zur Änderung des Folgebescheids (a.A. wohl FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 6. Juni 1988 5 K 535/87, EFG 1989, 3, und Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 175 AO 1977 Rz. 12, wonach für den Umfang der Änderung eines Folgebescheids das Verhältnis der Änderung des Grundlagenbescheids zum vorausgegangenen Grundlagenbescheid maßgeblich sein soll).
c) In Fällen, in denen der Finanzbehörde bei der Änderung des Folgebescheids eine offenbare Unrichtigkeit i.S. von § 129 AO 1977 unterlaufen ist, steht einer weiteren Änderung des Folgebescheids nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 als Folge einer Änderung des unzutreffend ausgewerteten Grundlagenbescheids nicht eine (Teil-)Bestandskraft im Umfang der Bindungswirkung des nicht richtig ausgewerteten Grundlagenbescheids entgegen. § 171 Abs. 10 AO 1977 bewirkt nämlich nicht, dass eine zunächst abgelaufene Festsetzungsfrist durch den Erlass von Grundlagenbescheiden im Umfang der von diesen ausgehenden Bindungswirkung stets wieder erneut in Lauf gesetzt würde. Vielmehr ist nach § 171 Abs. 10 AO 1977 der Ablauf der Festsetzungsfrist für die Folgesteuer im Ausmaß der Bindungswirkung des Grundlagenbescheids gehemmt, soweit und solange in offener Feststellungsfrist ein Feststellungsbescheid, der für die Festsetzung einer Steuer bindend ist, noch zulässig ergehen kann (vgl. BFH-Urteile vom 12. August 1987 II R 202/84, BFHE 150, 319, BStBl II 1988, 318, 319; vom 19. Januar 2005 X R 14/04, BStBl II 2005, 242).
2. Bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze auf den Streitfall ergibt sich, dass das FA nicht nur nicht gehindert, sondern verpflichtet war, den im gesonderten Gewinnfeststellungsbescheid vom 15. Oktober 2002 vom FA B festgestellten Veräußerungsgewinn in Höhe von 5 155 567 DM als Besteuerungsgrundlage bei der Einkommensteuerveranlagung der Kläger anzusetzen. Zudem erging der Einkommensteueränderungsbescheid für das Jahr 1991 innerhalb von zwei Jahren nach Bekanntgabe des geänderten Feststellungsbescheids vom 15. Oktober 2002.
3. Der Anpassung des Einkommensteuerbescheids der Kläger an den geänderten Grundlagenbescheid stand auch nicht eine --von den Klägern behauptete-- Feststellungsverjährung des Grundlagenbescheids entgegen. Ein nach Ablauf der Feststellungsfrist ergangener Feststellungsbescheid ist anfechtbar, aber nicht nichtig (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 6. Mai 1994 V B 28/94, BFH/NV 1995, 275; Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., Vor § 169 AO 1977 Rz. 25; Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., Vor § 169 AO 1977 Rz. 2). Eine etwaige Feststellungsverjährung hätte im Verfahren gegen den Gewinnfeststellungsbescheid der Gesellschaft L geltend gemacht werden müssen. Im Verfahren wegen der auf der Grundlage des Feststellungsbescheids geänderten Einkommensteuerfestsetzung sind die Kläger gemäß § 42 FGO i.V.m. § 351 Abs. 2 AO 1977 mit sämtlichen Einwänden gegen die Richtigkeit des Grundlagenbescheids ausgeschlossen.
4. Aus den unter 3. genannten Gründen erweist sich die angefochtene Vorentscheidung im Ergebnis auch dann als richtig, wenn die von den Klägern erhobene Sachaufklärungsrüge --was der Senat offen lassen kann-- schlüssig und begründet wäre (vgl. § 126 Abs. 4 FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 1403410 |
BFH/NV 2005, 1749 |
HFR 2005, 930 |